Montag, 31. Oktober 2022

17110-17119

ouch muoz ich lîhte mînen lîp

verliesen von der schulde dîn,

bevindet ez der vater mîn,

daz dû mich hâst beslâfen.

ach wê mir unde wâfen!

wie bin ich sus in angest brâht.

hât mich Unsælde alsô bedâht,

daz ich ein kint beginne tragen,

sô muoz ich weinen unde clagen

biz ûf mîner jâre zil.


Auch werde ich wegen dir

mein Leben verlieren,

wenn mein Vater erfährt,

dass du mit mir geschlafen hast.

Ach, zur Hilfe! Ich Arme,

dass ich derart in Bedrängnis geraten bin,

wenn das Unglück mich dazu auserwählt,

dass ich mit einem Kind schwanger bin,

dann werde ich weinen und klagen müssen,

bis an das Ende meiner Tage.

Freitag, 28. Oktober 2022

17100-17109

swenn ich von dir getrogen hie

wart in wîbes bilde.

dir müeste sîn gar wilde

gewesen mîn gesellikeit,

het ich an dir die trügenheit

erkennet und verstanden.

mîn lop in disen landen

ze tôde wirt geswachet,

wirt iemer kunt gemachet,

daz ich worden bin dîn wîp.


wenn ich von dir jedes Mal

in weiblicher Verkleidung betrogen wurde?!

Du hättest gar nicht 

mit mir zusammen sein dürfen,

wenn ich deinen Betrug

erkannt hätte.

Mein Ansehen in diesen Ländern

wird ganz zugrunde gehen,

wenn irgendwer erfährt,

dass ich deine Frau geworden bin.

Donnerstag, 27. Oktober 2022

17090-17099

dar an möht ich wol hân gesehen,

daz dû füer ûf der manne spor.

mir was von dir diz allez vor,

daz mir von dir geschehen ist

und mohte doch ze keiner vrist

mich vor dir behüeten.

ich möhte in leide wüeten,

dur daz ich bin geswachet sus.

waz solte mir vil manic kus,

den ich von dîme munde enpfie,


Daran hätte ich klar erkennen können,

dass du auf den Spuren der Männer wandelst. 

Du hast mich eigentlich all das erkennen lassen,

was mir von dir geschehen ist –

und doch konnte ich zu keiner Zeit

mich vor dir schützen. 

Ich könnte vor Leid wahnsinnig werden,

dass ich auf diese Weise derart erniedrigt wurde.

Was nützen mir die vielen Küsse,

die ich von deinem Mund erhielt,


[»vor sîn« hier wohl sowas wie »sichtbar sein«, »erkennbar sein«]

Freitag, 14. Oktober 2022

17080-17089

mîn hant diu leit vil manigen druc,

der zuo der minne sich gezôch.

owê, daz ich von dir niht flôch,

dô dû sô rehte dicke

mir leitest dîne stricke

mit rede und mit gebâre.

dû gienge mir ze vâre

den âbent und den morgen

und lieze dich verborgen

bî mir alle stunde spehen.


Meine Hand hat so manchen Stoß ertragen,

der eher zur Liebe zählt und gehört.

Oh weh!, dass ich nicht vor dir geflohen bin,

als du mich so Stück für Stück

hast in die Falle gehen lassen,

mit Worten und Werken.

Du hast mir Morgens und Abends 

nachgestellt

und hast dich verkleidet

die ganze Zeit hindurch bei mir sehen lassen. 

Donnerstag, 13. Oktober 2022

17070-17079

ich bin sîn hie gepfendet

von dir ân alle mîne schult.

dû hâst mit grôzer ungedult

an mir zerbrochen dîne zuht

und mînes magetuomes fruht

enpfüeret und gezücket mir.

weizgot, ich möhte wol an dir

gemerket mannes bilde hân,

dô mir kunt von dir getân

wart sô manic wilder tuc.


Mir ist dieses Pfand genommen worden,

von dir, ganz ohne meine Schuld.

Du hast mit großer Ungeduld

an mir deine Manieren und deinen Anstand ruiniert

und mir die Frucht meiner Jungfräulichkeit

entführt und genommen.

Weißgott, ich hätte dir

die Männlichkeit anmerken können,

als du mich so viel

Wildheit hast sehen lassen. 

Mittwoch, 12. Oktober 2022

17060-17069

si kunde alsam ein schemic wîp

gebâren wol und arten,

wan si begunde zarten

und ein vil lützel weinen,

dô si verlôs ir reinen

unde ir clâren magetuom.

»owê«, sprach si, »der wirde ruom,

der von hôher kiuscheit

an mich von kinde was geleit,

der hât sich nû verendet.


Sie war in der Lage, sich wie eine schamhafte Frau

zu verhalten,

denn sie zeigte sich sensibel

und begann ein wenig zu weinen,

als sie ihre reine

und makellose Jungfräulichkeit verloren hatte.

»Oh weh!«, sagte sie, »Die Würde und das Ansehen

die als wertvolle Unschuld

mir von Kind an gegeben waren, –

damit ist es nun vorbei. 

Dienstag, 11. Oktober 2022

17050-17059

genomen het ein ende

Dêîdamîen trûren,

wan si begunde mûren

ze herzen ganzer wunne spil.

si truoc erwelter vröude vil

und wart vil hôhes muotes rîch,

doch tet diu schœne dem gelîch,

als ob si leidic wære

der sache und dirre mære,

daz ir enblüemet was der lîp.


Deidamias Traurigkeit

hatte ein Ende genommen,

weil sie in ihrem Herzen

eine Mauer aus Glückseligkeit zu errichten begann.

Sie hatte eine Menge herrlicher Freuden angehäuft

und war bester Stimmung,

doch tat die Schöne so,

als ob sie litte

wegen der Sache und dieser neuen Situation,

dass sie nämlich ihrer Blume beraubt worden war.

Montag, 10. Oktober 2022

17040-17049

gelîche dâ gewegen wart.

In was vil herzelichen wol.

si wurden ganzer wunne vol

und wart ir liep gemeine.

diu hôchgeborne reine

wart swanger in der selben naht.

ein kint gar edel und geslaht

diu wunneclîche frouwe enphie,

daz sît vil starkiu dinc begie

mit ellenthafter hende.


in gleicher Höhe festgesetzt worden war.

Es ging ihnen von Herzen gut;

von Glücksgefühlen waren sie ganz erfüllt

und Freude ergriff sie beide.

Die reine und noble

wurde in derselben Nacht schwanger.

Die schöne Dame empfing

ein edles Kind,

das später viele große Taten vollbrachte,

mit tapferen Händen.