Donnerstag, 30. September 2021

15390-15399

des vröute sich der jungelinc,

der einer megde bilde pflac.

sîn leben und sîn wunne lac

gar an Dêîdamîen,

dâ von er sich dâ vrîen

wolt ir geselleschefte niht.

sîn herze truoc die zuoversiht,

si gæbe sîme leide ein zil;

dar umbe er dô wart ir gespil

und ir geselle gerne.


Darüber freute sich der junge Mann,

der dort als Mädchen auftrat.

Sein Leben und sein Glück hing

ganz und gar an Deidamia,

so dass er gar nicht vorhatte, 

sich aus dieser Freundschaft zu befreien.

Im Herzen trug er die Hoffnung,

dass sie seinem Leid ein Ende setzen würde;

deshalb wurde er nun mit Vergnügen

ihr Gefährte und ihr Freund.

Mittwoch, 29. September 2021

15380-15389

mit worten ir sô heimlich dâ,

daz si gelobten beide

bî triuwen und mit eide,

daz si gespilen wæren

und allen valsch verbæren,

der lîp und êre swachet.

ein sicherheit gemachet

wart under in mit stæter craft

und ein sô ganz geselleschaft,

daz nieman schiede ir zweiger dinc:


durch Worte so vertraut,

dass sie sich beide hoch und heilige

versprachen,

Freundinnen zu sein

und alle Art von Bosheit zu unterlassen,

die eine der beiden und deren Ansehen herabsetzen würde.

Sie schlossen zu zweit 

ein dauerhaftes Bündnis

und eine so vollkommene Gemeinschaft,

dass niemand ihre Beziehung würde zerrütten können.   

Donnerstag, 23. September 2021

15370-15379

von dirre kiuschen megde schar,

die zuo ir alle giengen

und si lieplîche enpfiengen

mit rede und mit gebâre.

ze jungest nam diu clâre

Dêîdamîe bî der hant

die stolzen maget unbekant

und fuorte si besunder.

si treip mit ir ein wunder

geriunes unde wart iesâ


von der Schar dieser sittsamen Mädchen,

die alle zu ihr gingen 

und sie mit Worten und durch ihr ganzes Auftreten

freundlich empfingen.

Dann schließlich nahm die makellose

Deidamie das stolze, fremde Mädchen 

bei der Hand

und führte sie von der Gruppe weg.

Sie fing mit ihr an, heftig zu tuscheln,

und so wurden sie ihr dort bald

Mittwoch, 22. September 2021

15360-15369

ir kôsen unde ir kiuten

wirt mit ir vil manicvalt.

ze jungest einiu mit gewalt

si füeret ûz in allen,

der ist sô wol gevallen

beid ir gebærde und ir getât,

daz si mit ir ze neste gât

und sich zuo ir gesellet.

sus wart ouch umbestellet

diu vremde Jocundille gar


Ihr Gekose und ihr Gurren

wird mit ihr noch vielfältiger.

Zuletzt schließlich wird sie aus dem Kreis aller

von einer herausgeführt,

der ihre Bewegungen und ihr Auftreten

so gut gefällt,

dass sie mit ihr ins Nest geht

und zu ihrer Begleiterin wird.

Ganz so wurde auch die fremde Jocundille

ganz und gar eingekreist 

Dienstag, 21. September 2021

15350-15359

si tâten als dâ tûben vil

wont bî ein ander eteswâ,

kumt under si ein vremdiu dâ

geflogen und gegangen,

si wirt vil schône enpfangen,

wan si loufent alle dar

und umbestânt si mit ir schar

gemeine und albesunder.

si lânt gedœnes wunder

dâ schellen unde erliuten.


Sie verhielten sich wie eine Menge Tauben,

die sich irgendwo versammeln:

Kommt oder fliegt in deren Mitte

eine fremde Taube,

dann wird sie sehr gut empfangen,

indem sie alle dorthin laufen

und sie gemeinsam und jede für sich

mit ihrer ganzen Schar umringen.

Dort erzeugen und verbreiten sie eine

sagenhafte Menge an Lärm. 

Montag, 20. September 2021

15340-15349

Dêîdamîe, als ich ez las,

diu truoc ir aller wunne kranz,

doch was ir lîp kûm alsô glanz,

sô der juncherre Achille,

der sich dâ Jocundille

geheizen hete bî der zît.

umb in huop sich dâ michel strît,

welch frouwe in haben solte.

ir iegelîchiu wolte,

daz er würde ir trûtgespil.


Deidamia, so habe ich gelesen, war, was das Wohlgefallen anbelangt,

diejenige unter ihnen, die den Ehrenkranz trug,

doch glänzte ihr Körper kaum so sehr

wie der des jungen Herrn Achill,

der sich dort und zu dieser Zeit

Jocundille nannte.

Um ihn entbrannte dort ein großer Streit,

welche Dame ihn haben durfte.

Jede von ihnen wollte,

dass er ihre vertraute Freundin werde. 

Freitag, 17. September 2021

15330-15339

sô diu juncfrouwe vil gemeit.

Si wart dâ wol geprîset

und in ein lop gewîset,

daz hôhen êren wol gezam.

ouch schein ir lîp sô lustsam

und alsô gar liutsælic,

daz die juncfrouwen alle sich

von rehte ir lobes vlizzen.

vür wâr sult ir daz wizzen,

daz ir dekeine schœner was.


wie die stattliche junge Dame. 

Sie wurde dort sehr gelobt

und mit einem Maß an Anerkennung ausgestattet,

wie es hohem Ansehen entspricht.

Auch zeigte sich ihr Körper so anmutig

und den Menschen derart wohlgefällig,

dass sich die jungen Damen alle

zurecht mit Beifall kaum zurückhalten konnten.

Wahrlich, das müsst ihr wissen:

keine von ihnen war schöner!

Donnerstag, 16. September 2021

15320-15329

diu dâ von eime jungen man

gebildet z’einer megde was.

ûf si wart in dem palas

ein luogen unde ein warten.

die megde ir alle zarten

begunden unde muosten jehen,

daz von in würde nie gesehen

kein maget sô lûterbære,

diu zuo den brüsten wære

sô wît und alsô rehte breit,


die gerade von einem jungen Mann

zu einem Mädchen gemacht worden war.

Sie wurde in dem Palas

besehen und beobachtet.

Die zarten Mädchen 

mussten ihr alle zugestehen,

dass sie alle noch nie

ein derart reines Mädchen gesehen hatten,

das an den Brüsten

so kräft und so breit war

Mittwoch, 15. September 2021

15310-15319

man sach si vrô gebâren

und üeben hôher wunne vil,

dur daz in aber ein gespil

was geschicket in ir schar.

si liefen algelîche dar

und umbestuonden si zehant.

ir schœnen lîp und ir gewant

durlobten si besunder

uns sâhen z’einem wunder

die clâren Jocundillen an,


Man sah, dass sie glücklich waren,

und sie hatten großen Spaß miteinander,

weil eine neue Gefährtin

in ihre Gemeinschaft geschickt worden war.

Sie alle liefen sogleich herbei

und umringten sie.

Besonders ihr schönes Aussehen und ihre Kleidung

überschütteten sie mit Lob

und ganz wie eine wunderbare Erscheinung betrachteten sie 

die strahlende Jocundille, 

Freitag, 10. September 2021

15300-15309

sus nam der künic die frouwen

und ir sun, als ich ez las,

der worden z’einer megde was,

und fuorte si mit im dar hein.

mit ganzen triuwen sunder mein

bôt er in beiden hôhe zuht.

sich huop dâ fröude mit genuht

und hovelichez schallen

von den juncfrouwen allen,

die sîne tohter wâren.


Dann nahm der König, so habe ich es gelesen,

die Dame und ihren Sohn,

der zu einem Mädchen geworden war,

und führte sie mit sich in sein Haus.

Mit ganzer Aufrichtigkeit, ohne böse Absichten,

erwies er sich gegenüber beiden als vorbildlicher Gastgeber. 

Dort begannen all die Mädchen

die seine Töchter waren

mit freudigen Vergnügungen in Hülle und Fülle

und man hörte höfischen Trubel.

Donnerstag, 9. September 2021

15290-15299

der künic tugentveste

begunde vrâgen si zehant,

wie geheizen und genant

ir schœniu tohter wære,

dô sprach diu wunnebære:

›si heizet Jocundille

und ist ir lîp Achille

sô gar gelîch an allen siten,

als ob si von im sî gesniten

und êrst ab im gehouwen.‹


Der vortreffliche König

fragte sie sogleich,

wie ihre schöne Tochter

heiße.

Darauf sagte die Bezaubernde:

›Sie heißt Jocundille

und ihr Körper entspricht dem des Achill

in jeder Hinsicht und so vollkommen,

als wäre sie sie ihm nachgebildet

und nach seinem Bild gestaltet worden.‹ 

Dienstag, 7. September 2021

15280-15289

dâ von er dô gewerte

die muoter sîn ir süezen bete.

erfüllet er vil schiere hete

ir willen unde ir muotes gir

und seite danc der êren ir,

daz s’in dar zuo het ûz erkorn,

daz im ir tohter hôchgeborn

bevolhen würde in sîne pflege.

er sprach, er wolte ir alle wege

mit willen tuon daz beste.


so dass er nun seiner Mutter

ihre liebevolle Bitte gewährte. 

Sogleich wollte er tun,

was sie wünschte und was sie ihm angetragen hatte

und bedankte sich bei ihr für die Ehre,

dass sie gerade ihn ausgewählt hatte,

um ihre hochgeborene Tochter

in seine Obhut zu geben.

Er sagte, er wolle sich stets nach Kräften

um ihr Wohlergehen bemühen.

Montag, 6. September 2021

15270-15279

in dûhte, daz er solte

dâ von getiuret iemer sîn,

daz ein sô werdiu künigîn

und ein götinne von dem mer

geruochte ir kint in sîne wer

bevelhen unde antwürten.

ir ougen beide spürten

niht anders an Achille,

wan daz sîn reiner wille

und sîn gemüete gerte,


Er glaubte, dass er dadurch auf ewig

an Ansehen gewinnen werde,

wenn eine derart angesehene Königin

und eine Göttin des Meeres

ihr Kind seinem Schutz anvertrauen 

und übergeben wolle.

Ihre beiden Augen konnten

an Achill nichts anderes entdecken

als das Begehren, das in seinem reinen Willen lag

und in seinem ganzen Denken und Wollen,

Freitag, 3. September 2021

15260-15269

dur daz si zuo dem walde iht var

und iu dar ûz entrinne.

daz si næj unde spinne,

des si getriben lützel hât,

daz ist mîn bete und ouch mîn rât.

Der künic Lycomêdes

sich vröute in sînem muote des,

daz er der êren wart gewis,

daz im diu frouwe Têtis

ir tohter lâzen wolte.


damit sie nicht in den Wald geht

und euch von dort dann entflieht. 

Nähen und spinnen soll sie,

was sie bisher nicht getan hat,

das ist meine Bitte und mein Rat.

Lycomedes, der König,

freute sich darüber – ohne es zu zeigen –,

dass ihm die Ehre zukommen würde,

dass ihm Thetis, die angesehene Herrin,

ihre Tochter übergeben wollte. 

Donnerstag, 2. September 2021

15250-15259

ob si diu schif gesæhe,

diu von dem lande kêrent her,

si füere enwec, des bin ich wer,

und müeste ich haben si verlorn.

vil werder künic hôchgeborn,

dâ von beschirmet wol die maget!

si birset leider unde jaget

vil gerne z’allen stunden;

des lânt si werden funden

in stæteclicher huote gar,


Wenn sie die Schiffe sähe,

die aus Griechenland hierher kommen,

dann würde sie davonfahren, das könnt ihr mir glauben,

und dann hätte ich sie verloren. 

Beschützt das Mädchen davor,  

edler, hochgeborener König!

Sie hat leider andauernd

große Lust, auf die Jagd zu gehen;

sorgt deshalb dafür, dass

man beständig auf sie aufpasst,  


Mittwoch, 1. September 2021

15240-15249

die wîle daz ich leben sol,

verschulde ich gerne die getât,

daz iuwer tugentlicher rât

die maget vor unzühten spar

und iemer si dâ vor bewar,

daz si zuo dem mer iht gê,

sô von den Kriechen über sê

die kiele stôzen hie ze stade.

ich fürhte sêre, daz mir schade

vil lîhte an ir geschæhe.


So lange ich lebe

stünde ich dafür in eurer Schuld,

dass euer rechtschaffener Beistand

das Mädchen vor der schändlichen Dummheit bewahren

und sie davon stets abhalten würde,

zu dem Meer zu gehen,

wenn die Griechen mit ihren Schiffen vom anderen Meeresufer 

hier an der Küste anlanden.

Ich habe große Angst davor, 

dass ihr ein Leid angetan würde.