Freitag, 13. Dezember 2024

22110-22119

dur waz solt ich mîn êre

durch iuch hie wâgen und mîn leben?

ich sol der minne widerstreben

mit stæteclicher triuwe.

ir craft ist noch sô niuwe,

daz ich si wol geswache

und alsô cranc gemache,

daz si mir cleinen schaden birt.

ein fiur, daz êrst enzündet wirt,

daz ist zehant zergenget.


Warum sollte ich mein Ansehen und mein Leben

um euretwillen aufs Spiel setzen?

Ich muss der Liebe mit fester Treue 

Widerstand leisten.

Ihre Macht ist noch so neue und jung,

dass ich sie schwächen 

und so schwach machen kann,

dass sie mir wenig schadet.

Ein Feuer, das frisch entzündet wird,

das verlöscht leicht und schnell. 

Donnerstag, 12. Dezember 2024

22100-22109

owê, daz ich niht haben sol

daz heil in kurzen stunden,

daz ich würd überwunden

von iu gewalteclichen noch

der dinge, der ich muote doch!

War umbe rede ich aber daz?

ich hæte wol gewünschet baz,

wær ich bescheiden unde wîs.

mîn zunge swachet mînen prîs

mit worten alze sêre.


Ach, dass ich nicht bald 

das Glück haben kann,

von euch mit Gewalt

gezwungen werden

zu dem, was ich möchte!

Warum aber sage ich das?

Wenn ich klug und weise wäre,

würde ich mir wohl etwas besseres wünschen.

Meine Zunge schwächt mein Ansehen

viel zu sehr.

Mittwoch, 11. Dezember 2024

22090-22099

den frouwen eteswenne birt

êr unde lop gewaltes flîz,

wand er in scham und itewîz

vil senfteclichen tœtet,

der si der dinge nœtet,

der si doch gerne volgen went.

dar ûf sich ir gemüete sent,

swer in daz abe twinget,

der lîhtet unde ringet

ir laster mit gelimpfe wol.


Gewalt anzuwenden, das bringt den Frauen mitunter

Ansehen und Ruhm,

indem derjenige ihnen Scham und Schmach 

auf angenehme Weise nimmt,

der sie zu Dingen nötigt,

die sich doch selbst gerne tun möchten.

Jeder, der von ihnen das erzwingt,

wonach sie sich sehnen,

der erleichtert und verringert

ihre Schande durch sein Verhalten.

Dienstag, 10. Dezember 2024

22080-22089

mir swachet mîne frîheit,

daz ich bin alsô wunnesam:

wan mich enlât vorht unde scham

niht erfüllen iuwer gir.

ich wolte, wes ir muotent mir

mit süezer bete manicvalt,

daz ich des möhte mit gewalt

von iu betwungen werden,

sô würde ich ûf der erden

unschuldic wider mînen wirt.


Weil ich so schön bin, 

wird mir meine Freiheit eingeschränkt –

denn Furcht und Scham

erlauben es mir nicht, euer Begehren zu erfüllen. 

Ich wünschte, dass ich von euch zu dem,

was ihr mir mit vielen süßen Bitten angetragen habt,

mit Gewalt

gezwungen werden würde,

denn dann wäre ich

gegenüber meinem Mann unschuldig. 

Montag, 9. Dezember 2024

22070-22079

wan man ir hüetet deste mê,

daz ir lîp ist wol getân;

ir frîheit mügent si niht hân

dar umbe, daz in ist gegeben

êr unde ein hôchgeprîset leben.

ein wîp schœn unde wolgestalt

mac niht ir selber hân gewalt

sô volleclichen, als ein wîp,

diu niht sô wunneclichen lîp

und alsô liehte varwe treit.


weil man sie umso mehr bewacht,

je schöner sie sind. 

Sie können ihre Freiheit nicht haben,

weil für sie ein Leben 

voller Lob und Ansehen vorgesehen ist.

Eine schöne, gutaussehende Frau

kann nicht so über sich selbst entscheiden

wie eine Frau,

die weniger schön ist 

und weniger ins Auge sticht. 

Freitag, 6. Dezember 2024

22060-22069

daz aber ich sô stæte bin,

daz tuot sîn herze sicher.

er sol mîn flîzeclicher

durch wâre schulde nemen war,

denn ob ich niht sô liehtgevar

und alsô lûter wære.

daz wîp sint wunnebære,

daz muoz in dicke schade sîn:

ir schœne ist in ein michel pîn

und wirt in von ir lobe wê,


dass ich aber so treu bin,

das gibt ihm Sicherheit und beruhigt ihn.

Es wäre besser, wenn er mich stärker

aus dem richtigen Grund wahrnehmen würde,

so als wäre ich nicht so strahlend

und so makellos. 

Dass Frauen schön und liebenswert sind,

das schadet ihnen oft.

Ihre Schönheit ist ein großes Übel

und dass sie gelobt werden, das bringt ihnen Leid,

Donnerstag, 5. Dezember 2024

22050-22059

sô fürhtet er mîn deste mêr

billîche in sînem muote.

sîn lâge und al sîn huote

sint dâ von ûf mich geleit,

daz ich sô liehter clârheit

hân gespulget aldâ her.

der kiusche mîn getriuwet er

und mîner glanzen forme niht.

daz man mich alsô lûter siht,

daz gît im angestbæren sin;


fürchtet er umso mehr um mich –

und das mit Recht. 

Für mich hat er Fallen und Wachen

aufgestellt, weil 

ich bisher so große Schönheit

an den Tag gelegt habe.

Er hat kein Vertrauen in meine eheliche Treue

und mein strahlendes Aussehen.

Dass man mich so ohne Makel sieht,

das macht ihm Angst;

Mittwoch, 4. Dezember 2024

22040-22049

jâ zwâre, werdes küniges hant

diu reichet harte verre.

swie nû der wirt, mîn herre,

sî gestrichen von uns zwein,

sîn huote langet doch her hein

und sîn gewalteclîche craft.

er ist dur mich vil angesthaft

und sorget umbe mînen lîp.

sît daz ich heize ein schœnez wîp

für manige stolzen frouwen hêr,


Ja, wahrlich, die Hand eines guten Königs

reicht sehr weit.

Auch wenn nun der Gastgeber, mein Herr,

von uns weggegangen ist,

reicht seine wachsame Aufsicht

und seine gewaltige Macht doch bis zu uns.

Er ist sehr furchtsam, wenn es um mich geht,

und ist sehr besorgt. 

Da man mich für eine schöne Frau hält,

noch schöner als viele herrliche und angesehene Damen,

Dienstag, 3. Dezember 2024

22030-22039

daz er mit snelleclicher var

von hinnen ist gescheiden.

sîn huote doch uns beiden

wont vil harte nâhe bî,

swie verre uns sîn antlitze sî.

Uf sîne vart sît niht ze balt!

ist iu niht kunt, daz der gewalt,

der hôhen künigen ist beschert,

sô wîte sweimet unde vert,

daz er berüeret manic lant.


dass er eilig

von hier abgereist ist.

Er wacht sorgfältig über uns beide –

und das aus nächster Nähe,

wie fern er uns auch sein mag.

Seine Fahrt sollte dir keinen Mut machen!

Wisst ihr nicht, dass die Macht,

die hohen Königen gegeben ist,

so weit umherschweift und reicht,

dass die Macht viele Länder umfasst?

Montag, 2. Dezember 2024

22020-22029

daz ich mîn lachen kûme liez

und ich gereden mohte niht,

wan daz ich sprach: ›friunt, ez geschiht,

des iuwer herze hât gegert.‹

sus kêrte dô der künic wert

vil snelleclichen über sê.

dar ûf sult ir niht deste mê

getürstekeite sîn gewon.

geloubent, daz iu niht dâ von

sîn alliu dinc gemæze gar,


dass ich mit Lachen kaum an mich halten konnte

und ich gar nicht in der Lage war, etwas zu sagen;

nur so viel habe ich über die Lippen gebracht: »Liebster, es wird geschehen,

was euer Herz begehrt.« 

So zog der edle König dann

eilig über das Meer.

Das alles braucht euch nun 

allerdings nicht allzu viel Mut zu machen.

Ihr könnt euch sicher sein, dass ihr dadurch

keinen Vorteil habt,