Mittwoch, 23. Dezember 2020

Kommentar

Einer Meeresgöttin ist natürlich vieles zuzutrauen, aber in V. 14022f. würde ich doch denken, dass sie schlicht und einfach zu dem Meer geht. Im Vers 14029 würde ich eher nicht in die Vorvergangenheit gehen. Und dann noch eine Frage: Haben Fische eigentlich einen Hals? (vgl. V. 14035) Oder gibt es dafür einen Fachbegriff?

Ansonsten bin ich mit allem ganz einverstanden und bedanke ich mich nochmals bei der Gruppe, die unglaublich produktiv war und zugleich eine fast fehlerfreie und sehr gut lesbare Übersetzung verfertigt hat! 

Ich wünsche frohe Weihnachten! Im neuen Jahr geht es dann wieder in gemächlichem Tempo mit kleinen Textstückchen weiter.

14015-14058

14015

swaz ir herzen wol geviel.
si kunde biuwen âne kiel
diu wazzer mit gewalte.
ir kunst mit zouber stalte
dar inne wunderlîchiu dinc:

14020

des brâhte si den jungelinc
von dannen verre deste baz.
hin zuo dem mer tief unde naz
gie diu wîse künigîn.
ein visch der heizet delfîn,

14025

der hiez si für sich viere
dâ komen harte schiere,
wan si mit zouber si beswuor,
daz ir iegelicher fuor,
als im von ir geboten wart.

14030

daz wîp von küniclicher art
behendeclichen nam den sac,
dar inne der juncherre lac,
den si dâ schiere und alzehant
hienc zwein vischen unde bant

14035

mit starken riemen umb ir kragen.
si muosten füeren unde tragen
den jungelinc ân allen haz.
si selbe ûf einen visch dô saz
und ir juncfrouwe ûf einen.

14040

gelîch zwein wilden feinen,
die wunder liste kunnen.
sus fluzzens' unde runnen
ûf ir strâze von dem stade,
sô daz dekeiner slahte schade

14045

widerfuor in allen drîn.
die vische truogens' âne pîn
vil senfteclicher denne ros.
die rihte gegen Scyros
fuor sus diu küniginne,

14050

dâ Lycomêdes inne
saz dô mit hôhen êren.
man sach si rehte kêren
dar in sîn künicrîche.
vil ebene und gelîche

14055

kam si dâ hin geflozzen,
wan si was geschozzen
in einer kurzen wîle
des wâges manic mîle.



14015 

was ihrem Herzen gefiel.
Sie hatte die Kraft, im Wasser
ohne Schiff zu leben.
Ihre Kunst erschuf darin mit Zauber
viele wundersame Dinge.
 
14020 

So brachte sie den Jungen
umso besser weit hinfort.
Die weise Königin 
sank ins tiefe und nasse Meer.
Sie ließ dort sogleich 

14025

vier Delfine
zu sich kommen und sie
beschwor sie mit Zauber, 
dass ein jeder von ihnen schwamm,
wie sie ihm befohlen hatte.

14030 

Die Frau von königlichem Geblüt
nahm geschickt den Sack, 
in dem der Junge lag
und hing ihn schnell an zwei Fische 
und band ihn

14035 

mit starken Riemen um ihren Hals.
Sie mussten den Jungen ohne jeden Widerwillen
ziehen und tragen.
Sie selbst ritt auch auf einem Fisch
und ihre Hofdame ebenso.
 
14040 

Wie zwei wilde Feen,
die Zauber wirken konnten,
so flossen und ritten sie
auf ihrer Straße fort von der Küste,
so dass den Dreien

14045 

keinerlei Schaden widerfuhren konnte.
Die Fische trugen sie ohne Mühe
viel sanfter als Pferde.
So ritt die Königin
in Richtung Skyros,
 
14050 

wo der König Lykomedes
in hohen Ehren lebte.
Man sah sie geradewegs in die Richtung 
seines Königreichs ziehen.
Sehr gleichmäßig und ruhig

14055 

floss sie dahin,
da sie in 
nur kurzer Zeit
viele Meilen des Meeres überwand.

Kommentar

Keinerlei Einwände oder Anmerkungen! 

13970-14014

13970

und daz im zuht und êre birt
der künic Lycomêdes.
mîn lieber sun Achilles
belîben sol niht langer hie.
mit den gedenken si dô gie

13975

hin ab dem bette sâ zehant.
si leite an sich lîs ir gewant
und wahte ir ingesinde.
sanft unde niht geswinde
den juncherren si dô bat

13980

ûf nemen ab der bettestat
und hiez in tragen zuo dem mer.
dâ wider het er keine wer,
wan er sô grimmenclichen slief,
daz er sich zuo dem wâge tief

13985

lie dinsen ûz der clûse.
von sînes meisters hûse
wart er in der naht verstoln.
man wolte in bringen unde holn
verborgenlichen anderswar.

13990

Thêtis gefüeret hete dar
mit ir einen ledersac,
der ûf einem vische lac
und ab im was geschunden:
dâ stiez si bî den stunden

13995

slâfend în ir liebez trût.
mit listen was diu selbe hût
gemachet lûter unde clâr.
man hete wol ein cleinez hâr
gesehen durch ir blankez vel:

14000

noch wîzer denne ein krîdenmel
schein ir glanz geverwet.
si was sô wol gegerwet,
daz durch si kein wazzer gienc.
ein snuor an ir von sîden hienc,

14005

mit der man si z'ein ander zôch.
der jungelinc von adele hôch
wart dar în gestôzen.
mit starken und mit grôzen
listen kam er über sê.

14010

ir hânt daz wol vernomen ê,
wan ez iu wart mit rede schîn,
daz Thêtis diu muoter sîn
was ein mergötinne
und daz si tet dar inne,



13970 

und König Lykomedes
ihm Zucht und Ehre entgegen bringt.
Mein geliebter Sohn Achilles soll nicht 
länger hierbleiben.“
Mit diesen Gedanken

13975 

stieg sie sogleich aus dem Bette.
Sie legte leise ihr Gewand an
und weckte ihr Gefolge.
Sie bat darum, den Jungen
sanft und vorsichtig 
 
13980 

vom Bett zu heben
und ihn zum Meer zu tragen.
Er konnte sich dagegen nicht wehren,
denn er schlief so inbrünstig,
dass er sich aus der Höhle 

13985 

zum tiefen Meer tragen ließ.
Er wurde in dieser Nacht
aus dem Haus seines Meisters entführt.
Man wollte ihnen heimlich
woanders hinbringen.
 
13990 

Thetis führte einen Ledersack
mit sich,
der auf einem Fisch lag
und von ihm abgenommen wurde:
Darin versteckte sie zu dieser Stunde
 
13995 

den schlafenden und geliebten Jungen.
Das Leder war mit einem Zauber hell 
und durchsichtig gemacht worden.
Man hätte sogar ein kleines Haar durch 
die helle Haut sehen können.

14000 

Noch weißer als Kreidemehl strahlte 
ihr gefärbter Glanz.
Sie war so gut gegerbt worden,
dass kein Wasser durch sie drang.
Eine Schnur aus Seide hing an ihr,
 
14005 

mit der man sie zusammenziehen konnte.
Der adelige Junge wurde
dort hineingestoßen. 
Mit starker und großer List
kam er so über das Meer.
 
14010 

Ihr habt vorher vernommen,
denn es wurde euch in der Rede mitgeteilt, 
dass Thetis, seine Mutter, 
eine Meeresgöttin war,
und dass sie im Meer tun konnte,

Donnerstag, 17. Dezember 2020

Kommentar

Mittelhochdeutsch »samenunge« (V. 13920) mit »Gemeinschaft« zu übersetzen, gefällt mir sehr gut. Das »gar michel« im folgenden Vers könnte man vielleicht mit »überaus zahlreich« übersetzen.Der »schall« (V. 13924) ist meist ein Zeichen dafür, dass man vergnügt und fröhlich ist.

Dass die Frauen »hôhes muotes vil gewis« (V. 13927) sind, meint wohl, dass sie sich ihrer Hochstimmung sicher sein können, dass sie Vertrauen in ihr glückseliges Leben haben können. Es handelt sich also um eine sichere, geschützte Umgebung. 

Dann bin ich für eine längere Passage sehr einverstanden und überlege erst in V. 13952, ob man das »bî der zîte« vielleicht eher als »zu der Zeit«, »damals« übersetzen sollte. Die Formulierung »si hete muot gewunnen« (V. 13960) meint möglicherweise konkret: »Sie hatte die Entscheidung getroffen«. 

Das »endarf« (V. 13966) kann man gut mit »brauche ich nicht« übersetzen. Und das »füege« zwei Verse später meint hier wohl eher »dafür sorgen, dass«, »es so einrichten, dass«.

13920-13969

13920

ir swester samenunge
was gar michel unde grôz.
ein wîtiu pfallenz umbeslôz
des küniges tohter alle.
dâ lepten si mit schalle

13925

und mit fröuden inne.
si wâren stolzer sinne
und hôhes muotes vil gewis:
dâ von diu frouwe Thêtis
kêrte dar ûf iren sin,

13930

daz dâ beliben under in
möhte ir sun Achilles.
der künic Lycomêdes
der megde vater was genant,
und hiez Scyros daz einlant,
 
13935

dar inne er sich lie schouwen.
mit ûz erwelten frouwen
stuont sîn küniclicher sal
sô wol gezieret über al,
daz niender dâ kein palas

13940

mit megden baz geblüemet was.
Er hete schœner tohter vil,
die sich ûf maniger wunne spil
mit hôhem vlîze twungen.
si tanzten unde sungen

13945

und wâren hübisch unde vrô.
zuo disen megden wolte dô
Thêtis Achillen füeren.
dô si begunde rüeren
mit ir gedanke in manic lant

13950

und si dekeinez drunder vant,
dâ si den knaben wol getân
wolt inne bî der zîte lân,
dô kam der küniginne
ze herzen und ze sinne

13955

der insel, der ich hân gedâht.
daz ir sun dar würde brâht
in einer megde glaste,
dar ûf sô wart si vaste
verflizzen und versunnen.

13960

si hete muot gewunnen
mit im zuo dem einlande hin.
si dâhte alsô: gefüer ich in
in einer megde bilde dar
und wirt er in der frouwen schar

13965

getüschet und verborgen,
so endarf ich des niht sorgen,
daz er dâ werde funden.
ich füege in kurzen stunden,
daz er dâ hofgesinde wirt



13920 

Ihre schwesterliche Gemeinschaft
war schön und groß.
Eine weite Umgrenzung umschloss
die Töchter des Königs.
Dort lebten sie mit Gesang
 
13925 

und mit Freuden.
Sie waren stolz
und voller Hochstimmung.
Deshalb kehrte die Herrin Thetis 
darauf ihren Verstand, 

13930 

dass unter ihnen ihr Sohn 
Achilles bleiben sollte. 
Der Vater der Mädchen wurde
König Lykomedes genannt
und herrschte über eine

13935

Insel, die Skyros genannt wurde.
Sein königlicher Saal war 
mit auserlesenen Damen 
so sehr geziert, 
dass kein anderer Palast 

13940

besser mit Mädchen geschmückt war.
Er hatte viele schöne Töchter,
die sich auf vielerlei Weise
mit großem Fleiß Unterhaltung bereiteten. 
Sie tanzten und sangen
 
13945 

und waren höfisch und fröhlich.
Zu diesen Mädchen wollte
Thetis Achilles führen.
Nachdem sie begonnen hatte, sich 
auf manches Land zu besinnen
 
13950 

und keines darunter fand, 
in dem sie den herrlichen Knaben beizeiten
gerne lassen wollte, 
da kam der Königin diese Insel
ins Herz und in den Sinn,
 
13955 

an die ich hier erinnert habe.
Dass ihr Sohn dorthin 
in den Glanz der Mädchen 
gebracht würde, darauf war sie 
nun sehr bedacht.
 
13960 

Sie hatte den Mut gewonnen,
ihn zu dieser Insel zu bringen.
Sie dachte: „Wenn ich ihn in 
der Verkleidung eines Mädchens dorthin bringe und 
er in der Gruppe der Frauen
 
13965

verborgen und versteckt wird,
so muss ich mich nicht mehr sorgen,
dass er da gefunden wird.
Ich verfüge in Kürze,
dass er im Hofgesinde aufgenommen wird

Montag, 7. Dezember 2020

Kommentar

Der Einstieg liest sich ziemlich gut, selbst das »trachtete« kann man in diesem Zusammenhang tatsächlich verwenden, denke ich. Auch die Übersetzung von »stat« (V. 13882) mit »Lebensweise« macht hier durchaus Sinn, führt dann aber zu Problemen, wenn die Gedanken »in manic rîche« (V. 13885) schweifen, als in so manches Reich/Land. 

Dass das Meer »tief und nass« ist (V. 13891), das klingt nach einer Selbstverständlichkeit, aber vielleicht sollte man es doch in die Übersetzung übernehmen – auch wenn ich gerne zugebe, dass das dann etwas seltsam klingt... 

Das »vâren« (V. 13896) meint »nach etwas streben«: »und alle waren in der Lage, (schon) in ihrer Jugend nach herrlichem Ansehen zu streben/sich um großes Ansehen zu bemühen«. 

Mit dem Rest bin ich im Prinzip sehr einverstanden; ich frage mich nur, ob die »wîsiu zunge« (V. 13919) nicht vielleicht eher auf die »Erfahrenen« verweist als auf die »Gelehrten«. 

13870-13919

13870

von mir verborgen denne dâ.
Sus lac diu frouwe minneclich
gedenkend allez wider sich,
war si getet Acillen.
si wolte gar mit willen

13875

vor schedelichen sachen
sîn leben dô bewachen
und sînen wunneclichen lîp,
dâ von daz hôchgeborne wîp
dar ûf begunde trahten,

13880

daz si den wol geslahten
verholne dannen bræhte
und eine stat erdæhte,
dâ nieman würde sîn gewar.
nû daz ir muot dan unde dar

13885

in manic rîche wart gewant,
seht, dô gedâhtes' an ein lant,
des ein vil werder künic wielt,
der hûs mit êren drinne hielt
und sîn gewalteclichen pflac.

13890

ez was ein insel unde lac
in dem mer tief unde naz.
sîn herre, der dar inne saz,
der lebte in hôher wirde gar.
von megden hete er eine schar,

13895

die sîne tohter wâren,
und alle kunden vâren
rîliches lobes in ir jugent.
ir iegelîchiu manic tugent
nam an sich besunder,

13900

iedoch was einiu drunder,
diu schein ir aller bluome
an werdeclichem ruome
und an liutsælikeite
ir lop lanc unde breite

13905

des landes massenîe.
si was Dêîdamîe
genennet und geheizen.
in al der welte kreizen
lepte ein schœner maget niht.

13910

diu wârheit sprichet unde giht,
daz wîplich crêatiure
nie würde alsô gehiure,
noch sô bescheiden, sô si was.
swaz ich von megden ie gelas,

13915

der übergulde was ir lîp.
ir tugent schein vür alliu wîp
durchliuhtic und durchsihtic,
des wart ir lobes gihtic
vil manic wîsiu zunge.



13870 

woanders von mir verborgen werden.“
So lag die schöne Dame wach
und wog ab,
wohin sie Achilles tun könnte.
Sie wollte sein Leben 
 
13875 

und seinen Körper
mit ganzem Willen 
vor Schaden bewahren.
Deshalb trachtete 
die hochgeborene Frau danach, 

13880 

den Wohlgeratenen 
heimlich fortzubringen 
und eine Lebensweise zu erdenken, 
in welcher ihn niemand erkannte.
Als nun ihr Geist 

13885

mehr und mehr Ideen entsann, 
seht, da fiel ihr ein Land ein,
über das ein sehr ehrenwerter König herrschte,
der dort mit Ehre ein Hauswesen führte
und sich machtvoll darum kümmerte.

13890

Es war eine Insel
weit draußen auf dem Meer.
Ihr Herrscher, der dort wohnte,
genoss großes Ansehen.
Er hatte eine Schar Mädchen,

13895 

die seine Töchter waren,
und alle konnten mit viel Lob 
in ihrer Jugend fahren. 
Jede von ihnen besaß 
viele besondere Tugenden, 

13900 

jedoch gab es eine,
die überstrahlte sie alle
an herrlichem Ruhm, 
und das Volk des 
Landes pries ihre 

13905

Lieblichkeit weit und breit. 
Sie wurde Deidameia
genannt
und nirgendwo auf der Welt
lebte eine schönere junge Frau.
 
13910 

Die Wahrheit lautet, 
dass niemals ein weibliches Geschöpf 
so lieblich und 
bescheiden war wie sie. 
Alles, was ich von Frauen jemals gelesen habe, 

13915 

ist nichts, verglichen mit ihrem Antlitz.
Ihre Tugend schien neben anderen Frauen
besonders hell und strahlend.
Deshalb wurde ihr von vielen Gelehrten
Lob zugestanden.