Mittwoch, 31. August 2022

16830-16839

des lâ mich dîner sælikeit

geniezen, hôchgeborniu fruht,

und stille mîne jâmersuht

mit der vil reinen minne dîn,

wan ez enmac niht anders sîn,

mîn wille muoz an dir geschehen.

dâ von lâ dîne tugent sehen

und dîne erwelten güete mich

dar umbe, daz ich, frouwe, dich

mit herzen und mit sinnen


Lass mich deshalb Anteil an deiner Anmut haben,

hochgeborene Frau,

und heile meine Not und mein Elend

mit deiner überaus reinen Liebe –

denn es gibt keine Alternative:

du musst dich meinem Willen fügen.

Lass mich deshalb, edle Dame,

deine Tugend sehen und deine große Güte,

weil ich dich

mit Herz und allen Sinnen

Dienstag, 30. August 2022

16820-16829

daz ich sô lange in disen tagen

bin gesehen für ein wîp,

daz ist getân dur dînen lîp,

den man sô wunneclichen siht.

Achillen swester bin ich niht,

erweltiu maget wol getân,

dû solt mich für in selben hân,

wan ich bin endelichen er.

mîn trôst und mînes herzen ger

sint vil gar an dich geleit,


Dass ich schon seit so langer Zeit

für eine Frau gehalten werde,

das ist wegen dir geschehen,

weil du so herrlich aussiehst.

Ich bin, schönes, auserwähltes Mädchen,

nicht Achills Schwester;

du darfst mich als er selbst ansehen,

weil ich eben jener bin.

Mein Trost und mein tiefstes Begehren,

hängen ganz und gar von dir ab.

Montag, 29. August 2022

16810-16819

old aber hînaht sterben

dur dich, vil keiserlîchiu maget.

ich was dâ her alsô verzaget,

daz ich nie getorste dir

entsliezen mînes herzen gir

und mîniu tougenlîchiu dinc.

nû bin ich, seneder jungelinc,

von dir sô gar ze tôde wunt,

solt ich verderben tûsent stunt,

ich müeste dir mîn jâmer clagen.


oder aber noch heute sterben,

um deinetwillen, du Mädchen von kaiserlichem Rang.

Ich war bisher so verschüchtert und verzagt,

dass ich mich nie getraut habe,

dir mein tiefstes Begehren zu offenbaren

und das, was ich heimlich denke.

Ich sehnsüchtiger junger Mann, ich bin nun

durch dich so ganz und gar zu Tode verwundet,

müsste ich auch tausendmal zu Grunde gehen,

ich muss dir meinen Jammer und meine Not klagen.

Freitag, 26. August 2022

16800-16809

swaz ich dâ her vor dir verbarc,

daz sol dir werden offenlich.

die liute ersâhen alle mich

vür eine maget wol gezogen,

dar an sô wâren si betrogen,

wan ich nie frouwen lîp gewan.

ich bin ein minnesiecher man

an herzen unde an lîbe

und wil dich hie ze wîbe

gewinnen unde erwerben


All das, was ich bisher vor dir verborgen hielt,

das muss dir offenbar werden.

Die Leute haben mich alle

für ein wohlerzogenes Mädchen gehalten

und wurden damit betrogen,

weil ich nie einen weiblichen Körper hatte.

Ich bin ein liebeskranker Mann

an Herz und Leib

und will dich hier 

zur Frau haben und machen

Donnerstag, 25. August 2022

16790-16799

und truoc ein leit verborgen,

dâ mite ich hân gerungen.

mich hât ûf schaden betwungen

diu schame ein teil ze sêre,

des ich niht langer mêre

mac verswîgen noch vertragen.

ich muoz der schame hie widersagen

mit werken und mit sinne:

des twinget mich diu minne

und ir gewalt hôch unde starc.


und musste stillschweigend ein Leid ertragen,

mit dem ich lange gerungen habe.

Der Zwang der Scham hat mir

zu sehr geschadet –

und das kann ich nicht länger

verschweigen und ertragen.

Der Scham muss ich hiermit den Kampf ansagen,

mit Herz und Hand.

Dazu zwingt mich die Liebe

und ihre große und starke Macht.  

Mittwoch, 24. August 2022

16780-16789

scham êre und alle sælde birt

und ist für schande ein obetach,

daz beste, daz man ie gesach.«

Der minnewunde Achilles

antwürte gap der clâren des

und wart gên ir mit rede balt.

er sprach: »wie schame sî gestalt,

des muoz ich nû vergezzen.

ich was dâ her besezzen

mit schamerîchen sorgen


Scham und Schüchternheit sind die Grundlage für Ansehen

und alles Heil – und sie sind ein schützendes Dach gegen die Schande,

sogar das beste, das es überhaupt gibt.«

Der liebeswunde Achill

gab der Makellosen folgende Antwort –

und kühn war seine Reaktion.

Er sagte: »Die Regeln der Scham und Schüchternheit,

die lasse ich nun beiseite.

Die ganze Zeit war ich

wegen der Scham mit Sorgen belastet

Dienstag, 23. August 2022

16770-16779

dâ manic kiusche vrouwe mite

blüeme ir leben unde ir jugent.

scham ist ein krône reiner tugent,

diu wîbes lop beschœnet

und werde vrouwen krœnet

an herzen unde an lîbe.

kein tugent stât dem wîbe

sô wol sô vrouwelîchiu schame,

wan aller hôhen tugent name

von schamerîchem muote wirt.


mit denen tugendhafte, edle Frauen

ihr Leben und ihre Jugend schmücken.

Schüchterne Zurückhaltung ist eine Krone vollkommener Sittlichkeit,

wodurch das Ansehen der Frauen veredelt wird

und angesehene Damen 

an Herz und Leib gekrönt werden.

Der Sittlichkeit der Frauen steht keine Tugend so gut

wie weibliche Scham und Schüchternheit,

weil alle hohen Tugenden

aus einem zurückhaltenden Gemüt hervorgehen.

Montag, 22. August 2022

16760-16769

dîn ringen ist unfröuwelich

und alliu dîn gebærde.

mir wahset grôz beswærde

von dînen wilden tücken.

dû wilt mir vröude zücken

und mînes hôhes muotes vil.

lâ stân dur got, mîn trûtgespil,

geloube dich der sache,

diu wîbes namen swache

und habe die schemelichen site,


Dein Ringen und Rangeln und dein ganzes Auftreten

gehören sich nicht für eine Frau.

Mir entstehen große Mühen

durch dein wildes Benehmen.

Du willst mir Freude und Fröhlichkeit nehmen

und meine ganze Glückseligkeit.

Lass dass, meine Freundin, um Gottes Willen,

lass ab von dieser Sache,

die ein schlechtes Licht auf Frauen wirft,

und halte dich an die Umgangsformen,

Freitag, 19. August 2022

16750-16759

wîplich natûre und wîplich reht

verbieten sus getânen spot.

lâ die gebærde sîn dur got,

diu frouwen lop getrüeben kan!

sô dû mich triutest als ein man,

sô weiz ich, wes ich denken sol.

erkande ich niht sô rehte wol

dîn art und alliu dîniu dinc,

ich wânde, daz ein jungelinc

in wîbes bilde ruorte mich.


Die Natur und das Recht der Frauen

verbieten solche anstößigen Scherze.

Hör’ um Gottes Willen damit auf,

dich so zu benehmen, dass das Lob edler Frauen herabgewürdigt wird!

Wenn du mich wie ein Mann anfasst,

dann weiß ich nicht, was ich davon halten soll.

Wüsste ich nicht so gut bescheid

über deine Herkunft und alle deine Umstände,

dann würde ich meinen, dass es ein junger Mann

in weiblicher Gestalt sei, der mich packt und ergreift. 

Donnerstag, 18. August 2022

16740-16749

gemæze ist und gebære,

des wolt er dô beginnen.

nû daz si des wart innen

und si der mære sich versan,

daz er gelîch tet einem man,

dô sprach diu werde künigîn:

»waz nû, gespil, waz sol diz sîn?

waz tiutest unde meinest dû?

mich dunket, dû gebârest nû

reht als ein man und als ein kneht.


taugt und hilfreich ist,

das wollte er nun in die Tat umsetzen. 

Als sie das merkte

und ihr klar wurde,

dass er sich wie ein Mann verhielt,

sagte die edle Königin:

»Was tust Du, Gefährtin, was soll das werden?

Was hast Du vor? Wo führt das hin?

Mir scheint, du verhältst dich

ganz so wie ein Mann!

Mittwoch, 17. August 2022

16730-16739

in eines wîbes wæte,

daz was in dô geriuwen.

gewislich unde entriuwen

liez er bevinden si, daz er

truoc mannes lîp und mannes ger,

wan er begunde bî der stunt

ir wangen, ougen unde munt

dâ küssen unde triuten.

swaz minnesiechen liuten

vür seneclîche swære


in Frauenkleidung hinters Licht geführt,

was er nun bereute. 

Er ließ sie merken, ohne daran Zweifel zu lassen,

dass er

einen männlichen Körper hatte und männliches Begehren,

denn er fing nun an,

ihre Wangen, Augen und ihren Mund

zu küssen und zu liebkosen.

All das, was liebeskranken Leuten

gegen sehnsüchtige Qualen 

Dienstag, 16. August 2022

16720-16729

und mit der wunneclichen ranc

umb ir vil werden minne.

er greif die küniginne

mit vrevelichen henden an;

daz tet im nôt, sîn herze enbran

in seneclicher marter:

dâ von er deste harter

wart des mâles ungezogen.

er hete lange dâ betrogen

die juncfrouwen stæte


und sich mit der Liebenswerten 

in einen Ringkampf begab, um ihre überaus kostbare Liebe. 

Mit seinen Händen ergriff er

kühn die Königin,

was ihn zu weiteren Handlungen zwang, denn sein Herz

wurde von sehnsuchtvoller Qual entzündet.

Dadurch wurde er in dieser Situation

noch viel, viel unanständiger. 

Lange hatte er dort

das tadellose Mädchen  


[V. 16724 »daz tet im nôt«: entweder »er musst es tun« oder »dadurch (durch das Ergreifen) geriet er in Not, erhöhte sich sein Verlangen, war er zu weiteren Handlungen gezwungen«. Letzteres scheint mir im Kontext plausibler zu sein.]

Montag, 15. August 2022

16710-16719

wan im der muot reht als ein blî

wiel unde sôt in sender clage.

sîn vröude und al sîn lebetage

mit ganzer stæte wâren

versigelt an der clâren

und an der küniclichen fruht,

iedoch begunde er sîne zuht

an ir swachen mit gewalt.

er wart sô vrevel und sô balt,

daz er die scham ze rücke dranc


zumal sein Wollen ganz so wie ein geschmolzenes Stück Blei

in schmerzlicher Klage kochte und brodelte.

Seine Freude und sein ganzes Leben

waren firm und fest

in dem makellosen Mädchen, 

in dem dem königlichen Kind versiegelt;

er aber schmälerte seine Anständigkeit und Redlichkeit

ihr gegenüber durch Gewalt. 

Er wurde so übermütig und so kühn,

dass er die Scham bezwang


[warum »iedoch«?]

Freitag, 12. August 2022

16700-16709

und mînen muot vollenden

an ir und an ir lîbe.

wirt si mir hie ze wîbe,

sô muoz mîn trûric herze wunt

an vröuden iemer sîn gesunt.

Hie mite er dô genante.

herz unde muot er wante

dar ûf mit hôhem vlîze gar,

daz er die maget wunnevar

besliefe und ir gelæge bî,


und meinen Willen durchsetzen

an ihr und ihrem Körper. 

Wenn sie hier zu meiner Frau wird,

dann wird mein verwundetes, trauerndes Herz

durch die Freude für ewig gesund sein.

Sogleich nahm er dort allen Mut zusammen.

Sein Fühlen und Wollen richtete

er mit ganzem Einsatz vollständig darauf,

mit dem strahlend-schönen Mädchen

zu schlafen – und sie zu beschlafen –, 

Mittwoch, 10. August 2022

16690-16699

denn ob ich als ein man getân

und als ein vrecher knappe sî.

wird ich nû mîner sorgen vrî

von mîner frouwen helfe niht,

sô weiz ich wol, daz mir geschiht

diu state lîhte niemer mê,

daz an ir mîn wille ergê

und ich von mîner swære kume.

ez sî mir schade, ez sî mir frume,

ich wil an si genenden


statt ein Mann und

ein mutiger Kämpfer zu sein. 

Wenn ich nun, durch die Hilfe meiner Dame,

von meinen Sorgen nicht befreit werde,

dann weiß ich genau, dass ich

nie mehr die Gelegenheit haben werde,

ihr meinen Willen aufzuzwingen,

um meinen Kummer zu beenden.

Ganz egal, ob es mir schadet oder nützt,

ich will es an ihr wagen

Dienstag, 9. August 2022

16680-16689

ich wil die wandels vrîen

erwerben z’einem wîbe

old aber von dem lîbe

vil gæhes unde balde komen.

wirt ez gehœret und vernomen,

daz ich bin ein jungelinc,

daz sint unschemelîchiu dinc

und ist ein sache mügelich.

ich mac des schamen harte mich,

daz ich wîbes bilde hân,


Ich will die Makellose

zu meiner Frau machen

oder aber 

sofort dem Tod anheim fallen.

Würde man mitbekommen,

dass ich ein junger Mann bin,

das wäre eine schamlose Sache,

das würde zu Streit führen – ich würde vor Gericht gestellt.

Ich sollte mich sehr dafür schämen,

dass ich als Frau auftrete,

Montag, 8. August 2022

16670-16679

sol ich in dem getwange

verswenden leben unde lîp,

daz man mich hæte vür ein wîp,

sô möhte ich lieber sterben.

ich sol den prîs erwerben,

daz man mich neme für einen man.

des dinges, des ich nie began,

des wil ich nû beginnen.

beslâfen unde minnen

muoz ich Dêîdamîen.


Soll ich in dieser Bedrängnis

Leib und Leben verbrauchen,

so dass man mich für eine Frau hielte?

Dann möchte ich lieber sterben!

Ich muss dafür sorgen, dass man mir Respekt entgegenbringt

und mich für einen Mann hält.

Die Sache, die ich nie unternahm,

die will ich nun in Angriff nehmen.

Ich muss mit Deidamia 

schlafen und sie lieben. 

Donnerstag, 4. August 2022

16660-16669

wie sol ze keiner zîte

denne mir gelingen wol?

nein ich, entriuwen, ich ensol.

hie wirt vermiten alle bite,

ungerne ich langer hie vermite

die clâren und die süezen,

der minne mir gebüezen

mac trûren unde herzeleit.

mich riuwet, daz ich ie gebeit

sô vil und alsô lange.


Wie soll mir dann irgendwann einmal

etwas gelingen?

Nein, wahrlich, das darf nicht sein!

Worum ich gebeten wurde, das hat mich hier nicht zu kümmern.

Ungern verzichte ich hier 

auf die Süße, Makellose,

deren Liebe mir Traurigkeit und Leid

wiedergutmachen kann.

Ich bedauere, dass ich so lange und oft

gezögert und gewartet habe.

Mittwoch, 3. August 2022

16650-16659

ich wære ein sinnelôser gouch,

ob ich dur mîner muoter bete

sô grundelôsen kumber hete,

daz ich niemer würde geil.

mir ist geschehen hie daz heil

und daz gelücke, daz ich mac

verheilen mînes herzen slac

und die wunden mîner clage.

wil ich nû sîn ein bœser zage,

sô daz ich langer bîte,


Ich wäre ein dummer Idiot,

wenn ich wegen der Bitte meiner Mutter

derart grundlosen Kummer zu ertragen hätte,

so dass ich nie mehr glücklich würde.

Mir ist hier das Heil zuteil geworden

und das glückliche Schicksal, dass ich 

den Stich in mein Herz

und die Wunden meiner Klagen werde heilen können.

Will ich nun ein übler Feigling sein,

so dass ich noch länger zögere?

Dienstag, 2. August 2022

16640-16649

swer alsô vrechiu dinc getân

hete, als ich bî sînen tagen,

war umbe solte der verzagen

an minneclichen dingen.

sô ich getar betwingen

mit kampfe und mit gestürme

tier unde starke würme,

weizgot, sô mac ich unde wil

daz senfte süeze minnespil

wol üeben unde trîben ouch.


Wer auch immer solch mutige Dinge getan hätte,

wie ich sie einst getan habe,

warum sollte der 

bei Liebesdingen verzagen?

Wenn ich es wage, 

im Kampf und Getümmel

Tiere und starke Drachen zu besiegen,

weißgott, dann kann und will ich auch 

das sanfte, süße Liebespiel

betreiben und vollziehen.