Freitag, 30. Juli 2021

15180-15189

diu swester bî dem bruoder hât

gelernet vrevelichen varn,

dâ vor sô wil ich si bewarn

und behüeten gerne.

daz si die fuoge lerne,

diu juncfrouwen schône stê,

dur daz bin ich her über sê

mit ir gestrichen, herre wert.

diu tumbe muotet unde gert,

daz si mannes site habe


Die Schwester hat vom Bruder

Kühnheit und Unerschrockenheit gelernt –

genau davor möchte ich sie gerne 

schützen und behüten.

Damit sie den Anstand lerne,

der jungen Damen gut zu Gesicht steht,

deshalb bin ich über das Meer hierher 

mit ihr gereist, verehrter Herr.

Das törrichte Mädchen will

sich männlich verhalten

Donnerstag, 29. Juli 2021

15170-15179

ir bruoder ist Achilles,

der vrevel ist und ellentrîch.

nû schouwent, wie gar im gelîch

diu sûberlîche maget sî.

swer nû in beiden wonte bî,

der spurte an ir gelâze,

daz wol in einer mâze

wære ir zweiger bilde.

ir beider muot ist wilde,

daz schînet wol an ir getât.


Achill ist ihr Bruder,

der kühn ist und mutig.

Schaut nur, wie unglaublich ähnlich 

ihm das adrette Mädchen sieht!

Wer auch immer beide sehen könnte,

der würde an ihrer Gestalt 

das einheitliche Erscheinungsbild 

der beiden erkennen. 

Heißblütig sind sie beide,

das sieht man gut bei allem, was sie tun.

Mittwoch, 28. Juli 2021

15160-15169

helf unde rât ich suochen sol;

diu beidiu lânt mir werden schîn!

seht, herre, disiu tohter mîn,

diu gar ein vrechiu maget ist,

hân ich iu brâht ze dirre vrist,

dur daz si kome in iuwer pflege

und ir si lêren alle wege

bescheidenheit und êre.

vil tiure und ouch vil sêre

wil ich iu muoten, herre, des.


Hilfe und Rat benötige ich;

lasst mir beides zuteil werden!

Schaut, Herr, meine Tochter hier,

die ein überaus lebhaftes Mädchen ist,

habe ich euch nun gebracht,

damit sie in eure Obhut komme

und ihr von euch beigebracht werde, 

in Anstand und Ansehen zu leben.

Mit aller Dringlichkeit und großem Nachdruck

will ich euch, Herr, darum bitten.

Dienstag, 27. Juli 2021

15150-15159

Têtis diu frouwe lobesam

dô für den werden künic gienc,

der si gar minneclîche enpfienc

unde ir zuht und êre bôt.

ûz wîsem munde rôsenrôt

sprach diu vil schœne wider in:

›ûf gnâde ich, herre, komen bin

dâ her in iuwer eigen lant.

mich hât ein kumber ûz gesant,

den büezet iuwer tugent wol.


ging Thetis, die vielgelobte,

zum edlen König,

der sie mit vollendeter Freundlichkeit empfing

und mit Anstand und ehrenvoll mit ihr umging. 

Mit rosenrotem, weisem Mund

sagte die überaus Schöne zu ihm:

›Herr, ich bin in Hoffnung auf euer Wohlwollen und eure Gnade

hierher in euer Land gekommen.

Kummer war es, der mich losgeschickt hat,

und den eure Vortrefflichkeit leicht beenden kann.

Montag, 26. Juli 2021

15140-15149

dâ Pallas inne mit gebeten

wart gerüemet harte vil.

ir wart dâ manic seiten spil

ze prîse erclenket lûte.

mit bluomen und mit krûte

beströuwet was der esterich.

vil manic kerze wunneclich

bran ir ze lobe enwiderstrît.

nû man begienc die hôchgezît

und daz fest ein ende nam,


worin Pallas mit Gebeten

immer wieder und wieder gepriesen und verherrlicht wurde.

Saiteninstrumente erklangen immer wieder 

laut zu ihren Ehren.

Mit Blumen und Gräsern

war der Boden bestreut.

Zahlreiche schöne Kerzen

brannten im Wettstreit miteinander zu ihrem Lob.

Als man nun das Fest gefeiert hatte

und die Vergnügungen ein Ende nahmen,  

Donnerstag, 22. Juli 2021

15130-15139

niht ûz dem wege luoge

und lâ dîn umbekapfen!

mit lîsen fuozstapfen

ganc für dich tougen unde slîch!

diu cleider edel unde rîch

trag vorne mit der hende enbor,

daz si niht hangen in daz hor.‹

Mit disen worten unde alsô

wârens’ in daz tempel dô

zuo der hôchgezît getreten,


Halte Deinen Blick gerade

und hör auf, umher zu gaffen!

Geh mit sanften Schritten vorwärts,

unauffällig und schleichend!

Die edlen und prächtigen Kleider

musst du vorne mit den Händen hochhalten,

damit sie nicht den schmutzigen Boden berühren.‹

Mit diesen Worten  

betraten sie schließlich den Tempel,

wo das Fest stattfand, 

Mittwoch, 21. Juli 2021

15120-15129

doch kunde er, noch enmohte

gebâren dâ sô rehte niht.

sîn ouge lieze diu gesiht

dick ûzer wege swingen.

nâch wildenclichen dingen

wolt er ze balde schrîten,

sô hiez in Têtis bîten

und sprach im aber tougen zuo:

›niht alsô wildeclîche tuo!

var unde wirp gefuoge!


Dennoch konnte er sich dort

nicht so wirklich angemessen verhalten – dazu war er nicht in der Lage.

Seine Augen verließen oft ihre Bahn

und wichen von den Gesichtern ab.

Seinen maßvollen Gang

war wild und viel zu kühn

und so bat ihn Thetis stillzustehen

und sagte wiederum heimlich zu ihm:

›Sei nicht so wild!

Geh und verhalte dich angemessen! 

Dienstag, 20. Juli 2021

15110-15119

die frouwen lûter unde blanc

wol gefüeret hæte dan.

dô sach er sîne muoter an

und wolte die niht swachen,

noch mit unzühte machen

ir hôhen êre cleine,

reht als ein maget reine,

sus tet er und gebârte.

gelimpfes er dâ vârte,

der wîbes êren tohte.


die reinen, makellosen Damen

von dort ohne Schwierigkeiten fortgebracht hätte.

Als er aber seine Mutter ansah,

wollte er sie nicht erniedrigen 

oder mit unanständigem Verhalten

ihr hohes Ansehen verringern;

er verhielt sich und handelte so,

wie ein makelloses Mädchen.

Anständig verhielt er sich,

so wie es dem Ansehen von Frauen gebührte.  

Montag, 19. Juli 2021

15100-15109

er was ir werden lîbes fruht,

dâ von tet er, daz si gebôt.

zer megde was im alsô nôt

und zuo der clâren künigîn,

hæt er die lieben muoter sîn

niht an ir gêret bî der zît,

si wære ân allen widerstrît

von im gezücket und genomen.

sîn kraft diu was sô vollekomen,

daz er âne ir aller danc


Er war der Sproß ihres edlen Leibes,

deshalb tat er, was sie ihm auftrug.

Zum Mädchen und zu der strahlenden Königin

zog es ihn mit einem derartigen Drang,

dass er sie, hätte er sie zuvor von seiner liebe Mutter

nicht begehrt,

gegen jeden Widerstand

ergriffen und geraubt hätte.

Er hatte eine derart überragende Kraft,

dass er gegen den Willen aller

Donnerstag, 15. Juli 2021

15090-15099

daz er dâ solte mîden

die vrevelîche tücke sîn

und tragen einer megde schîn,

daz gienc im an sîn herze.

iedoch twanc in der smerze,

den er von der minne leit,

daz er den site dâ vermeit,

des er dâ vor gepflegen hete.

ouch lêrte in sîner muoter bete,

daz er behielt dô sîne zuht.


Dass er dort auf seine gewohnte

Unerschrockenheit verzichten sollte,

um sich als Mädchen zu zeigen,

das traf ihn in sein Herz.

Dennoch zwang ihn der Schmerz,

den er durch die Liebe litt,

dass er auf seine Gewohnheiten,

die er zuvor gepflegt hatte, verzichtete.   

Zudem brachte ihn die Bitte seiner Mutter dazu,

dass er dann seinen Anstand wahrte. 

Mittwoch, 14. Juli 2021

15080-15089

wan er der sprünge sîn enbirt

ungerne bî den stunden.

vil kûme er wirt gebunden,

wan er sîn ê was ungewon.

sus tete Achille diz gedon,

daz er dâ wider sîner art

betwungen von der minne wart,

daz er wîbes bilde truoc.

er wart beswæret drumbe gnuoc

und muoste iedoch ez lîden.


weil das Fohlen ungern darauf verzichtet,

umherzuspringen. 

Nur schwer lässt es sich zügeln,

denn bisher war es daran nicht gewöhnt.

So erging es Achill mit diesen Bemühungen,

weil er dort ganz gegen seine Natur

von der Liebe bezwungen worden war, 

so dass er sich als Frau präsentieren musste.

Dies bereitete ihm große Mühe,

und dennoch musste er es ertragen. 

Dienstag, 13. Juli 2021

15070-15079

er leite dar ûf sînen muot,

daz er behielte ir wîsen rât.

doch wizzent, daz er wîbes wât

vil unsanfte mohte doln.

im was als einem wilden voln,

der gêt in sîner vrîheit.

daz dem ein zoum wirt an geleit

unde ein satel ûfe sich,

daz dunket in sô kumberlich,

daz er beswæret drumbe wirt,


Er nahm sich vor,

ihren weisen Rat zu befolgen,

doch müsst ihr wissen, dass er Frauenkleidung

nur schwer ertrug.

Ihm ging es wie einem wilden Fohlen, 

das es gewohnt ist, sich frei zu bewegen.

Dass ihm ein Zaum angelegt wird,

und ein Sattel aufgeschnallt,

das fühlt sich so mühsam an, 

und bedrückend, 

Montag, 12. Juli 2021

15060-15069

betriegen hie mit kündikeit,
dur daz si den gelouben hân,
dû sîst ein maget wol getân
und si dich lâzen under in.
dû maht die zît mit vröuden hin
verjagen und vertrîben.
swie dû kanst hie belîben,
dir wirt ein wunneclichez leben
von stolzen megden hie gegeben.‹
Diu lêre Achillen dûhte guot.

hier mit Klugheit hinters Licht führen,
damit sie nicht daran zweifeln,
dass du ein schönes Mädchen seist
und damit sie dich in ihrer Gemeinschaft bleiben lassen. 
Du wirst die Zeit fröhlich und freudig
verbringen und dir vertreiben.
Wenn es gelingt, dass du hier bleiben kannst,
wird dir hier von den würdevollen Mädchen
ein angenehmes Leben bereitet werden.‹
Diese Unterweisung schien Achill erfreulich zu sein.

Donnerstag, 8. Juli 2021

15050-15059

die stimme dîn verkêre

und lâ si werden cleine!

als ein juncfrouwe reine

al dîniu wort lancseime ziuch!

von ungefüegen mannen fliuch,

sô daz si dich niht rüeren:

wan si vil lîhte erfüeren,

daz dû wærest in gelîch.

alsô muost dû den künic rîch

und sîne tohter vil gemeit


Verändere deine Stimme,

damit sie zart klingt!

Als makelloses Mädchen 

musst du alle deine Worte langsam sprechen!

Halte dich von unanständigen Männern fern,

sodass sie dich nicht in ihre Finger bekommen,

weil sie schnell herausfänden,

dass du so bist wie sie.

Auf diese Weise musst du den mächtigen König

und seine liebe Tochter

Mittwoch, 7. Juli 2021

15040-15049

mit lîbe und mit gewande
gebâre als ein wol zühtic maget!
swaz wîsen liuten wol behaget,
des enlâ dich niht bevilen.
wart alle zît ûf die gespilen,
wie si gebâren unde leben.
ir zuht diu sol dir bilde geben
ûf alle vröuwelîche site.
volg unde wone ir râte mite
und lebe nâch ir lêre!

Sowohl mit deinem Körper wie mit deiner Kleidung
musst du dich wie ein anständiges Mädchen verhalten!
Was auch immer weisen Leuten gefällt,
das soll dich nicht verdrießen.
Achte stets auf die Freundinnen; darauf,
wie sie sich verhalten und wie sie leben.
Ihr Anstand muss dir ein Vorbild sein,
was jede Art weiblichen Verhaltens angeht.  
Folge und achte ihren Rat
und richte dein Leben nach ihren Ratschlägen aus! 

Dienstag, 6. Juli 2021

15030-15039

an ezzen und an tranke

lâ kiusche dich beschouwen!

bî ritter und bi frouwen

sitz âne missewende!

dîn ûz erwelten hende

gezogenlîche vür dich twinc!

ûf alliu tugentlîchiu dinc

soltû kêren dînen vlîz,

dur daz dû sunder itewîz

belîbest hie ze lande.


Beim Essen und Trinken 

musst Du Zurückhaltung und Anstand zeigen!

Wenn du bei Rittern und Damen sitzt,

dann immer auf tadelose Art und Weise! 

Deine wunderbaren Hände

musst du, so wie es sich gehört, vor dir falten. 

Dein Bemühen muss 

stets auf alles Anständige gerichtet sein,

so dass du dich ohne Schmach und Tadel

hier im Land aufhältst. 

Montag, 5. Juli 2021

15020-15029

dû solt dich bœser worte schamen,

swâ man si vor dir sprechen wil.

gerede ouch selbe niht ze vil!

daz êret hôchgeborniu wîp.

vrâg ieman ihtes dînen lîp,

des gip antwürte im über lanc!

lâz einen wîsen fürgedanc

behüeten al die sprüche dîn!

dû solt der zühte vlîzic sîn

mit sinne und mit gedanke.


Über bösartige Worte hast du dich zu schämen,

wann immer man sie in deiner Anwesenheit ausspricht.

Rede auch selbst nicht zu viel!

Das verschafft edlen Frauen Ansehen.

Wenn dich jemand etwas fragt,

dann antworte ihm nicht sofort, sondern nach einiger Zeit!

Lass eine weise Voraussicht

all deine Reden behüten!

Um Anstand hast du dich stets zu bemühen,

mit ganzem Sinn und Verstand.

Freitag, 2. Juli 2021

15010-15019

daz dû vor wilden blicken

behüetest wol dîn ougen.

sich vür dich allez tougen

und habe dîn houbet stille!

getriuwer sun Achille,

kein übel dû gelimpfe!

unhovelicher schimpfe

niht lache, noch ensmiere!

mit reiner tugende ziere

dîn herze und dînen werden namen!


dass du deine Augen

vor ungestümen Blicken beschützt.

Beobachte alles ganz heimlich

und halte deinen Kopf still!

Achill, mein guter Sohn, 

sei unnachsichtig gegen allem Übel!

Über unhöflichen Spott

darfst du weder lachen noch grinsen!

Schmücke dein Herz und deinen angesehenen Namen

mit reiner Tugend!