Montag, 31. Januar 2022

15900-15909

mit worten ich entsliuze

ir leben unde ir wunnespil.

schimpflicher kurzewîle vil

triben si spât unde vruo.

er sprach ir eteswenne zuo

lieplîche sunder lougen:

›lâ sehen, ob dîn ougen

sint lûter oder mîniu.

mich dunket, daz dir dîniu

sint vil wunneclicher var.‹


Mit Worten offenbare und erkläre ich

ihr Leben und ihre freudigen Neckereien.

Mit Scherzen vertrieben sie sich 

von morgens bis abends die Zeit. 

Irgendwann sagte er zu ihr,

freudig und ernsthaft:

»Lass sehen, ob deine Augen

heller sind oder meine.

Mir scheint, dass deine

viel angenehmer strahlen.«

Donnerstag, 27. Januar 2022

15890-15899

nâch zweiger jungen megde site

und lâzen spinnen altiu wîp!

wer solte quelen sînen lîp

mit sus getâner arebeit?‹

sus wurden würfel dar geleit

und ein bret schœn unde sleht,

ûf dem der wunneclîche kneht

dâ spilte mit der künigîn

eintweder umbe vingerlîn

od umbe senfte biuze.


wie es sich für zwei junge Frauen gehört –

und spinnen lassen wir die alten Weiber!

Wer will sich denen mit

derartigen Mühen abquälen?«

So wurden also Würfel herbeigebracht

und ein schönes, ebenes Brett,

auf dem der liebenswerte Knabe

dort mit der Königin spielte,

entweder um Fingerringe

oder um sanfte Schubser und Stöße.


[»biuz« laut Lexer »schlag, schmiss, stoss« – wobei ich spontan eher mit »Kuss« übersetzt hätte… Auch das neue mittelhochdeutsche Lexikon hat »Schlag, Stoß«.]

Mittwoch, 26. Januar 2022

15880-15889

wan in began wîplicher kunst

zehant verdriezen und beviln.

›wol ûf‹, sprach er, ›wir müezen spiln

iht anders, tugentrîchiu maget.

diz werc mir sêre missehaget,

ichn mac niht langer spinnen.

wir sulen hie gewinnen

ein ander an vil manigen biuz:

her ûf ein bret drî würfel schiuz!

dâ pflegen kurzewîle mite


Weibliche Tätigkeiten nämlich 

bereiteten ihm schnell Unwillen und Verdruss.

»Komm«, sagte er, »lass uns mit etwas anderem

die Zeit vertreiben, liebes Mädchen.

Ich kann nicht länger spinnen, 

denn diese Aufgabe macht mir gar keinen Spaß.

Lass uns gemeinsam

einen Haufen Würfe tun!

Her mit dem Brett, drei Würfel her – und los mit den Würfen!

Damit verbringen wir die Zeit, 

Dienstag, 25. Januar 2022

15870-15879

und ûzer vlahse dræjen

vil manigen vaden vil geslaht.

ein kunkel diu wart im gemaht,

ab der span er dâ cleinez garn.

er muoste nâch der mâze varn,

daz niht der vaden würde grôz,

und als in denne des verdrôz,

sô warf er zuo der wende

unwirslîch ûz der hende

beidiu kunkel und gespunst.


und aus dem Flachs 

viele verschiedene Fäden zu drehen.

Einen Spinnrocken machte man für ihn,

mit dem er dann dünnes Garn spinnen sollte.

Er musste sich beherrschen,

damit der Faden nicht zu dick würde,

und als ihn das dann zu nerven anfing,

da warf er mit seinen Händen beides, 

Rocken und Gespinst,

zornig an die Wand.

Montag, 24. Januar 2022

15860-15869

sô ensolt ouch dû niht vîren

noch müezic sitzen, trûtgespil.

vil gerne sol ich unde wil

dich lêren des beginnen,

daz dû wol künnest spinnen

und næjen hovelîche.‹

sus nam diu tugentrîche

ir sîden unde ir tuoch herfür.

den jungelinc von hôher kür,

den lêrte si dâ næjen


darfst auch du, meine liebe Freundin, 

nicht untätig sein und müßig herumsitzen.

Mit Freude muss und möchte ich

dir beibringen,

gut zu spinnen

und auf höfische Weise zu nähen!«

Dann nahm die Kenntnisreiche

ihre Seide und ihr Tuch zur Hand.

Dem jungen Mann von hohem Stand,

dem lehrte sie dort zu nähen

Freitag, 21. Januar 2022

15850-15859

er hete si bewîset

vil schiere manger fuoge.

tenz unde noten gnuoge

begunde er si dô lêren.

ouch wart er von der hêren

dar ûf gereizet und gemant,

daz wîplich werc von sîner hant

dâ wart getriben und getân.

si sprach: ›sît ich gelernet hân

wol harpfen unde lîren,


Bald hatte er ihr

zahlreiche Fugen beigebracht. 

Dann lehrte er sie Tanzlieder 

und viele Melodien.

Außerdem wurde er von der Herrlichen

ermuntert und dazu gebracht,

mit seinen Händen weibliche Arbeiten

zu verrichten und zu erledigen.

Sie sagte: »Da ich nun gelernt habe, 

mit Harfe und Leier gut umzugehen,  

Donnerstag, 20. Januar 2022

15840-15849

sus wart ir munt heiz als ein kol

von im geküsset denne.

ouch kuste er eteswenne

ir hende lûter unde weich.

er lêrte singen einen leich

die clâren küniginne.

dâ wart Achilles inne

gerüemet bî der stunde.

er selbe von ir munde

mit sange wart geprîset.


wurde ihr Mund von ihm dann 

so heiß wie ein Stück glühender Kohle geküsst. 

Auch küsste er manchmal

ihre reinen, weichen Hände.

Er lehrte die strahlende Königin, 

einen Leich zu singen.

Dafür wurde Achill 

dann gepriesen.

Er selbst wurde durch ihren Mund

mit Gesang gelobt.

Dienstag, 18. Januar 2022

15830-15839

daz im ir cleinen vinger wîz

ze râme kæmen eteswie

und er gedrücken möhte die

nâch sînes herzen luste.

güetlichen er si kuste

ze miete und z’einem lône,

sô si geharpfet schône

und lobelichen hæte.

als er ez drumbe tæte,

daz si gelernet hete wol,


dass ihm ihre kleinen, weißen Finger

irgendwie in die Quere kamen

und er sie nach Herzens Lust

drücken konnte.

Gütig küsste er sie

zum Dank und als Belohnung,

wenn sie schön und

löblich auf der Harfe gespielt hatte.

Da er das deshalb tat,

weil sie gut gelernt hatte,  

Montag, 17. Januar 2022

15820-15829

hie mite er si dô seiten spil

begunde lêren alzehant.

dô sich ir lîp des underwant,

dô gienc ez wol ze handen ir.

si wart mit reines herzen gir

wol harpfend, als er wolte.

swenn er si lêren solte

die seiten mit den henden

berüeren unde wenden,

sô leite er dar ûf sînen vlîz,


Also begann er sogleich damit,

ihr das Saitenspiel beizubringen.

Als sie anfing, sich damit zu beschäftigen,

ging es ihr leicht von der Hand.

Sie wurde – mit dem Willen eines reinen Herzens –

eine gute Harfenspielerin, ganz so, wie er es wollte.

Immer wenn er ihr zeigte,

wie sie mit den Händen die Saiten

berühren und greifen sollte,

dann bemühte er sich darum, 

Donnerstag, 13. Januar 2022

15810-15819

und kâmen des beid über ein,

daz er si lêrte künste vil.

er sprach, ›mîn liebe trûtgespil,

ich wil dich underwîsen des,

daz mich dâ lêrte Achilles,

dô wir ein ander wâren bî.

waz lîren unde harpfen sî,

daz solt dû künnen, werdiu fruht.

ich lêre dich sîn die genuht,

wan ich kan ir beider vil.‹


und vereinbarten beide,

dass er sie viele Künste lehren würde. 

Er sagte: »Meine liebe Freundin,

ich will dir das beibringen,

was mich Achill lehrte,

als wir zusammen waren. 

Mit der Leier und der Harfe

solltest du umgehen können, edles Geschöpf.

Ich bringe Dir beides bei,

denn ich kenne mich mit beidem aus.« 

Mittwoch, 12. Januar 2022

15800-15809

den nam diu sælic unde enpfienc

vür guot von im spât unde fruo,

noch het arcwânes niht dar zuo,

daz er mit ir was gemelich.

dô si gefröuten sament sich

ûf der plânîe lange

und von der vogele sange

ein hôchgemüete enpfiengen,

dô kêrtens’ unde giengen

mit ein ander wider hein


die nahm die vom Glück Gesegnete hin

und dachte sich weder morgens noch abends etwas dabei,

vermutete dahinter auch nichts Böses,

dass er so ausgelassen mit ihr umging. 

Nachdem sie lange auf der 

Ebene gemeinsam eine freudvolle Zeit verbracht hatten

und der Gesang der Vögel

in ihnen ein Glücksgefühl ausgelöst hatte,

gingen sie miteinander

zurück, wieder nach Hause, 

Dienstag, 11. Januar 2022

15790-15799

als inneclîche tücke schîn,

daz si wol mohte hân gesehen,

daz im unsanfte was geschehen

von ir und von ir lîbe.

dô was eht einem wîbe

sîn clârez bilde sô gelîch,

daz diu juncfrouwe tugentrîch

getriuwen mohte niht, daz er

ûf si trüeg eines mannes ger.

Swaz schimpfes er mit ir begienc,


zeigte er ihr, was in ihm vorging,

so dass sie sicherlich hätte sehen können,

dass ihm durch sie

Unheil zugefügt wurde.

Da aber sein strahlendes Äußeres

einer Frau so ähnelte,

konnte das tugendhafte Mädchen

nicht auf den Gedanken kommen, dass er 

ihr mit dem Begehren eines Mannes begegnete. 

Ganz egal, welche Späße er mit ihr trieb,

Montag, 10. Januar 2022

15780-15789

und alsô bleich von sender nôt,

daz ez der minne wol geviel.

sîn herze in ungemüete wiel

unde in grimmer nœte starc,

daz er mit rede alsô verbarc,

daz si niht mohte wizzen,

daz er sô gar verflizzen

was ûf ir minne tougen.

er tet ir mit den ougen

und mit der wîzen hende sîn


so rot und so bleich,

dass die Liebe ihre Freude daran hatte.  

Sein Herz wurde von Kummer bewegt

und von schlimmer, heftiger Qual,

weil er, damit sie es nicht erfuhr,

mit Worten verborgen hielt,

dass er mit Haut und Haaren

heimlich in Liebe zu ihr entbrannt war.

Mit den Augen 

und mit seinen weißen Händen