Dienstag, 30. November 2021

15660-15669

sô künde niemer sîn geschehen

an im daz wunderlîche dinc,

daz sich der starke jungelinc

gecleidet hæte in wîbes wât.

ez was ir schult und ir getât,

daz er sich wîplich schouwen liez:

dâ von si wol ein muoter hiez

des bildes und des lebetagen,

den er dur si begunde tragen

und an sich nam in blüender jugent.


dann wäre niemals

die wunderliche Sache geschehen,

dass sich der starke junge Mann

in Frauenkleider gehüllt hätte.

Dass er sich als Frau den Blicken zeigte,

das hatte sie getan und das war ihre Schuld,

so dass sie deshalb gewiss als Mutter bezeichnet werden kann,

seines Auftretens und seiner Lebensweise,

die er wegen ihr angenommen hatte

und die er, in seiner blühenden Jugend, für sich akzeptierte. 

Montag, 29. November 2021

15650-15659

ein niuwez leben im gebar

und im sîn altez bilde

gemachet hete wilde,

als ez der minne kraft gebôt.

si was ein muoter sîner nôt

und der figûren wîplich,

in die verwandelt hete sich

sîn vrecher lîp vil unverzagt.

hæt er die keiserlichen magt

niht beschouwet, noch besehen,


ein neues Leben gebar

und im seine frühere Gestalt

hat fremd werden lassen,

so wie es die Macht der Liebe befahl.  

Sie war eine Mutter seiner Not

und der weiblichen Gestalt,

in die sich sein kühner, furchtloser Kröper

verwandelt hatte.

Hätte er das kaiserliche Mädchen

nicht erspäht und nicht gesehen,  

Freitag, 26. November 2021

15640-15649

daz sîn gemüete wære

nâch sîner muoter ungemeit.

ouch het er wâr dar an geseit,

daz er betrüebet was nâch ir.

an ir lac sînes herzen gir

und sîn bestiu zuoversiht.

iedoch meint er die muoter niht,

diu sînen werden lîp getruoc:

er meinte die juncfrouwen cluoc,

diu mit ir lîbe wunnevar


dass er wegen seiner Mutter

traurig sei.  

Auch war es die Wahrheit,

dass er sich nach ihr sehnte.

Sie war es, nach der sein Herz begehrte

und auf sie waren seine größten Erwartungen gerichtet.

Allerdings drehten sich seine Gedanken nicht um seine Mutter,

die seinen edlen Körper gebar;

seine Gedanken drehten sich um das hübsche Mädchen,

die ihm mit ihrem schönen Leib

Donnerstag, 25. November 2021

15630-15639

sô triuwe ich ir genâden wol,

daz si mîn ungemüete

mit reiner tugent güete

geruochte stillen alzehant.

mir würde trôst von ir bekant,

solt ich ir nâch dem willen mîn

heimlicher unde næher sîn.‹

Die rede treip Achilles.

er jach der minneclichen des

vür ein gewislich mære,


dann, ich bin mir sicher,

wäre sie sogleich bereit, meine Traurigkeit

mir der Großzügigkeit ihrer reinen Tugend

zu beenden. 

Sie wäre mir ein Trost,

wenn ich ihr, so wie ich es mir wünsche,

näher wäre und häufiger mir ihr allein.‹

Diese Worte sagte Achilles.

Er trug das der Liebenswerten

als eine wahrhaftige Geschichte vor,

Mittwoch, 24. November 2021

15620-15629

ir lîp rein unde guoter

ist edel unde wunnevar.

swie si mich seneder nôt gebar,

dar în ich von ir schulde kam,

doch kan ich ir niht werden gram

und muoz ir holt von grunde sîn.

si liebiu süeziu trœsterîn,

an der ich wandel nie gesach,

erkande si mîn ungemach

und al mîn jâmer, daz ich dol,


Ihre Gestalt ist rein und vornehm;

sie ist edel und schön.

Auch wenn sie mich in eine schmerzliche Notlage

– in die ich durch ihre Schuld kam – gebracht hat,

kann ich ihr doch nicht böse sein

und muss ihr von Herzen zugeneigt sein.

Sie, die liebe, süße Trösterin,

an der ich nie etwas Schlechts wahrgenommen habe,

würde sie mein Unglück kennen

und all mein Leid, das ich zu ertragen habe, 

Dienstag, 23. November 2021

15610-15619

weizgot, sô muoz ich lîden

den grimmen angestbæren tôt.

kein blî sô vaste nie gesôt

ûf einer heizen glüete,

sô starke mîn gemüete

nâch ir siudet alle stunt.

an vröuden wirt mîn herze wunt,

swenn ich ir hie niht schouwe:

wan ez enwart nie vrouwe

sô sælic, sô mîn muoter.


weißgott, dann wird mich 

der grausame, beängstigende Tod ergreifen.  

Keine Blei hat je auf heißer Glut

so sehr gebrodelt, 

wie mein Denken und Wollen

die ganze Zeit nach ihr glüht.

Mein Herz wird an seiner Freude verwundet,

so lange ich sie hier nicht sehen kann,

denn es war nie eine Dame

so vom Glück gesegnet wie meine Mutter. 

Montag, 22. November 2021

15600-15609

ich hân dar umbe leides vil,

daz ich der muoter sol enbern,

diu mich hie vröuden solte wern

und inneclicher triuwe.

mîn jâmer und mîn riuwe

sint bitter unde swære,

wan ich ir gerne wære

nâh unde herzeclichen bî.

sol ich ir lange wesen vrî

und iren trôst vermîden,


Ich leide sehr darunter,

dass ich auf die Mutter verzichten muss,

die hier für meine Freude zu sorgen hätte

und für familiäre Vertrautheit.

Mein Leid und meine Traurigkeit

sind groß und schwer,

denn ich wäre gerne bei ihr

und ihr liebevoll nah.

Wenn ich lange auf sie und ihren Trost

verzichten muss, 

Freitag, 19. November 2021

15590-15599

daz dû niht solt ir wonen bî,

daz ist dîn grœstiu swære.

ob si dir nâher wære

den âbent und den morgen,

so enhætest dû niht sorgen

und wære dîn gemüete vrô.‹

der rede gap antwürte dô

mit sorgen ir der jungelinc.

er sprach: ›dû merkest mîniu dinc

reht unde schône, trût gespil.


Dass du nicht bei ihr sein kannst,

das ist dein größter Kummer.

Wenn sie morgens und abends 

näher bei dir wäre,

dann hättest Du keine Sorgen

und wärst frohen Mutes.‹

Auf diese Worte antwortete 

ihr der junge Mann sorgenvoll.

Er sagte: ›Du hast meine Angelegenheit

gut und sorgfältig erkannt, liebe Gefährtin.

Donnerstag, 18. November 2021

15580-15589

mit rôsenrôtem munde

sprach diu vil clâre wider in:

›gespil, waz meinet, daz dîn sin

bekümbert ist sô rehte gar?

ein trüebe antlitze missevar

daz biutest dû mir unde gîst.

ich wæne, dû beswæret sîst

dur dîne muoter ûz erwelt.

nâch ir dîn herze sich verquelt

und ist nû vröuden worden vrî.


Mit rosenrotem Mund

sagte die Makellose zu ihm:

›Gefährtin, warum bist du

so überaus niedergeschlagen?

Ein trübes, verfärbtes Antlitz

bietest Du mir dar.

Mir scheint, du seist wegen deiner

edlen Mutter so bedrückt.

Nach ihr sehnt sich qualvoll dein Herz,

so dass es alle Freude verloren hat. 

Mittwoch, 17. November 2021

15570-15579

daz houbet er dâ nider hienc

und saz beswæret bî der vrist.

reht als ein man, der trûric ist,

alsô kund er gebâren.

sîn ougen trüebe wâren

und sîn antlitze erblichen.

nû kam für in geslichen

Dêîdamîe tougen

und sach im under ougen

lieplîche bî der stunde.


Den Kopf ließ er damals hängen

und er saß schwermütig herum.

So wie jemand, der trauert,

ganz so verhielt er sich.

Seine Augen waren trüb

und sein Gesicht bleich.

Daraufhin kam Deidamia 

still und leise zu ihm 

und sah ihm dann

liebevoll tief in die Augen.

Dienstag, 16. November 2021

15560-15569

sô blûc und alsô vorhtesam,

daz er niht einer megde guot

getorste künden sînen muot

und sînes herzen ungemach.

an einem tage ez sô geschach,

daz er nâch ir begunde senen

und aber sich ûf jâmer wenen

dur die juncfrouwen reine.

ze herzen und ze beine

ir minne im alze nâhe gienc.


so schüchtern und so verängstigt,

dass er einem verständigen Mädchen

sein Denken und Wollen und seine Herzensqualen

nicht mitzuteilen wagte.

Eines Tages geschah es,

dass er sich nach ihr sehnte 

und sich erneut dem Jammer hingab,

wegen des makellosen Mädchens.

Seinem Herzen und seinem Körper

rückte ihre Liebe allzu nah.  

Montag, 15. November 2021

15550-15559

daz er niht sîne jâmersuht

ir künden wolte, noch ensparn.

er lie sîn ougen dicke varn

hin an die maget wol gestalt

und wart dar under nie sô balt,

daz er nâch sînes herzen gir

sîn leit getörste clagen ir.

Er het ê die getürstekeit,

daz er mit grimmen löuwen streit,

und was nû worden von der scham


dass er ihr seinen Schwermut 

nicht verraten und enthüllen wollte. 

Oft ließ er seine Augen

zum schönen Mädchen wandern,

war dabei aber nie so wagemutig,

zu wagen, ihr sein Herz mit all seinem Leid

auszuschütten.

Zuvor war er begierig darauf,

mit wütenden Löwen zu kämpfen;

nun aber war er durch die Scham

Freitag, 12. November 2021

15540-15549

ez was der sorgen überlast,

daz er ir niht getorste clagen,

daz er sô grimme swære tragen

muoste dur si z’aller stunt.

möht ir sîn ungemüete kunt

von sînem munde worden sîn,

daz hæte im sînes herzen pîn

geringet harte sêre.

nû was der vrouwen êre

sô grôz und des juncherren zuht,


Die größte Sorge, die ihn bedrückte,

war, dass er es nicht wagen durfte,

ihr gegenüber darüber zu klagen, dass er permanent

wegen ihr derart bitteren Kummer zu ertragen hatte.

Hätte er ihr von seinem Leid

erzählen können,

dann hätte ihm das seinen Herzensschmerz

deutlich verringert. 

Nun waren aber das Ansehen der Dame

und der Anstand des jungen Herrn so groß,

Mittwoch, 10. November 2021

15530-15539

sô wart im ie dar under

sîn varwe missehandelt.

sus unde sô verwandelt

wart sîn wunneclicher schîn.

daz fiur im in dem herzen sîn

tac unde naht wiel unde sôt.

daz kunde sîn antlitze rôt

wol machen unde verwen

und aber denne gerwen

in bleichen unde in trüeben glast.


wurde dabei 

seiner Hautfarbe übel mitgespielt. 

Sein liebenswertes Antlitz

veränderte sich hin und her.

In seinem Herzen loderte und brannte

das Feuer Tag und Nacht.

Dies Feuer war imstande, 

sein Antlitz zu erröten und rot einzufärben –

dann aber wiederum in

bleichen und trüben Schein zu kleiden.

Dienstag, 9. November 2021

15520-15529

diu frouwe von gebürte hôch

wonte im alle stunde bî.

si was vor ungemüete vrî

unde er senender sorgen rîch:

ir leben daz was ungelîch

unde ir wille und ir gedanc.

sîn senedez ouge sich erswanc

an der vil clâren dicke.

und swenne er sîne blicke

verliez an si besunder,


Die hochgeborne Dame

war stets bei ihm.

Ihr ging es gut

und er war von sehnsüchtiger Sorge erfüllt.

Ihr Leben war unterschiedlich,

und auch ihr Wollen und ihre Gedanken.

Seinen sehnsüchtigen Blick ließ er oft

zur Makellosen schweifen

und immer dann, wenn er seine Augen

auf ihr ruhen ließ,

Mittwoch, 3. November 2021

15510-15519

als einem lieben wîbe

sol ein man von rehte sîn.

solch minne was der künigîn

gar seltsæn unde wilde.

si truoc sîn wîplich bilde,

daz si gesworen hæte des,

daz der juncherre Achilles

ein maget lûterbære

und ein juncfrouwe wære.

Dâ von si nie von im geflôch.


wie ein Mann einer guten Frau

mit Recht ergeben sein soll.

Eine solche Liebe war der Königin

ganz fremd und unbekannt.

Sie verließ sich auf sein weibliches Aussehen,

so dass sie geschworen hätte,

dass der junge Herr Achilles

ein reines Mädchen 

und eine junge Dame sei.

Deshalb nahm sie nie von ihm Reißaus.