Mittwoch, 23. Dezember 2020

Kommentar

Einer Meeresgöttin ist natürlich vieles zuzutrauen, aber in V. 14022f. würde ich doch denken, dass sie schlicht und einfach zu dem Meer geht. Im Vers 14029 würde ich eher nicht in die Vorvergangenheit gehen. Und dann noch eine Frage: Haben Fische eigentlich einen Hals? (vgl. V. 14035) Oder gibt es dafür einen Fachbegriff?

Ansonsten bin ich mit allem ganz einverstanden und bedanke ich mich nochmals bei der Gruppe, die unglaublich produktiv war und zugleich eine fast fehlerfreie und sehr gut lesbare Übersetzung verfertigt hat! 

Ich wünsche frohe Weihnachten! Im neuen Jahr geht es dann wieder in gemächlichem Tempo mit kleinen Textstückchen weiter.

14015-14058

14015

swaz ir herzen wol geviel.
si kunde biuwen âne kiel
diu wazzer mit gewalte.
ir kunst mit zouber stalte
dar inne wunderlîchiu dinc:

14020

des brâhte si den jungelinc
von dannen verre deste baz.
hin zuo dem mer tief unde naz
gie diu wîse künigîn.
ein visch der heizet delfîn,

14025

der hiez si für sich viere
dâ komen harte schiere,
wan si mit zouber si beswuor,
daz ir iegelicher fuor,
als im von ir geboten wart.

14030

daz wîp von küniclicher art
behendeclichen nam den sac,
dar inne der juncherre lac,
den si dâ schiere und alzehant
hienc zwein vischen unde bant

14035

mit starken riemen umb ir kragen.
si muosten füeren unde tragen
den jungelinc ân allen haz.
si selbe ûf einen visch dô saz
und ir juncfrouwe ûf einen.

14040

gelîch zwein wilden feinen,
die wunder liste kunnen.
sus fluzzens' unde runnen
ûf ir strâze von dem stade,
sô daz dekeiner slahte schade

14045

widerfuor in allen drîn.
die vische truogens' âne pîn
vil senfteclicher denne ros.
die rihte gegen Scyros
fuor sus diu küniginne,

14050

dâ Lycomêdes inne
saz dô mit hôhen êren.
man sach si rehte kêren
dar in sîn künicrîche.
vil ebene und gelîche

14055

kam si dâ hin geflozzen,
wan si was geschozzen
in einer kurzen wîle
des wâges manic mîle.



14015 

was ihrem Herzen gefiel.
Sie hatte die Kraft, im Wasser
ohne Schiff zu leben.
Ihre Kunst erschuf darin mit Zauber
viele wundersame Dinge.
 
14020 

So brachte sie den Jungen
umso besser weit hinfort.
Die weise Königin 
sank ins tiefe und nasse Meer.
Sie ließ dort sogleich 

14025

vier Delfine
zu sich kommen und sie
beschwor sie mit Zauber, 
dass ein jeder von ihnen schwamm,
wie sie ihm befohlen hatte.

14030 

Die Frau von königlichem Geblüt
nahm geschickt den Sack, 
in dem der Junge lag
und hing ihn schnell an zwei Fische 
und band ihn

14035 

mit starken Riemen um ihren Hals.
Sie mussten den Jungen ohne jeden Widerwillen
ziehen und tragen.
Sie selbst ritt auch auf einem Fisch
und ihre Hofdame ebenso.
 
14040 

Wie zwei wilde Feen,
die Zauber wirken konnten,
so flossen und ritten sie
auf ihrer Straße fort von der Küste,
so dass den Dreien

14045 

keinerlei Schaden widerfuhren konnte.
Die Fische trugen sie ohne Mühe
viel sanfter als Pferde.
So ritt die Königin
in Richtung Skyros,
 
14050 

wo der König Lykomedes
in hohen Ehren lebte.
Man sah sie geradewegs in die Richtung 
seines Königreichs ziehen.
Sehr gleichmäßig und ruhig

14055 

floss sie dahin,
da sie in 
nur kurzer Zeit
viele Meilen des Meeres überwand.

Kommentar

Keinerlei Einwände oder Anmerkungen! 

13970-14014

13970

und daz im zuht und êre birt
der künic Lycomêdes.
mîn lieber sun Achilles
belîben sol niht langer hie.
mit den gedenken si dô gie

13975

hin ab dem bette sâ zehant.
si leite an sich lîs ir gewant
und wahte ir ingesinde.
sanft unde niht geswinde
den juncherren si dô bat

13980

ûf nemen ab der bettestat
und hiez in tragen zuo dem mer.
dâ wider het er keine wer,
wan er sô grimmenclichen slief,
daz er sich zuo dem wâge tief

13985

lie dinsen ûz der clûse.
von sînes meisters hûse
wart er in der naht verstoln.
man wolte in bringen unde holn
verborgenlichen anderswar.

13990

Thêtis gefüeret hete dar
mit ir einen ledersac,
der ûf einem vische lac
und ab im was geschunden:
dâ stiez si bî den stunden

13995

slâfend în ir liebez trût.
mit listen was diu selbe hût
gemachet lûter unde clâr.
man hete wol ein cleinez hâr
gesehen durch ir blankez vel:

14000

noch wîzer denne ein krîdenmel
schein ir glanz geverwet.
si was sô wol gegerwet,
daz durch si kein wazzer gienc.
ein snuor an ir von sîden hienc,

14005

mit der man si z'ein ander zôch.
der jungelinc von adele hôch
wart dar în gestôzen.
mit starken und mit grôzen
listen kam er über sê.

14010

ir hânt daz wol vernomen ê,
wan ez iu wart mit rede schîn,
daz Thêtis diu muoter sîn
was ein mergötinne
und daz si tet dar inne,



13970 

und König Lykomedes
ihm Zucht und Ehre entgegen bringt.
Mein geliebter Sohn Achilles soll nicht 
länger hierbleiben.“
Mit diesen Gedanken

13975 

stieg sie sogleich aus dem Bette.
Sie legte leise ihr Gewand an
und weckte ihr Gefolge.
Sie bat darum, den Jungen
sanft und vorsichtig 
 
13980 

vom Bett zu heben
und ihn zum Meer zu tragen.
Er konnte sich dagegen nicht wehren,
denn er schlief so inbrünstig,
dass er sich aus der Höhle 

13985 

zum tiefen Meer tragen ließ.
Er wurde in dieser Nacht
aus dem Haus seines Meisters entführt.
Man wollte ihnen heimlich
woanders hinbringen.
 
13990 

Thetis führte einen Ledersack
mit sich,
der auf einem Fisch lag
und von ihm abgenommen wurde:
Darin versteckte sie zu dieser Stunde
 
13995 

den schlafenden und geliebten Jungen.
Das Leder war mit einem Zauber hell 
und durchsichtig gemacht worden.
Man hätte sogar ein kleines Haar durch 
die helle Haut sehen können.

14000 

Noch weißer als Kreidemehl strahlte 
ihr gefärbter Glanz.
Sie war so gut gegerbt worden,
dass kein Wasser durch sie drang.
Eine Schnur aus Seide hing an ihr,
 
14005 

mit der man sie zusammenziehen konnte.
Der adelige Junge wurde
dort hineingestoßen. 
Mit starker und großer List
kam er so über das Meer.
 
14010 

Ihr habt vorher vernommen,
denn es wurde euch in der Rede mitgeteilt, 
dass Thetis, seine Mutter, 
eine Meeresgöttin war,
und dass sie im Meer tun konnte,

Donnerstag, 17. Dezember 2020

Kommentar

Mittelhochdeutsch »samenunge« (V. 13920) mit »Gemeinschaft« zu übersetzen, gefällt mir sehr gut. Das »gar michel« im folgenden Vers könnte man vielleicht mit »überaus zahlreich« übersetzen.Der »schall« (V. 13924) ist meist ein Zeichen dafür, dass man vergnügt und fröhlich ist.

Dass die Frauen »hôhes muotes vil gewis« (V. 13927) sind, meint wohl, dass sie sich ihrer Hochstimmung sicher sein können, dass sie Vertrauen in ihr glückseliges Leben haben können. Es handelt sich also um eine sichere, geschützte Umgebung. 

Dann bin ich für eine längere Passage sehr einverstanden und überlege erst in V. 13952, ob man das »bî der zîte« vielleicht eher als »zu der Zeit«, »damals« übersetzen sollte. Die Formulierung »si hete muot gewunnen« (V. 13960) meint möglicherweise konkret: »Sie hatte die Entscheidung getroffen«. 

Das »endarf« (V. 13966) kann man gut mit »brauche ich nicht« übersetzen. Und das »füege« zwei Verse später meint hier wohl eher »dafür sorgen, dass«, »es so einrichten, dass«.

13920-13969

13920

ir swester samenunge
was gar michel unde grôz.
ein wîtiu pfallenz umbeslôz
des küniges tohter alle.
dâ lepten si mit schalle

13925

und mit fröuden inne.
si wâren stolzer sinne
und hôhes muotes vil gewis:
dâ von diu frouwe Thêtis
kêrte dar ûf iren sin,

13930

daz dâ beliben under in
möhte ir sun Achilles.
der künic Lycomêdes
der megde vater was genant,
und hiez Scyros daz einlant,
 
13935

dar inne er sich lie schouwen.
mit ûz erwelten frouwen
stuont sîn küniclicher sal
sô wol gezieret über al,
daz niender dâ kein palas

13940

mit megden baz geblüemet was.
Er hete schœner tohter vil,
die sich ûf maniger wunne spil
mit hôhem vlîze twungen.
si tanzten unde sungen

13945

und wâren hübisch unde vrô.
zuo disen megden wolte dô
Thêtis Achillen füeren.
dô si begunde rüeren
mit ir gedanke in manic lant

13950

und si dekeinez drunder vant,
dâ si den knaben wol getân
wolt inne bî der zîte lân,
dô kam der küniginne
ze herzen und ze sinne

13955

der insel, der ich hân gedâht.
daz ir sun dar würde brâht
in einer megde glaste,
dar ûf sô wart si vaste
verflizzen und versunnen.

13960

si hete muot gewunnen
mit im zuo dem einlande hin.
si dâhte alsô: gefüer ich in
in einer megde bilde dar
und wirt er in der frouwen schar

13965

getüschet und verborgen,
so endarf ich des niht sorgen,
daz er dâ werde funden.
ich füege in kurzen stunden,
daz er dâ hofgesinde wirt



13920 

Ihre schwesterliche Gemeinschaft
war schön und groß.
Eine weite Umgrenzung umschloss
die Töchter des Königs.
Dort lebten sie mit Gesang
 
13925 

und mit Freuden.
Sie waren stolz
und voller Hochstimmung.
Deshalb kehrte die Herrin Thetis 
darauf ihren Verstand, 

13930 

dass unter ihnen ihr Sohn 
Achilles bleiben sollte. 
Der Vater der Mädchen wurde
König Lykomedes genannt
und herrschte über eine

13935

Insel, die Skyros genannt wurde.
Sein königlicher Saal war 
mit auserlesenen Damen 
so sehr geziert, 
dass kein anderer Palast 

13940

besser mit Mädchen geschmückt war.
Er hatte viele schöne Töchter,
die sich auf vielerlei Weise
mit großem Fleiß Unterhaltung bereiteten. 
Sie tanzten und sangen
 
13945 

und waren höfisch und fröhlich.
Zu diesen Mädchen wollte
Thetis Achilles führen.
Nachdem sie begonnen hatte, sich 
auf manches Land zu besinnen
 
13950 

und keines darunter fand, 
in dem sie den herrlichen Knaben beizeiten
gerne lassen wollte, 
da kam der Königin diese Insel
ins Herz und in den Sinn,
 
13955 

an die ich hier erinnert habe.
Dass ihr Sohn dorthin 
in den Glanz der Mädchen 
gebracht würde, darauf war sie 
nun sehr bedacht.
 
13960 

Sie hatte den Mut gewonnen,
ihn zu dieser Insel zu bringen.
Sie dachte: „Wenn ich ihn in 
der Verkleidung eines Mädchens dorthin bringe und 
er in der Gruppe der Frauen
 
13965

verborgen und versteckt wird,
so muss ich mich nicht mehr sorgen,
dass er da gefunden wird.
Ich verfüge in Kürze,
dass er im Hofgesinde aufgenommen wird

Montag, 7. Dezember 2020

Kommentar

Der Einstieg liest sich ziemlich gut, selbst das »trachtete« kann man in diesem Zusammenhang tatsächlich verwenden, denke ich. Auch die Übersetzung von »stat« (V. 13882) mit »Lebensweise« macht hier durchaus Sinn, führt dann aber zu Problemen, wenn die Gedanken »in manic rîche« (V. 13885) schweifen, als in so manches Reich/Land. 

Dass das Meer »tief und nass« ist (V. 13891), das klingt nach einer Selbstverständlichkeit, aber vielleicht sollte man es doch in die Übersetzung übernehmen – auch wenn ich gerne zugebe, dass das dann etwas seltsam klingt... 

Das »vâren« (V. 13896) meint »nach etwas streben«: »und alle waren in der Lage, (schon) in ihrer Jugend nach herrlichem Ansehen zu streben/sich um großes Ansehen zu bemühen«. 

Mit dem Rest bin ich im Prinzip sehr einverstanden; ich frage mich nur, ob die »wîsiu zunge« (V. 13919) nicht vielleicht eher auf die »Erfahrenen« verweist als auf die »Gelehrten«. 

13870-13919

13870

von mir verborgen denne dâ.
Sus lac diu frouwe minneclich
gedenkend allez wider sich,
war si getet Acillen.
si wolte gar mit willen

13875

vor schedelichen sachen
sîn leben dô bewachen
und sînen wunneclichen lîp,
dâ von daz hôchgeborne wîp
dar ûf begunde trahten,

13880

daz si den wol geslahten
verholne dannen bræhte
und eine stat erdæhte,
dâ nieman würde sîn gewar.
nû daz ir muot dan unde dar

13885

in manic rîche wart gewant,
seht, dô gedâhtes' an ein lant,
des ein vil werder künic wielt,
der hûs mit êren drinne hielt
und sîn gewalteclichen pflac.

13890

ez was ein insel unde lac
in dem mer tief unde naz.
sîn herre, der dar inne saz,
der lebte in hôher wirde gar.
von megden hete er eine schar,

13895

die sîne tohter wâren,
und alle kunden vâren
rîliches lobes in ir jugent.
ir iegelîchiu manic tugent
nam an sich besunder,

13900

iedoch was einiu drunder,
diu schein ir aller bluome
an werdeclichem ruome
und an liutsælikeite
ir lop lanc unde breite

13905

des landes massenîe.
si was Dêîdamîe
genennet und geheizen.
in al der welte kreizen
lepte ein schœner maget niht.

13910

diu wârheit sprichet unde giht,
daz wîplich crêatiure
nie würde alsô gehiure,
noch sô bescheiden, sô si was.
swaz ich von megden ie gelas,

13915

der übergulde was ir lîp.
ir tugent schein vür alliu wîp
durchliuhtic und durchsihtic,
des wart ir lobes gihtic
vil manic wîsiu zunge.



13870 

woanders von mir verborgen werden.“
So lag die schöne Dame wach
und wog ab,
wohin sie Achilles tun könnte.
Sie wollte sein Leben 
 
13875 

und seinen Körper
mit ganzem Willen 
vor Schaden bewahren.
Deshalb trachtete 
die hochgeborene Frau danach, 

13880 

den Wohlgeratenen 
heimlich fortzubringen 
und eine Lebensweise zu erdenken, 
in welcher ihn niemand erkannte.
Als nun ihr Geist 

13885

mehr und mehr Ideen entsann, 
seht, da fiel ihr ein Land ein,
über das ein sehr ehrenwerter König herrschte,
der dort mit Ehre ein Hauswesen führte
und sich machtvoll darum kümmerte.

13890

Es war eine Insel
weit draußen auf dem Meer.
Ihr Herrscher, der dort wohnte,
genoss großes Ansehen.
Er hatte eine Schar Mädchen,

13895 

die seine Töchter waren,
und alle konnten mit viel Lob 
in ihrer Jugend fahren. 
Jede von ihnen besaß 
viele besondere Tugenden, 

13900 

jedoch gab es eine,
die überstrahlte sie alle
an herrlichem Ruhm, 
und das Volk des 
Landes pries ihre 

13905

Lieblichkeit weit und breit. 
Sie wurde Deidameia
genannt
und nirgendwo auf der Welt
lebte eine schönere junge Frau.
 
13910 

Die Wahrheit lautet, 
dass niemals ein weibliches Geschöpf 
so lieblich und 
bescheiden war wie sie. 
Alles, was ich von Frauen jemals gelesen habe, 

13915 

ist nichts, verglichen mit ihrem Antlitz.
Ihre Tugend schien neben anderen Frauen
besonders hell und strahlend.
Deshalb wurde ihr von vielen Gelehrten
Lob zugestanden.

Montag, 30. November 2020

Kommentar

Wir nähern uns dem Cross-Dressing des Helden! Den »sin« (V. 13823) würde ich an dieser Stelle vielleicht eher mit »Interesse« übersetzen; und bei den »lîben« im vorherigen Vers könnte man überlegen, ob man das Wort überhaupt übersetzen muss, da mhd. »lîp« auch allgemein die Person meinen kann (und dann kann man oft auf die Übersetzung verzichten).

Das »von in ze lange fuoren« in Vers 13831 düfte meinen, dass die Männer zu lange weggeblieben sind – und das könnte man an der Stelle vielleicht ein bisschen anschaulicher übersetzen. Danach bin ich lange sehr einverstanden. 

Etwas seltsam ist die Formulierung »den kreiz ân angest biuwen« (V. 13851). »biuwen« meint oft einfach »leben«; insofern würde ich dazu neigen »Ich lasse ihn wahrlich in dieser Gegend ohne Bedrängnis leben« zu übersetzen; ganz sicher bin ich mir aber nicht. Die Übersetzung »Gegend« (für »kreiz«) habe ich mir aus der Übersetzung von V. 13855 ausgeborgt – und die Übersetzung muss ich mir merken, die ist wohl besser als meine früheren Übersetzungen dieses Wortes.

Das »an sîner art« dürfte den Charakter, das Wesen des Volkes meinen. Das erwähnte Volk ist also von Grund auf schlecht, von seiner ganzen Wesensart her schlecht und böse. 

Schwierig sind die Verse 13864f. Ich vermute, dass es hier weiterhin um das bösartige Volk geht: »Sogleich verabscheuen sie von Herzen, was sie eben noch gemocht haben«. Es handelt sich eben um ein sehr wankelmütiges Volk.

13820-13869

13820

im kan niht misselingen
bî wunneclichen wîben,
diu zuo der manne lîben
tragent weder sin, noch ger.
vernement aber si, daz er

13825

ist ein juncherre wol getân,
er muoz den lîp verloren hân
und ist ân allen zwîvel tôt.
si brâhten alle ir man ze nôt
hie vor in alter zîte,

13830

durch daz si z’eime strîte
von in ze lange fuoren.
si lopten unde swuoren
des alle sunder lougen,
daz iegelîchiu tougen

13835

ir wirt ze tôde slüege.
den mort vil ungefüege
begiengens' an ir mannen
dar umbe, daz si dannen
ze lange wâren under wegen.

13840

vil manic ellentrîcher degen
wart von in verhouwen.
tet ich zuo disen vrouwen
mîn liebez kint Achillesen,
ez müeste dâ sîn ende wesen,

13845

wan er verdürbe sâ zehant.
Dêlos ein insel ist genant,
dar inne mac er sicher sîn.
ich wæne, daz ich in dar în
verbergen welle tougen.

13850

ich lâze in sunder lougen
den kreiz ân angest biuwen.
nein aber ich, entriuwen,
ich sol in vlœhen anderswar.
von mir enwirt er niemer dar

13855

gefüeret in den selben creiz,
wan ich daz âne zwîvel weiz,
daz nie kein volc an sîner art
sô rehte gar unstæte wart
sô daz lantgesinde.

13860

daz man ez dicke vinde
valsch unde wandelbære,
daz ist von ime ze mære
an gnuogen steten mir geseit.
im wirt zehant von herzen leit,

13865

daz im gewesen ist vil zart,
des wirt mîn sun dâ vor bewart,
daz er dâ hin ze lande iht kome.
der jungelinc vrech unde vrome
wirt sicherlichen anderswâ



13820 

Ihm kann bei den herrlichen Frauen 
kein Missgeschick geschehen, 
da sie weder Verstand noch Begierde für die 
Körper der Männer in sich tragen.
Wenn sie aber herausfinden, dass er
 
13825

ein starker junger Mann ist,
dann müsste er sein Leben lassen
und ohne jeden Zweifel sterben.
Vor langer Zeit
brachten sie alle ihre Männer in Not,
 
13830 

weil sie zu einem Kampf 
von ihnen zu lange fahren mussten. 
Sie gelobten und schworen 
das alle wahrheitsgemäß,
dass jede von ihnen heimlich ihren 

13835

Hausherrn zu Tode schlüge.
Den schrecklichen Mord 
begingen sie an ihren Männern 
aus dem Grund, dass sie zu lange 
auf der Reise waren.

13840 

Sie erschlugen
viele tapfere Kämpfer.
Wenn ich mein liebes Kind Achilles
zu diesen Frauen bringen würde,
wäre es sicher sein Ende,
 
13845 

denn er würde dort sogleich verderben.
Es gibt noch die Insel Delos,
dort könnte er sicher sein.
Ich denke, dass ich ihn dort
heimlich verbergen sollte.
 
13850 

Ich lasse ihn wahrlich den Kreis 
ohne Angst bebauen.
Nein, bei meiner Treue, ich sollte
mit ihm woanders hin fliehen. 
Von mir wird er niemals dorthin 

13855

geführt in diese Gegend,
denn wenn ich eins weiß, dann,
dass kein vergleichbares Volk
so absolut untreu ist
wie diese Einwohner dort.
 
13860 

Dass es sich als überaus 
falsch und wankelmütig erweist, 
das ist mir von 
vielen Stellen erzählt worden.
Da sein Herz sehr weich gewesen ist, 

13865 

wird ihm dort sogleich Herzeleid zuteil. 
Deshalb werde meinen Sohn davor bewahren sollte,
dass er in dieses Land kommt.
Der kühne und tüchtige Junge
sollte besser

Montag, 23. November 2020

Kommentar

Immer wieder schön, auf welche Weise Reflexionen einer Figur in mittelhochdeutschen Erzählungen dargestellt werden (können)! Hier und da hätte ich in der Übersetzung wohl zu anderen Worten gegriffen, aber in fast allen Fällen halte ich die gefundenen Lösungen (nach ein bisschen Nachdenken) für sehr gelungen. 

Mittelhochdeutsch »süeze« ist oft nicht leicht zu übersetzen, zumal das Wort in einer ganzen Bandbreite von Zusammenhängen auftaucht. Hier, in V. 13879, könnte man zu »lieblich« greifen; falls einem das zu altertümlich klingt, vielleicht »hübsch« oder »liebenswert« o.ä. 

Das »von strîte« (V. 13793) ist völlig korrekt übersetzt; aber vielleicht müsste man noch ein wenig deutlicher machen, worum es geht, nämlich darum, dass Achill dort »in irgendeinem Kampf« zu Tode kommen würde. 

Die Übersetzung von V. 13796 macht es sich schwieriger als notwendig wäre. Mittelhochdeutsch »muot« meint in der Regel (wenn auch nicht immer) »Gemüt« oder »Sinn«: »Sie hatten stets Kämpfe im Sinn« (wobei ich nun die negative Aussage in eine positive umgewandelt habe, um mir das Übersetzer-Leben ein wenig leichter zu machen). 

Das »geflœhet« in V. 13815 ist ein wenig irritierend, finde ich. Im Prinzip würde es ja heißen, dass er »nicht in ihr Land geflieht« werde – und so kann man das natürlich nicht formulieren. Im Lexer gibt es  einen Eintrag zu »vlœhenen«, das ist: »flüchten, durch flucht entfernen, in sicherheit bringen« – damit dürfte die Übersetzung gut funktionieren. 

13770-13819

13770

des vlôch er von dem bette hin,
dar ûf sîn muoter, als ich las,
geleit vil senfteclîche was.
Sanft unde wol was si geleit,
iedoch kund ir die senftekeit
 
13775

des bettes niht dar zuo gefromen,
daz si ze slâfe möhte komen,
wan si wart in gedenke brâht.
diu frouwe in sorgen lac verdâht,
wâ si verbürge ir lieben sun.

13780

si dâhte alsô: verbirgest dun
lîs unde tougenlîche niht,
dîn ouge schiere an im gesiht,
dâ von dîn lîp muoz jâmer doln.
dû solt in füeren unde holn

13785

verre in ein vremdez lant.
ein rîche ist Trâciâ genant
und ist unmâzen wilde,
dar în verbirc sîn bilde
und sînen clâren süezen lîp!

13790

waz rede ab ich vil tumbez wîp?
kæm er dâ hin, er wære tôt,
wan er des grimmen tôdes nôt
von strîte dâ ze jungest lite.
ez wart nie volc, daz gerner strite,

13795

denn ouch diu selbe lantdiet.
ir muot von kampfe nie geschiet
noch ir herze, noch ir sin.
ich füere in z' einem lande hin,
daz heizet Mâcedôniâ.

13800

birg ich den ellentrîchen dâ,
daz ist mir nû daz beste dinc,
wan daz des selben landes rinc
hât ungetriuwer liute vil.
in valsche brinnet âne zil

13805

ir herze und ir gemüete
als in des fiures glüete
ein wilder salamander.
der künic Alexander
von ir lande was geborn.

13810

ze herren hetens' in erkorn
und brâchen doch ir triuwe an im.
dur daz sô kêre ich unde nim
von ir kreize mînen muot.
mîn sun liutsælic unde guot

13815

wirt niht geflœhet in ir lant.
Lemnos ein insel ist genant,
dâ niht wan frouwen inne sint,
dar în sol ich mîn liebez kint
nû füeren unde bringen.



13770

Deshalb floh er aus dem Bett, 
auf dem seine Mutter, wie ich gelesen habe, 
so angenehm lag.
Sanft und gut war sie gebettet, 
doch die Annehmlichkeiten

13775 

des Bettes führten nicht dazu,
dass sie in den Schlaf fand, 
denn sie machte sich viele Gedanken.
Sie sorgte sich sehr und dachte darüber nach, 
wo sie ihren geliebten Sohn verbergen könnte.

13780 

Sie dachte sich: „Wenn du ihn nicht unauffällig 
und heimlich verbirgst, 
dann muss dein Auge plötzlich an ihm Dinge sehen, 
von denen du Jammer erdulden musst.
Du sollst ihn führen und weit wegbringen 

13785

in ein fremdes Land.
Ein Reich wird als Trakien bezeichnet 
und es ist wahrlich unbekannt.
Dort will ich seinen unversehrten Körper 
und seinen Anblick verbergen.
 
13790 

Was rede ich törichte Frau nur?
Würde er dorthin gehen, würde er sterben, 
denn er litte dort am Ende 
vom Kampf die Drangsal des grimmen Todes. 
Es gab nie ein Volk, welches lieber kämpfte 

13795 

als die dortige Bevölkerung.
Ihr Mut wurde nie durch Kampf geschwächt 
und auch nicht ihr Herz oder ihr Sinn. 
Ich führe ihn in ein Land,
das Makedonien heißt.
 
13800 

Es scheint mir das Beste, 
wenn ich den Tapferen dort verberge,
nur dass leider in demselben
Land viele treulose Menschen leben.
Ihr Herz und ihr Gemüt 

13805

brennen ziellos in Untreue
wie ein wilder Salamander 
in einer Feuerglut.
In ihrem Land wurde der 
König Alexander geboren.
 
13810 

Sie hatten ihn zu ihrem Anführer gewählt
und dann doch ihre Treue zu ihm gebrochen. 
Dadurch lasse ich davon ab und 
wende meine Gedanken von ihrem Gebiet ab. 
Mein gutgläubiger und guter Sohn 

13815 

wird nicht in ihr Land fliehen. 
Eine Insel wird Limnos genannt.
Da dort niemand außer Frauen lebt,
werde ich mein liebes Kind dorthin
führen und dorthin bringen. 

Dienstag, 17. November 2020

Kommentar

Die Passage ist nicht ganz leicht zu übersetzen, wie mir scheint, und man muss sich wohl hier und da bei der Übertragung ein paar Freiheiten nehmen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf Stellen, über die ich gestolpert bin.

Statt »gesotten« (V. 13724) würde ich eher »gekocht« übersetzen, das scheint mir heutzutage verständlicher zu sein. »des mâles« in V. 13725 meint wohl »damals«, wenn ich recht sehe. Statt »sorgfältig« (V. 13726) könnte man vielleicht auch »bereitwillig« übersetzen, weil an dieser Stelle Freiwilligkeit und Bereitwilligkeit sehr betont werden. Das »spil« (V. 13729) ließe sich vielleicht als »Unterhaltung« übertragen (und in der Folge wird ja auch klar, dass einiges an Unterhaltungsprogramm geboten wird). Zur Unterhaltung scheinen Schaukämpfe zu gehören – so würde ich das »schirmen« (V. 13738) verstehen: Gemeint ist (lt. Lexer) fechten, oder auch: mit dem Schild einen Hieb abfangen.

Das »kôsen« in V. 13757 würde ich konkreter mit »liebkosen« o.ä. übersetzen. Und entsprechend ist Achill vielleicht mehr als »wunderbar« (V. 13759), sondern sogar bezaubernd oder liebenswürdig. 

Und dann habe ich noch ein wenig über das »vil harte« nachgedacht (V. 13765). Ist gemeint, dass die beiden »tief und fest« um die Wette schliefen?

13720-13769

13720

daz was ir ein beswærde
und gar ein michel herzesêr.
waz touc hie lange rede mêr?
ez wart ir minneclîche erboten.
wiltpræt gebrâten und gesoten

13725

truoc man ir des mâles für.
mit willecliches herzen kür
wart si gehandelt schône
des nahtes von Schyrône.
Swaz wunne heizet unde spil,

13730

des treip er vor der guoten vil
und lie si gnuoc beschouwen des.
Patroclus unde Achilles
die muosten ir die stunde
mit handen und mit munde

13735

dâ kürzen und vertrîben.
ir und ir kamerwîben
wart dô vil gesungen,
geschirmet und gesprungen,
geharpfet und gelîret.

13740

daz niht ir sun gevîret
hete bî Schyrône,
daz wart bewæret schône
mit der behendekeite sîn.
er lie die werden künigîn

13745

und ir kamervrouwen
dô wunders vil beschouwen,
daz er gelernet hæte.
nû daz diu götîn stæte
der kurzewîle gnuoc gesach,

13750

dô leite sich an ir gemach
daz schœne wîp, daz hœre ich jehen.
vil gerne hæte si gesehen
und âne spot verhenget des,
daz sich ir sun Achilles

13755

slâfen hæte z' ir geleit,
wan si wolt in ir tougenheit
mit im gekôset gerne hân:
des wart ir state niht getân
von dem juncherren wunneclich.

13760

zuo sînem meister leite er sich
ûf einen flins hert unde breit,
der stach zen orten unde sneit
alsam ein scharpfez wâfen.
si wâren beide entslâfen

13765

vil harte schiere enwette.
pfülw unde linder bette
was Achilles niht gewent.
ein edel marteraz gedent
wart ê vil selten under in,



13720

Das bereitet ihr Kummer
und sogar großes Herzeleid.
Was nützt hier eine lange Rede?  
Es wurde ihr Gastfreundschaft erwiesen.
Gebratenes und gesottenes Wildbret
 
13725

trug man für das Mahl auf.
Mit sorgfältiger Herzlichkeit
wurde sie freundlich von Cheiron 
in dieser Nacht behandelt.
Was auch immer Freude heißt und bereiten soll,
 
13730

das zeigte er der guten Frau
und ließ sie es bestaunen.
Patroklos und Achilles
mussten ihr die Stunden mit 
Taten und Gesprächen

13735

kürzen und vertreiben.
Für sie und ihre Kammerfrauen
wurde viel gesungen und behütet, 
es wurde getanzt und
Harfe und Leier gespielt.

13740

Dass ihr Sohn 
bei Cheiron nicht müßig gewesen war, 
wurde auf schöne Weise durch 
seine Geschicklichkeit deutlich.
Er zeigte der edlen Königin
 
13745 

und ihren Kammerfrauen
viele wundersame Dinge,
die er gelernt hatte.
Nun, da die standhafte Göttin
genug Kurzweil erfahren hatte,
 
13750

legte die schöne Frau sich in ihr Gemach, 
wie mir versichert wurde.
Lieber jedoch hätte sie gesehen 
und ohne Spott veranlasst,
dass sich ihr Sohn Achilles 
 
13755 

zu ihr schlafen gelegt hätte,
denn sie hätte sich in aller Verschwiegenheit, 
gerne mit ihm besprochen.
Diese Gelegenheit ergab sich mit dem 
wunderbaren Jungen leider nicht.

13760 

Er legte sich zu seinem Meister
auf einen harten und breiten Stein.
Dieser hatte Spitzen und Kanten
als wäre er eine scharfe Klinge.
Bald schliefen sie 
 
13765

um die Wette.
Weichere und bequemere Betten
war Achilles nicht gewohnt.
Auf einer kostbare Matratze
lag er nur selten.

Montag, 9. November 2020

Kommentar

Bei Vers 13675 könnte man bei der Übersetzung von »geniezen« vielleicht etwas näher am mhd. Verständnis bleiben (z.B. »woran sie dort Freude hatte«); und drei Verse später könnte man überlegen, ob man das »endelîche« mitübersetzen kann (vielleicht: »Ihr könnt mir wirklich glauben«). Die Übersetzung »Augenstern« (V. 13680) finde ich sehr gelungen!

Die Beschreibung von Achill scheint – ganz klassisch – vom Kopf aus nach unten zu verlaufen (»auch war unterhalb davon seine Kleidung völlig von Blut befleckt«). Das Wort »dinsen« (V. 13690) ist eher selten und auch wenn im Lexer »gewaltsam ziehen« als erste Bedeutung angegeben wird, würde ich hier (weil es »ûf dem« und nicht »ûf den« heißt) eher »schleppen« übersetzen. Wie man das »verhouwen« (V. 13692) zu übersetzen hat, das ist mir unklar: Kennt sich jemand mit dem Umgang mit erlegten Tieren aus? Kann es sein, dass »zerlegen« gemeint ist? Gibt es dafür Fachbegriffe der Jägersprache? Ich kenne mit in diesem Bereich leider kaum aus...

Das mhd. Wort »suochen« (V. 13703) hat oft kriegerische, feindselige Konnotationen (vgl. »jmdn. heimsuchen«). Es geht also, glaube ich, nicht einfach nur um das Suchen, sondern um Angriffe oder vielleicht auch darum, dass Achill in Auseinandersetzungen verwickelt würde. Die übrigen Verse gefallen mir sehr gut – dazu habe ich keine Verbesserungsvorschläge!

13670-13719

13670

swaz man eht haben solte
von ûz erwelter spîse,
daz hiez der meister wîse
dâ sieden unde brâten.
sîn hol stuont wol berâten,

13675

des Thêtis von im dâ genôz.
nû der âbent zuo geflôz,
dô kam ir sun Achilles.
geloubent endelîche des,
daz in diu frouwe gerne sach.

13680

er was ir ougen ein gemach
und ir herzen wunnespil.
geloufen hete er alsô vil
nâch den tieren allen tac,
daz under sînen ougen lac

13685

stoup unde sweizes wunder.
ouch was sîn cleit dar under
mit bluote gar betroufet,
ûz sîner hût gesloufet
het er ein jungez löuwelîn,

13690

daz dans er ûf dem rücke sîn
und brâht ez bî den stunden.
verhouwen und beschunden
truoc ez der jungelinc derhein
und warf ez nider in den stein.

13695

Dâ von erschrac sîn muoter dô,
daz er beschunden unde rô
ze hûse ûf im den löuwen truoc.
daz gap ir herze vorhte gnuoc,
wan si gedâhte sâ zehant,

13700

erschülle in aller Kriechen lant,
daz der vil werde jungelinc
tet alsô vrevelîchiu dinc,
sô würde man in suochende;
dâ von wart si geruochende,

13705

daz er von dannen möhte komen.
ouch hete er schiere dô vernomen,
daz si was diu muoter sîn.
des wart von im diu künigîn
enpfangen wol mit gruoze.

13710

lieplichen unde suoze
hæte si den jungen
vil gerne z' ir betwungen.
dô trat er allez hinder sich,
al sîn gebâr was ûzerlich

13715

und wider si gar wilde.
nâch lieber kinde bilde
wolte er lützel arten.
er liez im wênic zarten
mit rede und mit gebærde.



13670

Was man auch an 
auserlesenen Speisen verlangte,
das ließ der weise Herr
kochen und braten lassen.
Seine Höhle konnte alles aufbringen,
 
13675

was Thetis sich wünschte.
Als nun der Abend kam,
kehrte Achilles zurück.
Ihr könnt mir glauben,
dass die Herrin ihn freudig sah.
 
13680

Er war ihr Augenstern
und die Freude ihres Herzens.
Er war den ganzen Tag so viel 
auf der Jagd nach Tieren gelaufen, 
dass sein Gesicht außerordentlich 

13685

verschwitzt und staubig war. 
Auch seine Kleidung
war blutbefleckt; 
er hatte einen 
jungen Löwen gehäutet, 

13690

den er auf seinem Rücken zog,
und brachte ihn zu dieser Zeit mit.
Verwundet und gehäutet
trug ihn der Jüngling hinein
und warf ihn in die Höhle.

13695

Davon erschrak seine Mutter,
dass er gehäutet und roh 
den Löwen auf ihm nach Hause trug.
Das bescherte ihrem Herzen große Furcht, 
denn sie dachte da sogleich Folgendes: 

13700

„Wenn in ganz Griechenland bekannt würde, 
dass der tapfere Jüngling 
solche unerschrockenen Dinge täte, 
so würde man ihn immerzu suchen.“; 
dadurch begehrte sie sogleich, 

13705

dass er mit ihr gehen sollte.
Auch erkannte er sofort,
dass sie seine Mutter war. 
Deshalb wurde die Königin von ihm 
mit freundlichem Gruß empfangen. 

13710

Sie hätte den Jungen 
gerne zärtlich und liebevoll 
umarmt, 
doch er trat zurück
und sein Verhalten war ungebührend 

13715

und ihr gegenüber sehr wild.
Er war so ganz und gar nicht 
wie liebe Kinder geartet. 
Er war wenig zärtlich
mit Worten und Verhalten.

Montag, 2. November 2020

Kommentar

Warum wird eigentlich in V. 13622 zwischen »lîp« und »herze« unterschieden? Doppelformeln gibt es Konrad von Würzburg ja wie Sand am Meer (und ich bin mir bis heute unsicher, ob man die Doppelformeln als Doppelformeln übersetzen sollte) – aber ist hier mit den beiden Worten das gleiche gemeint oder handelt es sich um eine wichtige Differenz? Im Lexer steht im Eintrag zu »herze«: »herz als sitz der seele, des gemütes, mutes, verstandes, der vernunft, überlegung allgem.« Sollte man vielleicht so etwas übersetzen wie: »Niemand wird ihn verletzen können, nicht seinen Körper, nicht seinen Geist.«?

Ich bin dann über ein langes Stück hinweg sehr einverstanden; einzig bei »rîlich« (V. 13639) würde ich eher zu »herrlich« oder »kostbar« greifen und nicht zu »reichlich«. Und das »aber« (V. 13653) würde ich in der Übertragung nicht auslassen wollen. 

Beim »nider legen« (V. 13657) bin ich mir nicht so ganz sicher, was genau gemeint ist. Ist das wieder eine Doppelformel? Dann wäre einfach nur gemeint, dass das Gespräch beendet wird. Oder ist dasjenige gemeint, was die beiden vorgetragen hatten? Dann vielleicht: »Damit beendeten sie das Gespräch, das sie geführt hatten.«

V. 13660 verstehe ich etwas anders: Ich glaube, dass mit »wilde« »Wild(tiere)« gemeint sind, d.h., Cheiron lässt ein Mahl auftischen, bestehend aus zahlreichem Wild. Das würde ja auch ganz gut zum Vorherigen (Achill räumt den Wald leer) und zum Folgenden (die Klause grenzt an Wald und Meer) passen.

13620-13669

13620

ich hân den list befunden,
der touc für strîtes smerzen.
an lîbe noch an herzen
mac nieman in versêren,
wil er von hinnen kêren

13625

und volgen mînem râte.
dâ von sô lâz in drâte
mit mir strîchen unde varn.
ich sol sîn edel verch bewarn
vor slegen und vor stichen.

13630

schôn unde listeclichen
hân ich funden im ein bat.
ein brunne stêt an einer stat,
zuo dem ich in nû füeren sol.
ich weiz ân allen zwîvel wol,

13635

ob er dar inne wirt gebadet,
daz im kein wâfen denne schadet.
Schyron der rede antwürte bôt.
frouwe, sprach er, im ist nôt
rîlicher arzenîe.

13640

swaz in an wunden vrîe,
daz öugent an im alzehant,
sît daz sîn herze sî gewant
ze nihte wan ze strîte.
daz er bî dirre zîte

13645

mit iuch von hinnen kêre,
daz râte ich unde lêre,
wan ez ist wol der wille mîn.
doch lânt in niht ze lange sîn
ûz mîner meisterschefte,

13650

swenn er an sîner krefte
hât von listen zuo genomen,
sô heizent in her wider komen,
daz ich in aber müeze sehen.
vil sælic friunt, daz sol geschehen,

13655

sprach wider in diu künigîn.
sus liezen si die rede sîn,
die si dô nider leiten.
Schyron der hiez bereiten
des mâles ein unbilde

13660

von manger hande wilde,
dar ûz ein wirtschaft werden mac.
der walt bî sînem steine lac
und stiez an sîne clûse,
dô stuont vor sînem hûse

13665

daz mer gar michel unde grôz,
die beide er alsô vaste nôz,
daz er von ir geræte
vleisch unde vische hæte,
swie rehte dicke er wolte.



13620

Ich kenne einen Zauber,
der vor Kampfes-Schmerzen schützt.
Niemand wird ihn verletzen können, 
weder den Körper noch das Herz,
wenn er von hier weggeht
 
13625

und meinen Rat befolgt.
Also lass ihn zeitig
mit mir fortgehen.
Ich werde seinen herrlichen Leib 
vor Schlägen und Stichen bewahren.
 
13630

Mit Sorgfalt und Umsicht 
habe ich für ihn einen Badeplatz gefunden.
Es gibt eine Stelle mit einem Brunnen.
Dorthin werde ich ihn führen.
Ich weiß ohne jeden Zweifel,
 
13635

dass ihm keine Waffe mehr schaden kann,
wenn er dort ein Bad nimmt.“
Cheiron antwortete ihr:
„Edle Dame, er braucht wahrlich
reichliche Arzneien.
 
13640

Was auch immer ihn frei von Wunden macht, 
das zeigt an ihm sogleich, 
denn sein Herz ist 
zu nichts als Kampf aufgelegt. 
Dass er sogleich
 
13645

mit euch fortgeht,
das will ich euch raten und lehren
und es ist auch mein Wille.
Doch lasst ihn nicht zu lange
meiner Ausbildung fernbleiben,
 
13650

wenn er durch Zauber noch
mehr Kräfte erlangt hat,
so befehlt ihm zurückzukehren,
damit ich ihn sehen kann.“. 
„Seliger Freund, so soll es geschehen“,

13655

sprach die Königin.
So beendeten sie ihr Gespräch
und legten es nieder.
Cheiron ließ 
nun ein unvorstellbares Mahl 

13660

durch viele wunderbare Hände zubereiten,
woraus ein Gastmahl wurde. 
Der Wald grenzte direkt an seine Höhle 
und seine Zuflucht, 
und vor seinem Haus
 
13665

lag das große weite Meer.
Beide, Wald und Meer, machte er sich so sehr zu nutze,
dass er von ihren Vorräten
Fleisch und Fisch hatte,
soviel er wollte.

Freitag, 30. Oktober 2020

Kommentar

Der Achill, der kann was! Rauben, brandstiften – Ochsen und Ziegen vertreiben (bei der Übersetzung von »trîbet« in V. 13573 vielleicht im Präsens bleiben?); was soll das werden, wenn er erst erwachsen (so vielleicht konkreter V. 13575 »zuo sînen jâren«) ist? Greifen, Löwen und Bären wagen es nicht, sich ihm entgegenzustellen (V. 13578 »erbîten« laut neuem Mittelhochdeutschem Wörterbuch »militär. ›jmdm. standhalten, sich jmdm. entgegenstellen‹«). Achills Begehren (V. 13580 »ger«) ist auf Kämpfe gerichtet und er verfügt über kraftstrotzende Tapferkeit (V. 13585 »maht« lässt sich oft gut mit »Kraft« o.ä. übersetzen). Dem Wald hat er das Wild geraubt (V. 13588 »verhern« kann auch »berauben« meinen). Der Achill, der kann was!

Klar, dass diese Erzählung (oder: »Neuigkeit«?) – »daz mære« (V. 13590) – seiner Mutter schwer auf dem dem Herzen lastet. Klar auch, dass sie ihn vor jeder(lei) (so hier vielleicht für »aller hande«, V. 13619) Wunde(n) beschützen möchte.

Tolle Textpassage! 

13570-13619

13570

er üebet rouben unde brant
in ir lande creize.
ir ohsen und ir geize
die trîbet er aleine dan.
er wirt ein wunder z'eime man,

13575

sol er zuo sînen jâren komen.
er hât die kraft an sich genomen,
daz er mit tracken strîtet,
kein grîfe sîn erbîtet,
noch kein löuwe, noch kein ber,

13580

sîn herze und alle sîne ger
hât er ûf kampf gerihtet.
daz er sô gerne vihtet,
daz ist mir ein vil swærez dinc.
er ist ein schœner jungelinc

13585

und hât gar ellentrîche maht.
daz ir gesehent wol ê naht,
swenne er ûz dem walde vert
und in an wilde hât verhert.
Diu frouwe von der rede erschrac.

13590

ze herzen ir daz mære lac,
daz ir sun sô gerne streit,
wan si vorhte, ob ez geseit
den Kriechen würde bî der zît,
daz er mit in an den strît

13595

ze Troye kêren müeste.
des wolte in ûz der wüeste
mit kündeclichen sinnen
sîn muoter dô gewinnen
und in verbergen eteswâ.

13600

zuo Schyrône sprach si dâ
gezogenlichen alzehant:
sît daz Achilles hât gewant
ze strîte sîn gemüete gar,
sô wil ich mit im eteswar

13605

nû strîchen unde kêren,
dur daz ich im gemêren
sîn heil und sîne wünne
mit arzenîe künne,
diu für alle wunden tüge.

13610

daz ieman in versnîden müge
von dem houpte unz an den fuoz,
weizgot, daz wil ich unde muoz
mit künsten noch erwerben.
solt er an strîte sterben,

13615

sô müeste ich iemer leidic sîn,
und ist ez mit dem willen dîn,
daz er mit mir hinnen vert,
sô wirt sîn junger lîp genert
vor aller hande wunden.



13570 

Er übt sich in ihrem Land im 
Rauben und Brandstiften.
Er hat ihre Ochsen und Ziegen
alleine vertrieben.
Er wird ein Wunder von einem Mann werden,

13575

wenn er älter wird.
Er hat so viel Kraft,
dass er mit Drachen kämpft
und weder Adler, Löwen oder Bären
ihn ruhig erwarten; 
 
13580

sein Herz und seine Sinne
sind vollständig auf den Kampf ausgerichtet.
Dass er so gerne kämpft,
ist für mich eine belastende Tatsache. 
Er ist ein schöner Jüngling
 
13585

und hat weitreichende Macht.
Ihr werdet es vor der Nacht sehen:
in der Dämmerung kommt er aus dem Wald zurück,
dessen Wild er besiegt hat.“.
Die Dame erschrak von diesen Worten.
 
13590

Ihr lag schwer auf dem Herzen,
dass ihr Sohn so gerne kämpfte,
denn sie befürchtete, wenn es 
den Griechen beizeiten berichtet würde, 
dass er mit ihnen in die Schlacht

13595

vor Troja ziehen müsste.
Deshalb wollte ihn seine Mutter 
auf kluge Weise aus der Einöde 
wegschaffen 
und ihn anderswo verbergen. 

13600

Zu Cheiron sprach sie 
sogleich höflich:
„Da Achilles alle seine Sinne
auf den Kampf gerichtet hat,
werde ich mich mit ihm irgendwo
 
13605

zurückziehen und verbergen,
damit ich ihm 
Gesundheit und Freude 
mit einer Arznei stärke,
die jede Wunde heilt.
 
13610

Dass ihn jemand verletzen könnte,
vom Kopf bis zu den Füßen, 
das werde und muss ich mit meinen Künsten, 
weiß Gott, verhindern.
Wenn er im Kampf stirbt,

13615

so müsste ich ewig leiden,
und wenn du mir zustimmst,
dass er mit mir fortgeht,
so wird sein junger Körper 
vor allerhand Wunden geschützt werden. 

Mittwoch, 28. Oktober 2020

Kommentar

Man könnte überlegen, ob man »gelücke« (V. 13524) mit »Schicksal« übersetzt – aber das muss nicht unbedingt sein. »Bewîse dû mich« (V. 13526) mit »schwöre mir« zu übersetzen, ist mutig und nicht wirklich falsch; ich würde aber zum allgemeineren »zeige mir« oder »beweise mir« raten, denn »bewîsen« hat, glaube ich, sehr viel mit aufzeigen, vorzeigen, herzeigen zu tun. Das »gedon« in V. 13529 meint wohl »Anstrengung«, »Mühe« und man könnte überlegen, wie das noch in die Übersetzung passen könnte.

Dann bin ich ein längeres Stück sehr einverstanden und die Übersetzung liest sich flüssig weg. Das »balde« in V. 13547 sollte man vielleicht nicht weglassen (es meint »mutig«, »kühn« – man vgl. das englische »bold«). 

Die Übersetzung »Er fügt ihnen Leid zu, denn er quält sie heftig.« (V. 13550f.) klingt für heutige Ohren fast ein bisschen nach Tierquälerei. Wie wäre: »Er sorgt bei ihnen für große Verluste, weil er sie mit großer Kraft überwältigt.« – Und das »ûzermâze« zwei Verse danach könnte man vielleicht etwas kräftiger übersetzen (»über alle Maßen« o.ä.). 

Das »gesezzen« in V. 13555 könnte möglicherweise tatsächlich gut und sinnvoll mit »lagern« übersetzt sein; allerdings könnte man sich dann fragen, ob die Zentauren einen festen Wohnsitz haben oder umherziehen. Ich hätte spontan eher übersetzt, dass die Zentauren in der Nähe »leben«. 

Mit dem Rest bin ich im Prinzip ganz einverstanden; nur wenn man es ganz genau nimmt, müsste man das Verallgemeinerungspräfix bei »swenne« (V. 13565) übersetzen (»wann immer er will«). 

13520-13569

13520

dô wart ir herze vröudelôs,
wan si gedâhte in hân verlorn.
diu frouwe schœne und ûz erkorn
mit leide sprach Schyrône zuo:
daz dich Gelücke sælic tuo!

13525

war ist mîn sun Achilles?
durch got bewîse dû mich des,
ob er noch iender lebende sî.
daz er niht wont dem hûse bî,
daz tuot mir trûren vil gedon.

13530

niht sorgent, sprach dô Schyron,
umb Achillen, frouwe guot.
sint vrœlich unde wolgemuot,
er wirt uns komende balde
ze hûse von dem walde,

13535

dar în ist er geloufen jagen.
er sol uns bringen unde tragen
vil tiere ûz dem gevilde.
er ist ein knabe sô wilde,
daz man vernam daz wunder nie.

13540

swenne ich wæne, daz er hie
bî mir in dem steine sî,
sô wont er dem gewilde bî
und würket vrevelîchiu werc.
er stîget manigen hôhen berc

13545

geswinder denne ein steinboc.
über stein und über stoc
siht man in balde klimmen.
diu starken und diu grimmen
tier bestât er mit gewalt.

13550

er tuot in schaden manicvalt,
wan er si vaste pînet.
daz er sô vrevel schînet,
daz ist mir ûzermâze leit.
sô gerne ein knabe nie gestreit,

13555

alsam er tuot noch hiute.
vrech unde starke liute
sint uns gesezzen nâhe bî,
die sint genant Zentaurî,
den wüestet er heid unde mos.

13560

die selben sint man unde ros
und sint an sterke mir gelîch.
doch sint si nie sô krefte rîch,
noch sô frevel, noch sô balt,
Achilles der entuo gewalt

13565

in allen, swenne er welle.
si clagent ungevelle
dicke und ofte mir von im.
vil grôzen schaden ich vernim,
der in geschehe von sîner hant.



13520

wurde ihr Herz freudelos,
denn sie dachte ihn verloren zu haben. 
Die schöne und auserwählte Dame
sprach bedrückt zu Cheiron:
„Möge dir das Glück hold sein!
  
13525

Wo ist mein Sohn Achilles?
Schwöre mir vor Gott,
dass er noch unter den Lebenden weilt.
Dass er nicht Zuhause ist,
das macht mich sehr traurig.“
 
13530

Cheiron sprach: „Sorge dich nicht 
um Achilles, gute Dame.
Seid froh und wohlgemut,
er wird bald aus dem Wald 
nach Hause kommen,

13535

wo er zum Jagen hingelaufen ist.
Er wird uns von dort 
viele Tiere bringen.
Er ist ein so ungezähmter Junge,
wie man es noch nie vernommen hat.
 
13540

Wenn ich glaube, dass er hier 
bei mir in der Höhle ist,
so ist er in der Wildnis und vollbringt
manche übermütige Tat.
Er klettert auf so manchen hohen Berg
 
13545

schneller als ein Steinbock.
Man sieht ihn über Stock 
und Stein klettern.
Die starken und gefährlichen Tiere
erliegen seiner Kraft.
 
13550

Er fügt ihnen Leid zu,  
denn er quält sie heftig.
Dass er so verwegen ist,
das betrübt mich sehr.
Nie kämpfte ein Junge lieber,
 
13555

wie er es heute noch tut.
Mutige und starke Männer,
man nennt sie Zentauren,
lagern in unserer Nähe,
denen verwüstet er Heide und Moos.
 
13560

Sie sind zugleich Mann und Pferd
und sie gleichen mir an Stärke,
doch sind sie weder so reich an Kräften
noch so mutig und kühn, 
dass Achill ihnen allen nicht Gewalt antut,
 
13565

wenn er will.
Sie klagen mir oft ihr Unglück,
das ihnen von ihm widerfährt.
Ich habe von großem Schaden gehört, 
der ihnen von seiner Hand geschehen ist.

Montag, 26. Oktober 2020

Kommentar

Die ersten fünf Verse finde ich prima, V. 13475f. verstehe ich dann allerdings anders: Dass Thetis »die rede treip dô wider sich«, das meint wohl, dass sie »diese Worte zu sich selbst sagte«. Man müsste allerdings die Übersetzung gar nicht groß verändern, denn statt dass die Gedanken sie »antrieben« könnte man vielleicht sagen, dass diese Gedanken sie »umtrieben«. 

Dann bin ich wieder ein längeres Stück sehr einverstanden – nur das »gebieten« von Anstand und Ehre (V. 13493) finde ich nicht ganz überzeugend übersetzt. Wie wäre: »Er führte sie hinein und erwies ihr Anstand und Ehre«? Sollte das nicht gut klingen, könnte man überlegen, die beiden Verse freier zu formulieren.

Dann lesen sich rund fünfzehn Verse sehr flüssig, bevor ich über V. 13510f. stolpere. Dort heißt es »des wurden si vil schiere von ir snellekeit gewis.« Ich vermute, dass sich das Pronomen »si« auf die Tiere bezieht, von denen unmittelbar zuvor die Rede ist (und diese Tiere sind ja die Zinzzahlung des Waldes). »ir snellekeit« dürfte sich auf Achill und Patroklos beziehen. Wie wäre: »Dies wurde ihnen (den Tieren) durch deren Geschicklichkeit schnell klar gemacht«? 

13470-13519

13470

den Kriechen ab den ougen,
die sîner helfe wellent gern.
si müezent sîn vor Troye enbern,
sît daz mir ist von im geseit,
daz er dâ werde tôt geleit.

13475

Die rede treip dô wider sich
Thêtis diu frouwe minneclich
und wart alsus ze râte,
daz si dâ wolte drâte
nâch ir sune Achillen varn.

13480

sîn leben dâhte si bewarn
und sînen wunneclichen lîp.
daz werde hôchgeborne wîp
wolte sînes schaden beviln;
des fuor si dan mit ir gespiln

13485

nâch dem juncherren alzehant.
Thessâliam daz wilde lant
begunde si dô schouwen
und kam mit ir juncfrouwen
gestrichen für Schyrônes hol,

13490

der minneclichen unde wol
enpfienc dar vor die künigîn.
er fuorte si mit im dar în
und bôt ir zuht und êre,
wan er sich vröute sêre

13495

von ir clâren angesiht.
Achilles was dâ heime niht,
dô sîn muoter kam alsus.
er und sîn friunt Patroclus,
der sîn trûtgeselle was,

13500

ze walde wâren, als ich las,
geloufen bî den stunden.
swaz si dâ wildes funden,
daz wart gevellet von in zwein.
ze nâht sô brâhten si dâ hein,

13505

swaz si des tages viengen.
si clummen unde giengen
über mangen hôhen vlins.
der walt der muoste in geben zins,
von manger hande tiere:

13510

des wurden si vil schiere
von ir snellekeit gewis.
und dô diu frouwe Thêtis
in Schyrôneshol gesaz,
mit ir ougen si dô maz

13515

die clûsen und den stein iesâ.
si nam des war, ob iender dâ
ir sun Achilles wære.
nû daz diu wunnebære
des juncherren dô niht kôs,



13470

und vor den Augen der Griechen verborgen halten, 
die seine Hilfe gerne bekämen.
Sie müssen auf ihn vor Troja verzichten,
da mir über ihn gesagt wurde,
dass er dort den Tod finden wird.“. 
 
13475

Diese Gedanken trieben
die edle Herrin Thetis an
und sie fasste den Entschluss, 
schnell zu ihrem 
Sohn Achilles zu fahren. 

13480

Sie dachte nur daran, sein Leben und 
seinen liebreizenden Körper zu bewahren.
Die edle, hochgeborene Frau
wollte seinen Schaden abwenden,
deshalb fuhr sie mit ihren Hofdamen
 
13485

sofort zu ihrem Jungen.
Sie konnte bald das wilde Land
Thessalien erblicken
und kam mit ihren Edelfrauen
bald zu der Höhle von Cheiron,
 
13490

der die Königin davor
freundlich und höflich empfing.
Er führte sie hinein
und gebot ihr Anstand und Ehre,
da er sich sehr 

13495

an ihrem schönen Anblick erfreute. 
Achilles war nicht zuhause,
als seine Mutter ankam.
Er und sein Freund Patroklos,
der sein bester Freund war,
 
13500

waren zu dieser Zeit im Wald,
wie ich gelesen hab.
Alles Wild, das sie dort aufspürten,
wurde von den Beiden erlegt.
Am Abend brachten sie nach Hause,
 
13505

was sie tagsüber gefangen hatten.
Sie erklommen und überwanden
so manchen hohen Felsen.
Der Wald musste ihnen manchen Zins
an wilden Tieren zahlen.
 
13510

Dies geschah aufgrund ihrer Geschicklichkeit
in kurzer Zeit. 
Als Thetis deweil
in der Cheironhöhle saß, 
ließ sie ihren Blick sogleich über die
 
13515

Klause und den Stein schweifen.
Sie wollte wissen, ob irgendwo 
ihr Sohn Achilles wäre.
Da die Holde
ihren Jungen dort nicht fand,

Donnerstag, 22. Oktober 2020

Kommentar

Das wird ein Kommentar zum Thema »Kleinigkeiten«:

Ich denke, dass »wider machen« (V. 13421) »wiederherstellen« oder »wiederaufbauen« meint; Thetis spricht also darüber, dass man »das Wunder vollbringe, es nun also wiederaufzubauen«. Beim Folgevers würde ich eher die Phrase »nur zu gut wissen« erwarten, also: »Ich weiß nur zu gut«.

Beim Vers 13425 würde ich empfehlen, das »alsô gar« mit zu übersetzen, denn Troja wurde offenbar nicht nur zerstört, sondern »derart komplett« zerstört. Auch das »vil lîhte« in V. 13432 könnte man vielleicht (und das ist ja gerade das heute Wort, das aus »vil lîhte« wird) übersetzen. Bei »vor dem tôde sparn« (V. 13439) könnte man mit »ihm dem Tod ersparen« recht nahe am Mittelhochdeutschen bleiben. 

Den »schaden« (V. 13445) würde ich eher als »Verderben« übersetzen; oder man versucht, umzuformulieren (»Seit ich … davor gewarnt wurde, dass er zu Schaden kommen würde…«). Das »tougen« in V. 13450 würde ich ebenfalls übersetzen (»und ihn heimlich…«), weil das inhaltlich wichtig sein dürfte. 

Mit dem Rest bin ich dann voll und ganz einverstanden – und die vielen Kleinigkeiten täuschen jetzt ein bisschen darüber hinweg, dass die Übersetzung im Großen und Ganzen sehr gelungen ist. 

13420-13469

13420

und man daz wunder briuwet
und man si wider mache alsus,
sô weiz ich wol, daz Prîamus
lât niemer ungerochen,
daz im diu stat zerbrochen

13425

wart von den Kriechen alsô gar.
hier an sô wirde ich wol gewar,
daz sich ein grôz urliuge hept.
swie man die stat alumbe grept
und si gemûret werden mac,

13430

daz wirt den Kriechen noch ein slac
und muoz mîn sun Achilles
engelten ouch vil lîhte des,
daz Troiæren ist geschehen.
urliuges muoz man sich versehen

13435

nû leider alze lange zît:
ûf einen grimmen herten strît
geziuhet sich diz biuwen,
dâ von wil ich entriuwen
Achillen vor dem tôde sparn.

13440

ich sol behüeten und bewarn,
daz er niht kom ze strîte
vür Troye in sîner zîte
und er dâ werde niht erslagen.
sît daz ich von dem wîssagen

13445

des schaden sîn gewarnet bin,
dur waz solt ich in denne hin
lân komen zuo der veste?
mir ist daz allerbeste,
daz ich nâch im kêr unde var

13450

und ich in tougen eteswar
tuo den liuten ab dem wege.
ich nim in ûz Schyrônes pflege
und füere in ûz der wilde.
sîn wunneclichez bilde

13455

daz wil ich von dem lande steln
und allen Kriechen vor verheln,
wâ der hôchgeborne sî.
si müezent sîn hie werden vrî,
wan ich verbirge in wol vor in.

13460

ê daz er disen ungewin
von Troiæren kiese,
daz er den lîp verliese,
ê tuon ich in gar under
und flœhe in dar besunder,

13465
dâ nieman sîn wirt innen.
ich wil nâch im von hinnen
kêren in Thessâliam.
von sînem meister lobesam
sol ich in füeren tougen



13420

und man das Wunder hervorbringt 
und sie wieder befestigt.
Ich weiß wohl zu gut, 
dass Priamos nie ungestraft lassen wird,
dass seine Stadt von den Griechen
 
13425

zerstört wurde. 
Nun wird mir also gewahr,
dass sich ein großes Unglück anbahnt.
So wie man die Stadt mit einem Graben umgibt 
und die Mauern errichtet,
 
13430

das wird den Griechen noch ein Verderben und 
mein Sohn Achilles muss
mit viel Leid dafür bezahlen,
was den Trojanern geschehen ist.
Nun muss man sich für lange Zeit
 
13435

auf eine Fehde vorbereiten.
Dieses Bauen läuft auf einen 
heftigen Kampf hinaus.
Deshalb will ich Achilles wahrhaftig 
von dem Tode zurückhalten. 

13440

Ich muss behüten und dafür Sorge tragen,
dass er zu seiner Lebzeit vor Troja nicht 
in einem Kampf gerät
und er dort nicht erschlagen wird.
Seit ich von dem Weissager
 
13445

vor seinem Verlust gewarnt wurde:
Weshalb sollte ich ihn zu dieser Festung
hingehen lassen?
Mir scheint es das Beste zu sein,
dass ich zu ihm gehe und mich um ihn kümmere
 
13450

und ihn woanders von Menschen fernab 
der Wege erziehen lasse.
Ich löse ihn aus Cheirons Obhut
und führe ihn aus der Wildnis.
Seine herrliche Gestalt werde 

13455

ich dem Land stehlen 
und allen Griechen verheimlichen,
wo dieser Hochgeborene sei.
Sie müssen ihn hier entbehren, 
denn ich werde ihn gut vor ihnen verbergen. 

13460

Bevor er Schaden von 
den Trojanern erfährt, 
so dass er sein Leben verliert,
würde ich ihn eher verstecken
und mit ihm alleine dorthin fliehen,
 
13465

wo ihn niemand kennt.  
Ich werde zu ihm 
nach Thessalien gehen.
Von seinem geschätzten Lehrer 
muss ich ihn heimlich wegführen

Montag, 19. Oktober 2020

Kommentar

Der Beginn ist tricky: »manger hande« (V. 13371) würde ich mit »viel« oder »vielerlei« übersetzen. »manger hande arebeit« zum Beispiel würde dann »viel(erlei) Mühe« heißen. Die hier zu diskutierende Stelle hieße dann etwa: »Er begann, die Stadt mit viel Aufwand (oder vielleicht: großem Engagement) wieder aufzubauen«. Nun ist es aber so, dass der Aufwand hier wohl tatsächlich darin besteht, dass viele Leute mit anpacken – so dass die Übersetzung dann doch auch wieder nicht falsch ist... 

Das »buwe« (V. 13374) mit »Baukunst« zu übersetzen, das gefällt mir gut! Wiederum etwas schwierig ist die Passage ab V. 13380. Warum setzt die Erzählinstanz hier mit einer expliziten Moderation ein (»als ich iu noch entsliezen wil«)? Und wie genau geht man mit den Enjambements in den folgenden beiden Versen um? Mein Vorschlag wäre folgender: »Auf diese Weise ließ er die Stadt Troja errichten, / so gut, dass er von nun an stets Vertrauen hatte, / in ihre schützende Macht – / ich werde euch noch genauer davon erzählen.« – Ich gebe zu, das ist eine größere Umstellung....

Mit dem Folgenden bin ich dann ein längeres Stück sehr einverstanden, einzig bei drei einzelnen Begriffen bin ich ins Grübeln gekommen: Bei »vestikeit« (V. 13391) könnte man überlegen, ob man »Wehrhaftigkeit« übersetzt; »wunnevar« (V. 13394) ließe sich vielleicht etwas präziser mit »angenehm« oder »ansehnlich« übersetzen; und »gewalt« (V. 13407) würde ich an dieser Stelle eher mit »Macht« übersetzen. 

Wieder ein bisschen tricky ist das »aber« in V. 13401. Ich denke, dass es hier »abermals«, »wiederum« o.ä. meint. In Griechenland erinnert man sich also wieder an die Fehde. Das ›Problem‹ taucht in V. 13415 wieder auf: Thetis ›schloss‹ Trauer und Leid »aber in ir herze«, also »erneut in ihr Herz«. Arme Thetis...

13370-13419

13370

die stat begunde er bûwen wider
mit kreften manger hande.
wercliute von dem lande
gewan er ûzer mâze vil.
swaz man ze bûwe haben wil

13375

von künsterîcher meisterschaft,
des alles wart ein übercraft
von Prîamô besendet.
sîn bû der wart vollendet
und kam mit êren ûf ein zil.

13380

als ich iu noch entsliezen wil,
sus wart er Troye biuwende
sô wol, daz er getriuwende
was ir kreften iemer.
er wânde, daz si niemer

13385

zerstœret solte werden mê.
si wart nû vester vil denn ê,
des ich iu wol her nâch vergihe,
swenn ich die zît spür unde sihe,
daz ich billichen unde wol

13390

von ir gezierde sagen sol
und von ir starken vestikeit.
Prîant der künic wart bereit
dar ûf mit hôhem vlîze gar,
daz er schœn unde wunnevar

13395

die stat begunde machen
und si mit rîchen sachen
gewieren mohte bî den tagen.
diz hôrte man ze Kriechen sagen,
wan daz mære vlouc dâ hin:

13400

des wart vil manges herzen sin
urliuges aber dô gewis.
und dô diu vrouwe Thêtis
gar endelichen daz ervant,
daz sich der künic Prîant

13405

ze Troye het gelâzen nider
und er si wolte bûwen wider
mit kreften unde mit gewalt,
dô wart ir angest manicvalt
umbe ir sun Achillesen.

13410

si dâhte, daz er niht genesen
möhte langer bî den tagen.
daz er ze Troye würde erslagen,
daz hete man ir vor geseit:
dâ von si trûren unde leit

13415

slôz aber in ir herze dô.
si dâhte wider sich alsô:
nû muoz mîn sun verderben,
sît man beginnet werben,
daz Troye werde erniuwet.



13370

Er begann, die Stadt mit der Kraft 
vieler Hände wieder aufzubauen.
Er gewann aus dem ganzen Land 
sehr viele Bauleute.
Was man sich zur Baukunst 

13375

von kenntnisreicher Fähigkeit wünschen kann,
das alles wurde im Übermaß 
von Priamos  herbeigeholt. 
Der Bau wurde vollendet 
und gelangte ehrenvoll zum Ziel.
 
13380

Wie ich euch noch enthüllen möchte,
so wurde er Troja bauend 
so gewiss, dass er immerzu 
ihre beständige Kraft war. 
Er wähnte, dass sie nie mehr
 
13385

zerstört werden sollte.
Sie war nun fester denn je erbaut.
Davon werde ich euch später berichten, 
wenn ich die Zeit verspüre und sehe,
dass ich auf angemessene Weise und gut 

13390

von ihrer Zierde und Befestigung 
erzählen soll. 
Priamos, der König, war
mit großem Fleiß darauf bedacht,
die Stadt schön und 

13395

wunderbar zu machen
und sie mit Reichtum 
zu schmücken.
Das hörte man bis nach Griechenland, 
denn die Kunde flog dort hin.

13400

Davon wurden viele Herzen 
der Fehde gewahr.
Als Thetis, die Herrin, 
schließlich davon erfuhr,
dass sich König Priamos
 
13405

in Troja niedergelassen hatte
und die Stadt mit aller Kraft und Gewalt
aufbauen wollte ,
da bekam sie große Angst
um ihren Sohn Achilles.
 
13410

Sie dachte, dass er nicht mehr
lange am Leben bleiben würde.
Dass er vor Troja erschlagen würde,
das hatte man ihr vorausgesagt:
Dadurch empfand sie Trauer und Leid, 

13415

das sie jedoch in ihrem Herzen verschloss. 
Sie dachte bei sich:
„Nun muss mein Sohn zugrunde gehen,
da man damit begonnen hat,
Troja zu erneuern, 

Mittwoch, 14. Oktober 2020

Kommentar

Bei »dar zuo gedenkent« (V. 13320) würde ich vorschlagen, sich in der Übersetzung etwas weiter vom Mittelhochdeutschen zu entfernen: »Überlegt euch außerdem« oder »Macht euch Gedanken darüber«. Auch für das »füege« im Folgevers bräuchten wir, glaube ich, eine üblichere Formulierung (z.B. »wenn es sich ergibt«, »wenn es dazu kommt«). Beim »ze« in V. 13323 würde ich allerdings nahe am Mittelhochdeutschen bleiben wollen: »trauert nicht zu sehr« (ein bisschen Trauer ist schon okay, scheint mir). 

Das Wort »state« (V. 13328) musste ich in den Wörterbüchern nachschlagen. Es scheint etwas gemeint zu sein wie »Ressourcen«, »Mittel«, »Fähigkeiten«. Insofern trifft »Stärke« die Sache vielleicht ganz gut.

Der Bereich um V. 13335 gefällt mir sehr gut – nur in V. 13339 muss die Übersetzung ein wenig anders lauten, glaube ich: »wenn man meine Vorschläge berücksichtig« (wörtlich: »falls man auf meine Lehre/Vorschläge schaut«). 

In V. 13343 würde ich »wenden« übersetzen, statt »kehren« (denn das würde man im Gegenwartsdeutsch so nicht sagen, denke ich). Beim Rest bin ich größtenteils sehr einverstanden. Das »ân alle trüge« (V. 13356) ist nicht leicht zu übersetzen; vielleicht könnte man einfach etwas schreiben wie »Ihr könnt mir uneingeschränkt glauben«. In V. 13363 sollte man vielleicht den Konjunktiv verwenden. Aber das sind jetzt nur Kleinigkeiten.

13320-13369

13320

dar zuo gedenkent, wie wir daz
gerechen, swenne ez füege sich.
herr unde vater lobelich,
niht trûrent nû ze sêre
und volgent mîner lêre,

13325

sô wirt iu vröude noch erkant.
geruochent senden in diu lant
nâch liuten und nâch ritterschaft.
al iuwer state und iuwer kraft,
die legent hie ze Troye nider

13330

und biuwent iuwer veste wider
und iuwer küniclichen stat.
waz ob ir noch gelückes rat
beginnent umbe trîben!
wir sülen hie belîben,

13335

biz Troye wirt gesterket,
swaz liute uns ane merket,
daz uns die fürhten iemer mê.
si wirt nû vester vil denn ê,
swie man an mîne lêre siht.

13340

und alzehant sô daz geschiht,
daz wir mit mûren und mit graben
die stat vil wol versichert haben,
sô kêrent dar ûf unser kraft,
daz wir die Kriechen schadehaft

13345

gemachen ûf der erden
und wir gerochen werden
an ir lîben mit gewalt.
den grimmen schaden manicvalt,
den wir von in genomen hân,

13350

der wirt mit râche widertân,
ist, daz wir Troye alsô bewarn,
daz wir dar ûz ân angest varn
und wir des sicher mügen sîn,
daz nieman hinder uns dar în

13355

gevallen und gebrechen müge.
geloubent, herre, ân alle trüge,
daz wir gerechen unser leit.
dâ von sint vrœlich und gemeit
und lâzent iuwer ungehabe

13360

und iuwer hôhes trûren abe!
Der rât geviel in allen wol.
si jâhen, daz er witze vol
und rîcher tugent wære.
der künic sîner swære

13365

begunde mâzen sich zehant.
er hiez dô senden in diu lant
nâch liuten und nâch ritterschaft.
mit rîcher und mit hôher kraft
leite er sich ze Troye nider.



13320

Denkt daran, wie wir das rächen,
wenn es sich fügt.
Löblicher Herr und Vater,
trauert nicht so sehr
und hört meine Worte, 
 
13325

so werdet Ihr wieder Freude finden.
Macht Euch bereit, im ganzen Land 
nach Leuten und nach Ritterschaft auszusenden.
Bündelt eure ganze Stärke und 
Kraft hier in Troja 

13330

und baut eure Festung und
eure königliche Stadt wieder auf .
Vielleicht könnt Ihr das Rad des Glückes 
wieder in Bewegung setzen! 
Wir sollten hierbleiben,

13335

bis Troja wieder erstarkt ist,
damit uns all diejenigen Leute, die uns angrenzen,
von neuem fürchten.
Die Festung wird gewaltiger als früher werden, 
wie man an meiner Lehre sieht.
 
13340

Und wenn das geschieht,
dass wir die Stadt mit Mauern und 
Gräben geschützt haben, 
so kehren wir unsere Kraft darauf,
dass wir den Griechen

13345

auf der Erde Schaden zufügen
und wir uns an ihrem Leben 
mit Gewalt rächen werden.
Das schreckliche, mannigfache Leid,
das wir durch sie erlitten haben,

13350

wird mit Rache vergolten,
wenn wir Troja so beschützen,
dass wir ohne Angst daraus weggehen 
und uns sicher sein können, 
dass niemand hinter uns 

13355

einfallen und einbrechen kann.
Ihr könnt mir ohne Trug glauben, Herren, 
dass wir unseren Kummer rächen werden. 
Davon seid frohgemut und tapfer
und lasst von eurer Klage
 
13360

und von eurem starken Trauern ab.
Der Rat gefiel ihnen allen gut.
Sie sagten, dass er weise 
und voller Tugend war.
Der König begann sofort, 

13365

seine Schwermut zu mäßigen.
Er befahl im ganzen Land 
nach Leuten und Rittern zu schicken.
Mit starker und großer Kraft
lagerte er zu Troja.

Montag, 12. Oktober 2020

Kommentar

Die Syntax zu Beginn der Textstelle ist seltsam und schwierig. Ich frage mich, ob im V. 13270 tatsächlich von den »acht Kindern« oder nicht eher von dem »achten Kind« die Rede ist – aber dagegen spricht wohl der V. 13281. Bis auf Weiteres habe ich zu dieser Stelle auf jeden Fall keinen besseren Vorschlag.

Das »doch« in V. 13276 würde ich vielleicht mit »dennoch« übersetzen, um den Gedankengang noch etwas deutlicher zu machen. Wenn man mittelhochdeutsch »edel« mit »adlig« übersetzt, ist das Konzept für heutige Leserinnen vielleicht anschaulicher. Das »wan« in V. 13285 würde ich kausal verstehen und mit »weil« übersetzen; für das »genesen« in V. 13294 lassen sich vielleicht bessere Lösungen finden, z.B.: »doch handelte er wie jemand, der sich nicht unterkriegen lassen will«. Davon abgesehen finde ich, dass die Passage ab V. 13285 sehr gelungen ist.  

In V. 13304 ist von einer »veigen ungeschicht« die Rede. Mittelhochdeutsch »ungeschicht« meint Unglück, Missgeschick oder unglücklichen Zufall. Und »veige« ist etwas, das zum Unglück oder Tod bestimmt ist. Wie wäre »verheerendes Unglück« oder »katastrophales Unglück«?

Auch für das »nider legen« (V. 13314) ließe sich vielleicht noch eine anschaulichere Übersetzung finden. Sehr spannend finde ich die Übersetzung von V. 13319 (»sie wissen nicht, zu welchem Preis«). Auf diese Variante wäre ich nicht gekommen – aber das könnte tatsächlich genau das sein, was hier gemeint ist!

13270-13319

13270

dis ahte kint erkennet
gar biderb unde stæte
der künic Prîant hæte
von sîme êlichen wîbe clâr.
noch hete er drîzic sün vür wâr,

13275

die von der ê niht wâren komen.
doch was ir leben ûz genomen
und zuo hôhem prîse erkorn.
ir iegelicher was geborn
von einer muoter, als ich las,

13280

diu von geburt gar edel was.
Diu drîzic und dis ahte kint,
diu von mir hie genennet sint,
diu truogen alle jâmer dô
mit ir vater Prîamô,

13285

wan in sîn leit ze herze traf.
daz lûter und daz clâre saf
gienc ûz ir liehten ougen tor,
wan daz der biderb Hector
niht möhte dâ geweinen.

13290

sîn muot begunde ersteinen
in ritterlicher frumekeit.
sîn schade was im alsô leit,
als er von rehte solte wesen,
doch tet er als der wil genesen

13295

und niht von leide kan verzagen.
er lie belîben allez clagen
und trôste sînen werden vater.
den tugentrîchen künic bater,
daz er sîn trûren lieze sîn.

13300

er sprach: herr unde vater mîn,
lânt iuwer strengen ungehabe
durch iuwer hôhen tugent abe,
wan trûren daz enhilfet niht
zuo dirren veigen ungeschiht,

13305

man muoz iht anders tuon dar zuo.
daz ieman riuweclichen tuo,
daz lânt verboten werden.
jô zimt ez wol ûf erden,
daz vreche helde sint gemeit

13310

nâch schedelicher arebeit
und nâch verlüste niht verzagen.
welt ir ein trûric herze tragen,
sô wirt al iuwer diet verzeget.
clag unde trûren nider leget

13315

manheit und ellentrîchen sin:
des werfent allez jâmer hin!
daz ist iu nû daz beste.
uns hânt die leiden geste
verhert, si enwizzent umbe waz.



13270

Diese acht Kinder,
die er von seinem schönen Eheweib bekam,
hielt König Priamus für 
tüchtig und beständig.
Außerdem hatte er, fürwahr,

13275

dreißig uneheliche Söhne.
Doch war ihr Leben außerordentlich
und zu hohem Ruhm bestimmt.
Ein jeder war geboren,
wie ich las, von einer Mutter,

13280

die von Geburt an edel war.
Die Dreißig und die acht Kinder,
die von mir genannt wurden,
die teilten alle den Kummer
mit ihrem Vater Priamus,

13285

als ihn sein Leid im Herzen traf.
Reine und aufrichtige Tränen
quollen aus ihren lichten Augen hervor,
nur der tüchtige Hektor vermochte 
das nicht zu beweinen.

13290

Seine Gedanken begannen sich 
in ritterlicher Tapferkeit zu verhärten.
Sein Verlust war ihm ein solches Leid,
wie er auch rechtmäßig sein sollte,
doch handelte er wie jemand, der genesen will,

13295

und ließ sich nicht von Leid verzagen.
Er ließ bleiben alles Klagen
und tröstete seinen würdigen Vater.
Er bat seinen tugendreichen König,
dass er sein Trauern sein ließe.

13300

Er sprach: “Mein Herr und Vater,
lasst von Eurem unerbittlichen Klagen
um eurer Tugendhaftigkeit willen ab,
denn das Trauern hilft nicht
gegen diese verderbte Untat;

13305

man muss anders vorgehen.
Es sollte unterbunden werden,
dass jemand in Trauer versinkt.
Es gehört sich so auf Erden,
dass kühne Helden nach unsäglichen Mühen 

13310

lebensfroh sind 
und nach Verlusten nicht verzagen.
Wollt Ihr ein trauerndes Herz tragen, 
so wird euer ganzes Volk entmutigt.
Klagen und Trauern legt 

13315

Mannheit und heldenhaften Verstand nieder:
Verwerft deshalb allen Kummer! 
Das ist jetzt das Beste.
Die leidbringenden Fremden haben uns besiegt; 
sie wissen nicht, zu welchem Preis.