Freitag, 26. Februar 2021

14320-14329

daz ich durch vorhte leite

wîplich gewant an mînen lîp?

solt ich gebâren als ein wîp,

daz wære ein hôhiu missetât.

Schŷron, der mich gelêret hât

sô vrevelîchiu wunder,

der möhte des besunder

wol iemer haben sînen spot,

daz ich behielte dîn gebot

und wîbes cleider trüege.


würde ich meinen Körper aus Furcht

mit Frauenkleidern bedecken?

Soll ich mich wie eine Frau aufführen?

Das wäre eine große Schandtat!

Schyron, der mich 

so kühne Wuntertaten gelehrt hat,

der würde sich darüber

für immer und ewig lustig machen,

wenn ich deiner Anweisung folgte

und Frauenkleider anziehen würde. 

Donnerstag, 25. Februar 2021

14310-14319

hin wider zuo Schŷrône

und bringe dich in kurzer vrist

dâ hin, dâ dû genomen bist.‹

Der junge hôchgeborne

gap ir der rede mit zorne

vil schiere sîn antwürte alsô:

›frouw unde muoter‹, sprach er dô,

›dû möhtest wol mich lêren baz.

wie stüende mannes êren daz

und sîner werdekeite,


wieder zurück zu Schyron

und bringe dich schnell wieder

dort hin, von wo du fortgebracht wurdest.‹

Er, der jung war und von hoher Geburt,

antworte sofort in Zorn auf ihre Rede 

mit folgenden Worten:

›Herrin und Mutter‹, sagte er sogleich,

›du könntest mir etwas Besseres beibringen!

Wie ließe sich das mit dem Ansehen eines Mannes vereinbaren –

mit seinem Wert und seiner Würde –,

Mittwoch, 24. Februar 2021

14300-14309

ob man dich suochen welle,

daz nieman triuwe, daz dîn lîp

hie sî verborgen under wîp

und man niht strîtes muote dir.

nû volge eht eine wîle mir

und nim an dich wîplîche wât.

sô diz urliuge nû zergât,

daz sich vor Troye heben wil,

und ez genomen het ein zil,

sô füere ich dich vil schône


damit, wenn man dich suchen sollte,

niemand auf die Idee käme, dass du

hier inmitten von Frauen verborgen seist –

so dass man dich nicht zum Kämpfen verleitet.

Folge mir nun also bitte eine Weile

und ziehe dir Frauenkleidung an.

Wenn erst der Krieg, der vor Troja stattfinden wird,

erledigt

und beendigt ist,

dann führe ich dich fröhlich 

Dienstag, 23. Februar 2021

14290-14299

ich tuon ez dur ein ander schult,

daz ich dîn leben sus verhile.

urliuges wirt ze Kriechen vile,

vor dem wil ich mit listen

dich schirmen unde vristen,

wan ich des michel angest hân,

wilt dû den Kriechen bî gestân,

daz von Troiæren stirbest dû:

dar umbe ich gerne schicke nû

ze frouwen dich, geselle,


Ich tue dies auch aus einem anderen Grund,

um nämlich auf diese Weise deinen Aufenthaltsort zu verheimlichen. 

In Griechenland wird es Krieg geben

und davor will ich dich durch kluge Manöver

bewahren und dich davon fernhalten,

weil ich in großer Sorge bin,

dass, wenn du den Griechen beistehst,

du durch die Trojaner getötet werden wirst.

Darum, mein Lieber, freut es mich, dich nun

zu Frauen schicken zu können, 

Montag, 22. Februar 2021

14280-14289

sît daz hie schœne vrouwen sint

und stolzer megde ein wunder,

sô tuon ich dich dar under

in wîbes bilde sâ zehant.

ich gibe dir frouwelich gewant

und mache dich gar minneclich,

dar umbe, daz man lâze dich

gern under in belîben.

ich schicke dich ze wîben,

dur daz dû mîdest ungedult.


Da es hier schöne Damen gibt

und stolze Jungfrauen in erstaunlicher Zahl,

werde ich dich in weiblicher Gestalt 

sogleich zu ihnen gesellen.

Ich gebe dir Kleidung, wie sie Damen tragen,

und werde dich in jeder Hinsicht liebenswert ausstaffieren, 

so dass man dich gerne 

in ihrer Mitte bleiben lässt.

Zu Frauen schicke ich dich,

damit du Anspannung und Getriebensein los wirst.

Mittwoch, 17. Februar 2021

14270-14279

dur daz dû drinne, junger helt,

die fuoge merkest und den site,

dâ man sich frouwen liebe mite

und man ir gruoz gewinne.

gelernest dû dar inne,

daz dû den wîben wol behagest

und ir vil hôhen gunst bejagest,

so enist an dir kein breste mê.

des hân ich dich her über sê

gefüeret, herzeliebez kint.


damit du dir dort, junger Held,

einprägst, was sich schickt und wie man sich verhält,

damit einen die Damen ihre Zuneigung

und ihren Gruß gewähren.

Wenn du dort lernst,

den Frauen zu gefallen

und ihre herrliche Gunst erringst,

dann gibt es an dir keinen Mangel mehr.

Deshalb, herzallerliebstes Kind, habe ich dich

über das Meer hierher geführt.

Dienstag, 16. Februar 2021

14260-14269

daz er sîn eiger brüete

ân angest, daz wil er bewarn.

sus hât ouch umbe nû gevarn

dur dich mîn herze in manic lant.

hin unde her ist ez gewant,

biz ich ein rîche hân erdâht,

dar in dû wirst vil schiere brâht

ân alliu schedelîchiu dinc.

ich hân des selben landes rinc

vor allen kreizen ûz erwelt,


Er will dafür sorgen, dass er 

seine Eier ohne Sorgen ausbrüten kann.

In gleicher Weise hat denn auch mein Herz  

um deinetwillen viele Länder durchwandert.

Hin und her ist es gezogen,

bis ich ein Reich gefunden habe

ohne irgendwelche Bedrohungen,

in das du schnellstmöglich gebracht wirst.

Ich habe dieses Gebiet

aus allen Ländern ausgewählt,

Montag, 15. Februar 2021

14250-14259

und eine stat vil gerne kür,

diu z’eime neste wære

im âne schaden gebære.

Er fliuget hin, er fliuget her.

holz unde velt versuochet er,

biz er den boum dâ vinde,

ûf dem er vor dem winde

und vor dem slangen sicher wese,

alsô, daz dâ sîn fruht genese

und er si wol behüete.


und dafür nach einem Ort sucht,

der zum Nestbau taugt,

ohne dass sich der Vogel damit in Gefahr brächte.

Er fliegt hin, er fliegt her –

er prüft Wald und Felder,

bis er dort den Baum findet,

auf dem er vor dem Wind

und vor den Schlangen sicher ist,

so dass dort seine Nachkommen gedeihen 

und er sie gut beschützen kann.

Freitag, 12. Februar 2021

14240-14249

ich wart in manic wîs verdâht

alsam ein angesthaftez wîp,

war ich getæte dînen lîp,

dâ man dich zuht gelêrte.

jô warf ich unde kêrte

in alliu rîche mînen sin:

ich dâhte her, ich dâhte hin,

wâ dû würde wol behuot.

ich tete reht als der vogel tuot,

der sîne fruht wil bringen vür


Ich habe mir – so wie es Frauen tun, die in Bedrängnis sind –

lange den Kopf darüber zerbrochen,

wohin ich dich bringen könnte,

damit man dir dort Anstand beibringe.

Ja, ich bin in Gedanken 

alle Länder durchgegangen;

ich habe hin und her überlegt,

wo du gut untergebracht wärst.

Ich habe mich so verhalten wie der Vogel,

der seine Nachkommen aufziehen will

Donnerstag, 11. Februar 2021

14230-14239

›sich, sun, dô seite ich im daz vor,

daz ich baden wolte dich

in einem wazzer lûterlich,

daz für gesunde wære

nütz unde helfebære

und dich niht lieze wunden.

sus wart er bî den stunden

von mir betrogen, süezer knabe,

daz dû würde ûz sîner habe

gefüeret nahtes unde brâht.


›Schau, Sohn, es war so, dass ich ihm gesagt habe,

dass ich dich baden wolle,

in klarem Wasser,

das für Gesunde

nützlich und hilfreich sei

und das dafür sorge, dass du keine Verletzungen erleidest.

Auf diese Weise, süßer Knabe,

wurde er von mir betrogen,

so dass du des Nachts 

aus seiner Obhut genommen wurdest.

Mittwoch, 10. Februar 2021

14220-14229

der frouwen hovelichen des

und sprach ir sinneclîche zuo:

›daz dû mich alsô rehte vruo

von Schŷrône hâst genomen,

daz mac mir wol ze schaden komen

und ze leider ungeschiht:

wan er mich anders kunde niht

wan frumekeit gelêren.

wie liez er mich sus kêren

ûz sîner meisterschefte spor?‹


der Dame auf höfische und kluge Weise

und sagte zu ihr:

›Dass du mich so früh

von Schyron genommen hast,

das könnte mir irgendwann zum Schaden gereichen

und mir zum leidvollen Verhängnis werden,

denn er hat mir nichts anderes beibringen wollen

und können als Tapferkeit.

Wie kann es sein, dass er mich

vom Fortgang seines Unterrichts hat abkommen lassen?‹

Dienstag, 9. Februar 2021

14210-14219

dîn lîp und daz gemüete dîn

sint worden gar ze wilde,

des wil ich frouwen bilde

dich lâzen kiesen unde sehen.

und mac dir daz heil geschehen,

daz dû von in gezemet wirst,

wan dû vermîdest und verbirst

vil mangen site vrevelich,

den Schŷron hât gelêret dich.‹

Antwürte bôt Achilles


Dein Körper und Geist 

sind viel zu wild und unbändig geworden –

deshalb will ich, dass du leibhaftige Frauen

siehst und beobachten kannst.

Möge dir die Gnade geschenkt werden,

dass du von ihnen gezähmt wirst,

da du dann viel übermütiges Verhalten,

das Schyron dir beigebracht hat,

vermeiden und unterlassen wirst.‹

Darauf antwortete Achill

Montag, 8. Februar 2021

14200-14209

dâ von ich gerne füegen wil,

daz dû gelernest ouch die kunst,

mit der man reiner wîbe gunst

gewinnen müge ûf erden.

ze hôhen und ze werden

juncfrouwen füere ich dînen lîp.

ich wil dich cleiden als ein wîp

und in ir schar dich mischen.

dar under und dâ zwischen

gelernest dû wol zühtic sîn.


und deshalb will ich gerne dafür sorgen,

dass du auch das Wissen meisterst,

mit dem man sich in der Welt die Gunst

reiner Frauen zu sichern vermag.

Ich bringe dich zu hohen und angesehenen

jungen Damen.

Ich werde dich wie eine Frau anziehen

und dich in ihre Schar einreihen.

Mit und bei ihnen wirst du lernen, 

dich höflich und gesittet zu benehmen.

Freitag, 5. Februar 2021

14190-14199

sprich an, vil sælic frouwe dû,

war sol ich komen, hôhiu fruht?‹

›dâ wil ich hovelîche zuht

dich heizen lêren‹, sprach si dô.

›belîp ân allez trûren vrô!

dû wirst ein sælic jungelinc,

dû hâst behendeclîchiu dinc

gelernet unde strîten wol.

swaz man von kampfe trîben sol,

des kanst dû wunder unde vil,


Sag an, du segenvolle Dame,

hohe Herrin – wohin muss ich gehen?

›Dorthin‹, sagte sie dann, ›wo man dir

höfische Erziehung zukommen lassen wird.

Lass alles Trauern sein und bleib fröhlich!

Du wirst ein gesegneter junger Mann!

Du hast gelernt, dich Deines Körpers zu bedienen

und gut zu kämpfen.

Alles, was man in Sachen Kampf zu können hat,

das kannst du reichlich und auf bewundernswerte Weise

Donnerstag, 4. Februar 2021

14180-14189

wâ lît der hôhe Pêlîon,
dar under ich erzogen bin?
ich var an ein gebirge hin,
daz ich vil selten hân gesehen.
ich wânde, swaz mir ist geschehen,
daz wære mir getroumet gar.
nû bin ich worden êrst gewar
der endelichen mære.
ich was in grôzer swære,
ê daz ich dich gesæhe nû.

Wo ist der hohe Pelion,
unter dem ich erzogen wurde?
Ich bin zu einem Gebirge unterwegs,
das ich noch nie gesehen habe.
Ich dachte, dass all das, was mit mir passiert ist,
nur ein Traum sei;
nun erst ist mir die Situation
endgültig klar geworden.
Ich war sehr betrübt gewesen,
bevor ich dich erblickt habe.

Dienstag, 2. Februar 2021

14170-14179

dur waz hâst dû mich dem benomen,

der mîn sô tugentlîche pflac?

wie bin ich sus in einen sac

von dir gestôzen und getân?

waz wilt dû mit mir ane gân?

daz tuo mir, sælic frouwe, erkant.

dû füerest mich in vremdiu lant,

von wâren schulden ich des gihe,

wan ich des berges niht ensihe,

des ich nû lange was gewon.


Weshalb hast Du mich dem genommen,

der sich so gründlich um mich gekümmert hat?

Warum bin ich von dir auf diese Weise

in einen Sack gestoßen und gesteckt worden?

Was hast du mit mir vor?

Gesegnete Dame, sagt mir das.

Du führst mich in fremde Länder,

das kann ich mit Fug und Recht behaupten,

weil ich den Berg nicht sehe,

an dessen Anblick ich nun schon seit Langem gewohnt bin.  

Montag, 1. Februar 2021

14160-14169

daz niht von einem troume kam

diu wunderlîche sache.

er lepte in ungemache,

biz daz er kôs die muoter sîn.

zehant als er die künigîn

mit vollen ougen an gesach,

lieplîche er wider si dô sprach:

›Ach frouwe und muoter, wâ bin ich?

war umbe hâst dû lâzen mich

von mînem lieben meister komen?


dass dieses seltsame Sache

nicht durch einen Traum hervorgerrufen wurde.

Er verbrachte seine Zeit ihn Sorgen,

bis er seine Mutter entdeckte.

Als er die Königin

mit großen Augen angesehen hatte,

sagte er sogleich ganz liebenswürdig zu ihr:

›Ach, Herrin und Mutter, wo bin ich?

Warum hast du mich 

von meinem lieben Meister wegbringen lassen?


[Was genau meint »mit vollen ougen«?]