Montag, 31. Mai 2021

14830-14839

sîn herze in angest wart gejaget

ûz einem frîen muote gar.

und dô sîn muoter wart gewar,

daz er begunde schouwen

sô gerne die juncfrouwen

und daz er an si dicke

lie sîner ougen blicke,

dô vröute sich diu künigîn.

si kôs an der gebærde sîn

unde an sîner varwe,


Sein Herz wurde – aus seiner vollkommenen Freiheit heraus –

in die Enge getrieben.

Und als seine Mutter bemerkte,

dass er so gerne die jungen Damen

ansah

und dass er seine Blicke

immer wieder auf sie richtete,

da freute sich die Königin.

Sie erkannte an seinen Bewegungen

und an seiner Hautfarbe,

Donnerstag, 20. Mai 2021

14820-14829

des zôch er unde holte

den âten bî der stunde

verr ûz des herzen grunde.

Diu minne schuof und ir getwanc,

daz manic tiefer siufze lanc

ûz sîner brüste wart gedent.

ob ie nâch liebe wart gesent

durnehteclichen anderswâ,

sô wart von im getrûret dâ

sêr unde starke dur die maget.


und deshalb zog und holte er

damals seinen Atem

tief vom Grund des Herzens. 

Dafür sorgte die Liebe, die ihn bedrängte,

so dass viele tiefe und lange Seufzer

aus seiner Brust gezogen wurden.

Mag sein, dass man irgendwo einmal der Freude wegen

sehnsuchtsvoll war, auf treue und tadelose Weise, 

er jedoch trauerte

schmerzlich und heftig wegen der jungen Frau.   

Mittwoch, 19. Mai 2021

14810-14819

im wart kalt unde heize

von herzelicher pîne.

ir zweiger hande schîne

diu minne im under ougen streich.

nû rôt, nû aber denne bleich

wart er gemâlet dicke

und wurden sîne blicke

trüeb unde senebære.

von kumberlicher swære

der clâre trûren dolte,


Durch die Qualen, die sein Herz auszustehen hatte,

wurde ihm kalt und heiß. 

Die Liebe pinselte ihm ihren zweifachen Glanz

unter die Augen:

zuerst rot, dann wieder blaß und bleich

wurde er immer wieder angemalt

und sein Blick wurde

trüb und sehnsuchtsvoll.

Durch den Kummer und die Mühe

hatte der Tadellose Trauer zu erleiden

Mittwoch, 12. Mai 2021

14800-14809

vermischet wart von sender nôt

sîn liehter wunneclicher schîn.

ouch was daz lûter bilde sîn

von hitze worden fiuhte.

seht, wie diu rôse liuhte

genetzet von dem touwe

in der geblüemten ouwe,

sus wart ouch âne lougen

naz under sînen ougen

der jungelinc von sweize.


Sein strahlend schöner Glanz wurde

durch das bedrohliche Liebesbegehren durchmischt.

Auch war sein klares Angesicht

durch die Hitze feucht geworden.

Stellt euch eine Rose vor,

die vom Tau benetzt 

aus der blumenreichen Wiese heraussticht,

eben so wurde – ungelogen –

der junge Mann unter seinen Augen

nass vom Schweiß. 

Dienstag, 11. Mai 2021

14790-14799

dô der juncherre wart gewar,

daz alsô lebendiu clârheit

an si von schœne was geleit,

dô wart er missehandelt,

diu varwe sîn verwandelt

wart vil schiere sunder twâl.

reht als ein rôter zendâl

gespreit wær ûf ein helfenbein,

seht, alsô gleiz im unde schein

wîz varwe ûz sînen wangen rôt.


Als dem jungen Herrn klar geworden war,

dass ihr durch die Schönheit solch lebendiger Glanz

gegeben war,  

da erging es ihm übel,

denn danach – und zwar sofort danach –

veränderte sich seine Hautfarbe.

Stellt euch vor, man hätte roten Zin­del­taft

über Elfenbein gespannt,

genau so glänzte und schien

weiße Farbe aus seinen roten Wangen.


Montag, 10. Mai 2021

14780-14789

nû mohte niht sîns herzen lust

von einer megde sich genemen.

swaz einem helde sol gezemen,

daz hete er allez ê getriben

und was ein zage nû beliben

dur die juncfrouwen minneclich,

wan sîn gemüete kunde sich

ir süezen lîbes niht erwern.

er lie die clâren sich verhern

des herzen und der sinne gar.


nun konnte er nicht den Willen aufbringen, 

sich von einem Mädchen wegzureißen.

Alles, was zu einem Helden gehört,

das hatte er zuvor gezeigt,

war nun aber durch die liebenswerte junge Dame

zu einem Feigling geworden,

weil sich sein Denken und Wollen 

gegen ihre entzückende Erscheinung nicht wehren konnte.

Er ließ zu, dass die Makellose

sein Herz und seine Sinne voll und ganz überwältigte.   

Freitag, 7. Mai 2021

14770-14779

sich rouben unde vrîen

lie sînes vrechen muotes vil.

der für den bolz flouc zuo dem zil

und über tiefe tobele spranc,

der wart dô sunder sînen danc

sô træge von der minne,

daz er mit sînem sinne

kam einen fuoz niht ûz ir spor.

er hete grimmen löuwen vor

ir welf gebrochen ab der brust,


seiner mutigen, kühnen Einstellung ganz berauben

ließ.

Er, der wie ein Pfeil auf sein Ziel losschoss

und über tiefe Schluchten sprang,

der wurde nun gegen seinen Willen

durch die Liebe so träge,

dass er mit seinem Denken und Wollen

nicht auch nur einen Fuß weit von ihrer Spur weichen konnte.

Er hatte gefährlichen Löwen zuvor

ihr Junges von der Brust gerissen – 

Donnerstag, 6. Mai 2021

14760-14769

er wart der minne banden

als undertænic bî der vrist,

daz al sîn trôst und sîn genist

lac an der megde reine.

ze herzen und ze beine

wart im geleit ir kiuscher lîp

vür alliu wunneclîchiu wîp.

Seht, alsô wart Achilles

betwungen von der minne des,

daz er Dêîdamîen


Er unterwarf sich zu dieser Zeit

den Fesseln der Liebe,

so dass all sein Trost und all seine Zuversicht

in den Händen des makellosen Mädchens lag.

Ihre Keuschheit ging ihm zu Herzen 

und hinterließ bei ihm mehr als all die anderen schönen Frauen

einen tiefen Eindruck. 

Seht! Auf diese Weise wurde Achill

von der Liebe überwunden, 

so dass er sich von Deidamia

Mittwoch, 5. Mai 2021

14750-14759

sîn hôchvart möhte werden

geneiget von der minne.

si twinget alle sinne

gewalteclîche in ir gebot.

diz wart bewæret âne spot

an dem juncherren ûz erwelt,

der an dem lîbe was ein helt

und alsô vrech an sîner art,

daz sîn gelîch dâ niender wart

beschouwet in den landen.


dass sein Hochmut nicht von der Liebe

gezügelt werden könnte.

Sie unterwirft alle Sinne

mit Macht ihrem Befehl.

Dies zeigte sich ganz zweifelsfrei

an dem auserwählten jungen Herren,

der den Leib eines Helden hatte

und dessen ganzes Verhalten so kühn und mutig war,

dass man seinesgleichen nirgendwo 

in allen Ländern hat finden können. 

Dienstag, 4. Mai 2021

14740-14749

diu minne des gewaltes pfliget,

daz nieman ir mac widerstreben.

in ir gebote müezen leben

die starken und die grôzen.

wer kan sich ir genôzen

an hôher meisterschefte?

si twinget mit ir krefte

wîp unde mannes bilde.

sô frevel noch sô wilde

wart nie mensche ûf erden,


Die Liebe verfügt über solche Macht,

dass niemand ihr widerstehen kann.

Nach ihrem Gebot müssen sich auch

die Großen und Kräftigen richten.

Wer kann es mit ihrer 

hohen Kunst und Überlegenheit aufnehmen?

Sie bezwingt mit ihrer Macht

Frauen und Männer. 

So kühn oder wild

war hier auf Erden noch nie ein Mensch, 

Montag, 3. Mai 2021

14730-14739

er was in kurzen stunden

von ir gewalt alsô verzaget,

daz in ein kreftelôsiu maget

warf in der sorgen stricke

und mit ir ougen blicke

sîn wildez herze kunde zamen.

er hete manigen freissamen

löuwen ê betwungen

und wart von einer jungen

megde nû gar übersiget.


Er war in kurzer Zeit

durch ihre Macht derart verängstigt, 

dass ihn ein krafloses Mädchen

mit Fesseln der Sorge binden

und mit den Blicken ihrer Augen

sein wildes Herz zähmen konnte.

Er hatte zuvor viele furchterregende

Löwen bezwungen

und wurde nun von einem

jungen Mädchen ganz und gar überwältigt.