Dienstag, 31. Januar 2017

6561-6570

Der hôchgeborne stæte
mit sînen kreften hæte
begangen vrevelîchiu dinc.
er was der schœnste jungelinc,
der iender dâ ze Kriechen was.
hert als ein vester adamas
an triuwen schein sîn wille;
doch brach sîn neve Achille
an hôher werdekeit vür in;
wan er der êren spiegel hin

Er, hochgeboren und beharrlich,
hatte mit seiner Kraft und Fähigkeit
mutige Taten vollbracht.
Er war der schönste junge Mann,
der dort im ganzen Griechenland zu finden war.
Sein Wille zur Treue zeigte sich
fest wie ein harter Diamant,
allerdings überragte ihn sein Neffe Achill,
was das höchste Prestige anbelangt,
weil er den Spiegel des Ansehens

Montag, 30. Januar 2017

6551-6560

sô gar durchliuhteclîche als in.
geblüemet stuont sîn reiner sin
mit hôhen êren ûz erlesen,
und wære Achilles niht gewesen
sô gar ein ûz erwelter knabe,
sô hæte im niht gegangen abe
des besten lobes ûf erden.
Jâson was ob den werden,
die ritter worden wâren,
der tiurste bî den jâren.

so uneingeschränkt mit strahlendem Lob bedachte wie ihn.
Sein Denken und Wollen war makellos und rein – und schön geschmückt
mit großem, kostbarem Ansehen.
Und wäre Achill nicht ein
so ganz und gar außergewöhnlicher Knabe gewesen,
dann hätte er auf das größte Lob
auf Erden nicht verzichten müssen.
Jason war von den Edlen,
die schon Ritter geworden waren,
zu dieser Zeit der Vortrefflichste. 

Freitag, 27. Januar 2017

6541-6550

daz leben solte wâgen.
ob allen sînen mâgen
vlouc sîn name hôhe enbor.
er truoc der wirde banier vor
den herren und den künigen rîch.
kein fürste was im dô gelîch
an manheit und an krefte.
er gie mit ritterschefte
daz unbild und daz wunder an,
daz man dâ lobte keinen man

das Leben aufs Spiel setzen musste. 
Sein Name überflügelte
den aller seiner Verwandten. 
Er ging mit der Fahne der Würde
den Herren und mächtigen Königen voran.
Kein Fürst kam ihm damals gleich,
wenn es um Tapferkeit und Stärke ging.
Er stellte sich mit seiner Ritterschaft gegen
Unrecht und Ungeheuer,
so dass man dort keinen Mann  

Donnerstag, 26. Januar 2017

6531-6540

diu beidiu tâten im gedon,
dô sînes bruoder sun Jâson
nâch lobe sô vlîzeclîche ranc.
an keiner stat nie misselanc
dem selben ritter ûz erwelt.
ez was sô gar ein kürlich helt
des lîbes und des herzen,
daz er des tôdes smerzen
noch kein angest nie geflôch,
swâ man durch ganze wirde hôch

beides quälte ihn,
als der Sohn seines Bruders Jason
so eifrig nach Anerkennung strebte.
Kein einziges Mal scheiterte er,
dieser hervorragende Ritter.
Ein ganz exzellenter Held war er,
mit Herz und Hand,
so dass er weder vor den Schmerzen des Todes 
noch vor irgendwelchen Bedrohungen jemals die Flucht ergriff,
wo auch immer man für umfassendes, ehrwürdiges Ansehen  

Mittwoch, 25. Januar 2017

6521-6530

gesîn und al sîn girde,
daz nieman keine wirde
bejaget hæte mê, denn er;
dar an lac sînes herzen ger
und sîner wunne zuoversiht.
dar umbe engunde er im des niht,
daz ieman anders wære,
der prîs und lop gebære,
denn der hôchgeborne knabe.
swær unde bitter ungehabe

und sein ganzes Verlangen,
dass niemand mehr Würde
zu fassen bekommen würde als er.
Darauf war das Begehren seines Herzens gerichtet
und die Glückseligkeit, die er erhoffte.
Deshalb gönnte er ihm das nicht,
dass es jemand anderen gebe,
der Ruhm und Anerkennung zur Schau stellte,
als nur den hochgeborenen jungen Mann.
Schmerz und bitteres Klagen,

Dienstag, 24. Januar 2017

6511-6520

daz er mit aller sîner maht
gar vlîzeclîche umb êre vaht,
dô wart sîn ungemüete breit.
daz er nâch hôher wirde streit,
dar umbe wart er im gehaz;
wan den künic muote daz,
ob ieman ûf der erden
gerüemet solte werden
mit sînem sune Achille.
diz wære dô sîn wille

dass er mit all seiner Kraft
und vollem Einsatz um Ansehen kämpfte,
da war seine Verärgerung groß.
Dass er sich eifrig um hohe Würde bemühte,
das war der Grund, warum er anfing, ihn zu hassen,
denn den König verärgerte es,
wenn irgendjemand auf der Welt
gemeinsam mit seinem Sohn Achill
gepriesen werden sollte.
Daher war es sein Wille

Montag, 23. Januar 2017

6501-6510

vil hôher werdekeit an sich.
er was ein degen lobelich
des lîbes und des guotes.
gar ellentrîches muotes
beschouwen sich der werde liez;
Jâson der selbe ritter hiez
und lebte in ganzer wirde alsus.
Achillen vater, Pêleus,
der was sîn veter, hœr ich jehen.
und dô der hete an im gesehen,

hohes Ansehen in großer Menge anhäufte.  
Er war ein bemerkenswerter Held,
sowohl hinsichtlich seiner Person wie auch hinsichtlich seines Besitzes.
Mit seiner ganz und gar tapferen Persönlichkeit 
zeigte sich der hoch Angesehene den Blicken;
Jason hieß dieser Ritter und 
er lebte dergestalt in vollkommener Würde und Erhabenheit.   
Achills Vater, Peleus,
der war, so hat man es mir versichtert, sein Vaterbruder.
Und als der an ihm erkannte,

[In V. 6498 stimmt die Übersetzung nicht; an dieser Stelle wechselt der Fokus zu Jason.]

Freitag, 20. Januar 2017

6491-6500

wart allenthalp geprîset,
dâ von wart er gewîset
ze fröuden manger hande.
Achillen dâ ze lande
nieman irte an sînem lobe.
sîn prîs der flouc den besten obe
in maniges rîches umberinc;
wan daz ein vrecher jungelinc
dennoch dâ ze Kriechen was,
der ouch mit reiner tugent las

überall gerühmt wurde,
das machte ihn 
auf mancherlei Weise glücklich. 
Niemand dort in diesem Land
machte Achill sein Lob streitig.
Das Lob, das ihm zuteil wurde, das kam wie im Flug
den Besten in vielen umliegenden Reichen zu Ohren;
dass nämlich ein mutiger Jüngling
zu dieser Zeit in Griechenland war,
der zudem mit reiner Tugend

Donnerstag, 19. Januar 2017

6481-6490

geselleclicher triuwe.
frisch unde rehte niuwe
an êren schein ir wille.
nû daz der helt Achille
geschuof mit sîner frumekeit,
daz in dem lande wart geleit
ûf in vil hôher êren teil,
dô wart von sîner wirde geil
sîn vater, künic Pêleus.
daz der jungelinc alsus

freundschaftliche Treue aufrecht.
Jugendlich und noch ganz unverbraucht
zeigte sich ihr Wille, wenn es um ihr Ansehen ging.
Als nun der Held Achill
mit seiner rastlosen Strebsamkeit dafür sorgte,
dass ihm in diesem Land eine ganze Menge
an Lob und Anerkennung zuteil wurde,
führte dies dazu, dass sein Vater, 
König Peleus, sich über dieses hohe Ansehen sehr freute.
Dass der Jüngling auf diese Weise

[Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich »jungelinc« ständig anders übersetze…]

Mittwoch, 18. Januar 2017

6471-6480

vil wunderlicher dinge alsus.
ein knabe hiez Patroclus,
der mit im erzogen wart
und ein kint von hôher art
an lîbe und an gebürte schein.
ir zweiger muot was under ein
alsô gevlohten und geweben,
daz der eine wolte leben,
swie der ander im gebôt.
si pflâgen beide unz an ir tôt

auf diese Weise viele wundersame Dinge.
Ein Knabe namens Patroclus
wurde mit ihm erzogen,
ein Kind aus guter, hoher Familie,
was sich an Körper und Herkunft zeigt. 
Die Gesinnung dieser beiden war 
miteinander derart verflochten und verwoben,
dass der eine so leben wollte,
wie es der andere ihm vorschrieb.
Sie beide hielten bis zu ihrem Tod

Dienstag, 17. Januar 2017

6461-6470

von angeborner tugent hât,
des witze gêt vür allen rât,
der von meisterschefte kumet.
guot lêre dâ ze nihte frumet,
swâ man niht grundes vindet,
der sanfte si gelindet
mit süezer tugende fiuhtekeit.
Achilles wart dar ûf bereit,
daz er daz beste gerne tete.
er schuof in dirre waltstete

Veranlagung ein verständiges Wesen haben,
deren Verstand überflügelt allen 
Rat, der auf Meisterschaft beruht.
Gute Lehre hilft überall dort nicht weiter,
wo man kein Fundament findet,
das von ihr behutsam erweicht wird
mit der Feuchtigkeit süßer Eignung und Begabung.
Achill wurde dazu bereit,
das Beste gerne zu tun.
Er bewerkstelligte in dieser Waltheimat

Montag, 16. Januar 2017

6451-6460

und wart an im sô wuocherhaft,
daz si mit manicvalter kraft
im brâhte rîcher tugent fruht;
swenn im sîn meister eine zuht
gelêrte, die geriet sô wol
und wart der êren alsô vol,
daz von ir blüete sâmen
wol tûsent tugende kâmen.
Lêr unde meisterschaft sint guot,
swer aber sinnerîchen muot

und erwies sich bei ihm als so fruchtbar,
dass sie mit vielfältiger Kraft
ihm die Früchte machtvoller Fähigkeiten brachte.
Wann auch immer sein Lehrmeister ihm eine
Verhaltensregel beibrachte, gelang dies so gut
und wurde damit so viel Reputation angesammelt,
dass aus dem Samen ihrer Blüte
bestimmt tausend Fähigkeiten hervorgingen.
Lehre und Meisterschaft sind gut;
all die aber, die durch angeborene

Freitag, 13. Januar 2017

6441-6450

ze herzen und ze beine.
sîn art senft unde reine
geschuof an im daz wunder,
daz er sich ûz besunder
vür sînes meisters lêre schiet;
wan der juncherre baz geriet,
dann er gelêret würde.
der meisterschefte bürde,
die Schŷron dâ leite ûf in,
bar im ze jungest den gewin

in das Herz und in die Beine.
Sanftmut und Untadeligkeit waren ihm angeboren
und bewirkten an ihm das Wunder,
dass er als einziger
über die Lehre seines Meisters hinauskam,
denn der junge Herr entwickelte sich besser
als die Lehre, die er empfing.
Die Last der Perfektion,
die Schyron ihm dort auferlegte,
brachte bei ihm schon bald Ertrag 

Donnerstag, 12. Januar 2017

6431-6440

gewahsen ûf der erden.
ez mac wol bezzer werden,
denne ez vor gewesen ist,
daz aber ganzer tugende list
enphâhe sînes herzen rinc.
daz ist ein ungehœret dinc
und wart vil selten ie vernomen.
swaz von Schŷrône mohte komen
bescheidenlicher dinge,
daz gienc dem jungelinge

erwachsen – und das nirgendwo auf der Welt. 
Es mag wohl sein, dass es besser wird
als es zuvor gewesen war,
dass aber den Raum seines Herzens
die gesamte Einsicht in die edlen Sitten erreiche,
das wäre ein einzigartiges Ereignis
und noch nie hat jemand davon gehört.
Ganz egal, auf welche kenntnisreichen Dinge
Schyron auch kam,
das ging dem Jüngling

Mittwoch, 11. Januar 2017

6421-6430

und ist ein lanc geverte,
ê man ûz flinsen herte
geschepfe ein bilde reine;
von einem linden steine,
der senfte und edel wære,
würd ez mit cleiner swære
gemachet und gebillet.
swie vil ein meister villet
unedel kint mit lêre,
doch kan ûz im kein êre

und es ist ein langwieriger Prozess,
bevor man aus hartem Stein
ein vollkommenes Bildnis hervorbringt.
Aus einem weichen Stein,
der nachgiebig und edel ist,
würde es mit wenig Aufwand
gemacht und geformt.
Ganz egal wie sehr ein Lehrmeister
ein unedles Kind mit Lehre füllt,
aus ihm kann dennoch kein bedeutender Wert

[Das mhd. »êre« hier mit Ansehen oder Reputation (o.ä.) wiederzugeben, macht m.E. wenig Sinn, da ein wenig informierter Leser nicht verstünde, was damit gemeint sein soll.]

Dienstag, 10. Januar 2017

6411-6420

und ist den êren undertân.
dâ von darf iuch niht wunder hân,
daz der juncherre Achille
beid offen unde stille
gap sô liehtebernden schîn,
daz er vor den gesellen sîn
liez edel sich beschouwen.
sich lât ein vels joch houwen
vil sanfter, denn der ander tuo;
dâ hœret michel wunder zuo

und akzeptiert das Ansehen als einen Wert, dem er sich unterzuordnen hat. 
Deshalb sollte es euch nicht wundern,
dass Achill, der junge Herr,
still und zugleich für alle sichtbar
so leuchtenden Glanz verbreitete,
dass er unter all seinen Begleitern
als jemand, der edel ist, sichtbar hervorstach.
Ein Joch in einen Felsen lässt sich viel leichter
zurechthauen als jemand anderen;
hierzu braucht es außergewöhnliche Taten und Ereignisse

Montag, 9. Januar 2017

6401-6410

daz krümbet sich vil vrüeje.
man seit, swâ tugent noch blüeje,
dâ snîde man der êren fruht
schier unde balde mit genuht.
Swaz adellichen arten wil,
zuo dem bedarf man niht ze vil
rîlicher meisterschefte.
von sîner tugent krefte
kan ez wol selbe zuo genemen.
ez üebet, swaz im sol gezemen

was ein Häkchen werden will.
Man sagt, dass man überall dort, wo Veranlagen und Begabung 
noch in voller Blüte stehen, die Früchte des Ansehens erntet,
schnell und mutig und in Hülle und Fülle.
Für alles, was edel werden will,
braucht man nicht allzu viel
an großzügiger, meisterlicher Kunstfertigkeit.
Durch die Kraft seiner Veranlagung und Begabung
ist es gewiss selbst in der Lage, zu gedeihen.
Es übt all das ein, was ihm angemessen ist

[Schöner wäre es natürlich, die figura etymologica »adellichen arten« mit zu übersetzen.]