Dienstag, 21. Januar 2025

22210-22219

diu welt gemeine swüere,

daz ich wære ein swachez wîp,

swenne ich mînes mannes lîp

und reiner vrouwen stæte

durch iuch versmâhet hæte.

Dâ würde ein vingertiuten

von iuwers vater liuten

dur wâre schulde ûf mich getân.

ouch müeste ich von iu selber hân

vil itewîzes alle stunt,


All die Welt würde schwören,

dass ich eine armselige, verachtete Frau sei,

wenn ich meinen Mann 

und die Treue makelloser Damen

um euretwillen aufgegeben hätte.

Da würden die Männer eures Vaters

viel mit den Fingern zeigen –

auf mich, aus guten Gründen.

Auch müsste ich von euch selbst 

permanent viele Schmähungen erdulden,

Freitag, 17. Januar 2025

22200-22209

ob ir dur iuwers zornes gir

mich eteswenne slüegent

und mir vergebene trüegent

vil dicke und ofte smæhen haz?

wie möhte den von Troie daz

gevallen, kæme ich z’in alsus?

waz spræche künic Prîamus

und iuwer muoter danne,

swenn ich von mînem manne

mit iu ze lande füere?


wenn ihr mich irgendwann einmal

aus Zorn schlagen würdet

und ihr mir, einfach nur so, oft und immer wieder

mit schmachvollem Hass begegnen würdet?

Wie würde das denen von Troja gefallen,

wenn ich auf diese Weise zu ihnen käme?

Was würde dann König Priamus sagen

und eure Mutter,

wenn ich, weg von meinem Mann,

mit euch in euer Land käme?

Donnerstag, 16. Januar 2025

22190-22199

und müeste ich hie ze hûse

vil jâmers unde trûrens hân.

würd aber mir daz heil getân,

daz ir mich füertent über sê,

sô wüehse mir dort leides mê,

denn ich hie möhte erlîden,

wan ich begunde mîden

vil dicke mîner friunde trôst.

wer tæte mich von leide erlôst

und kæme dâ ze helfe mir,


und ich müsste hier zuhause

jammern und Trübsal blasen. 

Geschähe mir aber das Heil,

dass ihr mich über das Meer führen würdet,

dann brächte mir das dort mehr Leid

als ich hier erfahren könnte,

weil ich dann beständig

auf den Trost meiner Freunde verzichten müsste.

Wer würde mich vom Leid erlösen

und mir zu Hilfe kommen, 

Mittwoch, 15. Januar 2025

22180-22189

ich weiz wol, daz sich iuwer man

ûf eine vart bereitent

und si niht anders beitent,

wan senfter segelwinde.

kæm ein guot weter linde,

daz si dort ligent in der habe,

sô würde mir geworfen abe

der fröuden und der minnen stec:

wan iuwer minne füere enwec

mit der winde sûse


Ich weiß genau, dass sich eure Männer

auf eine Fahrt vorbereiten

und dass sie auf nichts anderes warten

als auf guten Wind für ihre Segel.

Wenn ein gutes, angenehmes Wetter käme,

während sie dort im Hafen liegen,

dann würde mir der Weg zu Freude und Liebe versperrt,

denn eure Liebe würde 

mit den sausenden Winden davonfahren

Dienstag, 14. Januar 2025

22170-22179

sô kæme ein guoter segelwint,

der iuch ze lande von mir tribe,

sô daz ich in der nôt belibe

und ich müest iuwer âne sîn.

enmitten in der fröude mîn

gewünne ich herzeleides kouf,

wan sô diu minne ir süezen louf

an mir begünde trîben,

sô müeste ich gar belîben

ir lônes îtel unde wan.


dann käme ein guter Wind zum Segeln,

der euch von mir in andre Länder triebe,

sodass ich in einer Notlage zurückbliebe

und ohne euch sein müsste.

Mitten in meiner Freude

würde ich Leid und Elend abbekommen,

denn wenn die Liebe ihren süßen Gang

an mir vollziehen würde,

dann müsste ich 

auf ihren Lohn ganz und gar verzichten. 

Montag, 13. Januar 2025

22160-22169

ê daz ich mit den ougen

iuch sæhe biuwen disen creiz:

dâ von erkenne ich unde weiz,

daz ir sint gar unstæte.

ob ich nû gerne tæte,

des mich iuwer herze bite,

sô wærent ir alsô gesite,

daz ir mich liezent alzehant.

swenne ich hæte ûf iuch gewant

herz unde muot ân underbint,


bevor ich euch mit eigenen Augen

in dieser Gegend gesehen habe.

Dadurch weiß ich,

dass ihr ganz und gar untreu seid.

Auch wenn ich gerne täte,

worum euer Herz mich bittet,

so wärt ihr doch so geartet,

dass ihr mich sogleich wieder verlassen würdet. 

Hätte ich mein Herz und all mein Denken und Wollen

ohne zu zögern auf euch gerichtet, 

Freitag, 10. Januar 2025

22150-22159

der ir vil wol gehiezent

und an ir triuwe brâchent.

noch wizzent, waz ir râchent

an ir lîbe reine,

wie daz ir sus mit meine

diu wîp ir minne roubent.

swie cleine ir sîn geloubent,

mir ist doch iuwer leben kunt.

ich hân dick und ze manger stunt

gefrâget iuwer tougen,


der ihr Versprechungen gemacht habt,

die ihr dann gebrochen habt.

Denkt auch daran, was ihr ihr Übles getan habt,

ihr, der Makellosen,

und dass ihr auf diese Weise arglistig

den Frauen ihre Liebe raubt.

Auch wenn ihr es nicht glaubt,

so weiß ich doch über euer Leben Bescheid. 

Ich habe mich oft und immer wieder

heimlich über euch erkundigt, 

Donnerstag, 9. Januar 2025

22140-22149

si vert in ungewisser habe

ûf einem grundelôsen sê,

des ist geziuc Esipfilê

unde Adrîagnê diu maget,

die bêde wurden ouch gejaget

ze leides ungewinne

dur eines gastes minne,

der si verlâzen hæte,

als ir dur grôze unstæte

Oenonem ouch liezent,


Dieses Begehren reist zu einem unsicheren Hafen

über ein bodenloses Meer.

Das bezeugt Esipfile

und auch Adriagne, die junge Frau,

die beide

in das Unglück des Leids getrieben wurden

durch die Liebe eines Gastes,

der sie verlassen hat,

so wie ihr durch große Untreue

Oenone verlassen habt,

Mittwoch, 8. Januar 2025

22130-22139

mîn lîp ein swære bürde. 

Diu minne fremder geste

belîbet selten veste

und ist vil gar ze wilde.

reht als des gastes bilde

sich hôher stætekeite wert

und irreclichen umbe vert

dan unde dar, hin unde her,

sus wanket sîner minne ger

ouch z’allen zîten ûf und abe.


zu einer schweren Last werden würde.

Die Liebe fremder Gäste

bleibt selten fest

und ist viel zu ungezügelt. 

So wie es die Art eines Gastes ist,

nicht über vornehme Treue zu verfügen

und umherzuirren, 

da hin und dort hin, hin und her,

so schwankt das Begehren seiner Liebe

auch beständig auf und ab.

Dienstag, 7. Januar 2025

22120-22129

swer drûfe ein lützel sprenget

von wazzer, ez erlischet wol.

alsô muoz ich der minne kol,

daz an mir ist enbrunnen,

erleschen mit dem brunnen

wîplicher stætikeite.

ob ich mîn herze leite

an iuch, vil werder jungelinc,

daz wære ein üppiclichez dinc,

wan iu vil schiere würde


Wenn man ein wenig Wasser

darauf spritzt, erlischt es gleich.

Auf diese Weise muss ich die Kohlen der Liebe,

die in mir erglüht sind,

mit dem Wasser 

weiblicher Treue zum Erlöschen bringen.

Wenn ich mein Herz auf euch,

edler junger Mann, richten würde,

dann wäre das eine nichtige, leichtfertige Sache,

weil ich euch bald