17860-17869

mir râte ûz sîme sinne

daz beste ein iegelicher man.

waz grîfe ich nû zem êrsten an?

des werde ich underwîset hie.

sô durft enwart mir râtes nie,

noch helferîcher lêre.

mîn leben und mîn êre

wil ich ûf eine wâge laden,

old ich gereche mînen schaden.‹

Mit disen worten unde alsus

Jeder Mann rate mir,

was ihm das Beste zu sein scheint.

Wo und wie soll ich mit dieser Sache anfangen? –

das werde ich hier erfahren.

Nie war ich mehr auf Rat angewiesen

und auf hilfreiche Belehrung.

Mein Leben und mein Ansehen

will ich auf’s Spiel setzen,

oder eben den mir angetanen Schaden rächen.‹

Mit diesen Worten und auf diese Weise

17850-17859

nû dar! getriuwe ritterschaft

und ûz erwelten fürsten,

lânt iuch gemeine dürsten

in herzen unde in muote

nâch der vînde bluote,

der craft uns schaden hât getân.

geruochent mir ze helfe stân

und sprechent alle nû dar zuo,

waz iu gevalle, daz ich tuo

und wes ich nû beginne.

Lasst uns losziehen! ihr treuen Ritter

und auserwählten Fürsten!

In euren Herzen und in all eurem Denken

sollt ihr alle

nach dem Blut der Feinde dürsten,

deren Macht uns Schaden zugefügt hat.

Steht mir zur Seite

und sagt nun alle,

was ich eurer Meinung nach tun soll

und wie ich es anfangen soll.

17840-17849

mit kreften noch mit listen

wirt niemer si geletzet,

ouch wart nie stat besetzet

mit fromen liuten alsô wol.

ob ich gerechen iemer sol

mîn leit, daz mac nû wol geschehen,

sît daz kein veste wirt gesehen

sô werlîch ûf der erde,

sô Troye diu vil werde

an liuten ist und an ir kraft.

Nie wird die Stadt fallen, 

weder durch Gewalt noch durch Tücke und Hinterlist.

Außerdem war nie zuvor eine Stadt

so gut mit tapferen Leuten bemannt.

Wenn ich das, was mir angetan wurde, rächen kann,

dann ist jetzt der Moment dafür,

da es keine befestigte Stadt 

auf Erden gibt, die 

an Macht und Menschen so wehrhaft ist,

wie Troja, die glorreiche Stadt.

17830-17839

an ir guote und an ir kragen

werden si veig unde mat,

wan Troye diu werlîche stat

ist worden alsô veste,

daz wir die vremde geste

dar inne fürhten cleine.

læg al diu welt gemeine

dervor mit werken und mit her,

wir möhten uns mit hôher wer

dar inne wol gevristen.

Es wird ihnen an den Kragen gehen 

und auch ihr Eigentum ist dem Verderben anheim gegeben,

weil Troja, die wehrhafte Stadt,

so standhaft geworden ist,

dass wir hier die fremden Ankömmlinge

nicht fürchten müssen.

Und wenn die ganze Welt

mit Heer und Belagerungszeug vor Troja läge,

könnten wir hier mit tapferer Verteidigung

standhalten. 

[Schwierig, eine Formulierung zu finden, die »guote/kragen« sowie »veig/mat« gut ins Neuhochdeutsche bringt.]

17820-17829

des habe ich nû bî dirre vrist

iuch her besant ûf mînen sal.

nû wil ich biten über al,

daz ir gedenkent wol dar an,

daz ir sint mîne dienestman

und mir nû helfent anden

daz leit mit vrechen handen,

daz uns allen ist getân.

welt ir ze staten mir gestân,

wir rechen uns in kurzen tagen.

habe ich euch nun 

hierher in meinen Saal kommen lassen.

Nun möchte ich alle gemeinsam

daran erinnern,

dass ihr mir zu Dienst verpflichtet seid.

Helft mir nun das Leid,

das uns allen angetan wurde,

mit tapferen Händen zu rächen.

Wenn ihr mir zur Seite stehen wollt,

werden wir uns bald gerächt haben.

17810-17819

sît ir iuch mit mir nieten

went übels unde guotes,

sô bin ich ouch des muotes,

daz ich niht von iu scheide

lîp unde guot die beide

die wîle, daz ich leben sol.

ir wizzent leider alle wol

den schaden und daz ungemach,

daz von den Kriechen uns geschach,

und wie daz ungerochen ist:

Da ihr in guten und schlechten Zeiten

zu mir gestanden habt,

habe auch ich die feste Absicht,

dass ich mit Leib, Leben und Besitz 

zu euch stehe, 

so lange ich lebe.

Da ihr leider alle genau Bescheid wisst

über den Schaden und das Leid,

das die Griechen uns angetan haben,

und das noch nicht gerächt wurde,

17800-17809

clagt er in aber unde sprach:

›ir herren algelîche,

die mir und mînem rîche

ze dienste sint gebunden,

ir hânt in mangen stunden

mit ellentrîchen handen

ze staten mir gestanden,

dâ von getriuwe ich noch, daz ir

gern unde willeclîche mir

geruochent helfe bieten.

führte er vor ihnen abermals Klage und sagte:

›Ihr Herren, 

die ihr alle mir und meinem Reich

zu Dienst verpflichtet seid,

ihr habt mir oft

mit tapferer Hand

beigestanden

und deshalb vertraue ich darauf, dass ihr

mich gerne und bereitwillig

Unterstützen wollt und werdet. 

17790-17799

des huop er ein gespræche

ze Troye in sîner schœner stat.

er hiez dâ für sich unde bat

die fürsten ûz dem lande komen,

die wurden alle dâ genomen

ûf sînen küniclichen sal.

dar zuo besante er über al

sîn ûz erwelte ritter.

den grimmen schaden bitter,

der von den Kriechen im geschach,

Deshalb berief er eine Versammlung ein,

in Troja, in seiner schönen Stadt.

Er ließ die Fürsten des Landes

zu sich kommen, 

die dort alle 

in seinem königlichen Saal versammelt wurden.

Außerdem schickte er überall nach 

seinen besten Rittern.

Über den bitteren, fürchterlichen Schaden,

der ihm von den Griechen angetan worden war,

17780-17789

sîn heil in armiu stücke

ze jungest wart zerschrenzet.

zerstœret unde engenzet

wart sîn erweltiu hêrschaft.

ûf sîner veste magenkraft

het er sô rîche zuoversiht,

daz er sich langer sûmde niht

und er dô keine stunde beit.

er wart zehant dar ûf bereit,

daz er sîn leit geræche.

Sein Glück wurde zuletzt

in winzige Stücke zertrümmert.

Zerstört und vernichtet

wurde seine edle Herrschaft.

Auf seine mächtige befestigte Stadt 

vertraute er so sehr,

dass er nicht mehr zögerte

und auch nicht eine Stunde länger wartete. 

Sogleich war er dazu entschlossen,

sein Leid zu rächen. 

17770-17779

weizgot, ein rîcher keiser

mac allez daz gerechen niht,

daz in den landen im geschiht.

Diz wart an künic Prîamô

bewæret unde erzeiget dô;

dem wart sîn altiu riuwe

sô vrisch und alsô niuwe,

daz er si gar ze vil gerach,

wan sich diu râche sîn gebrach

in grôzez ungelücke.

Weißgott, ein mächtiger Kaiser

kann all das nicht rächen,

was ihm in allen Ländern passiert.

Diese Wahrheit zeigte sich 

damals auch an König Priamus.

Für ihn war der alte Schmerz

nun so frisch und jung,

dass er sich dafür zu sehr rächte,

sodass sich seine Rache

zu einem großen Unglück auswuchs.  

17760-17769

der wirt vil selten vrô gesehen

und muoz in sorgen alten.

man lâze got des walten,

des man gebüezen niht enkan.

er dûhte mich ein tumber man,

der allez daz wolt anden

mit herzen und mit handen,

daz im geschæhe z’aller zît.

swem ungemach ze nâhe lît,

der wirt an sælden heiser.

dann sehen einen die anderen selten fröhlich

und man muss mit Sorgen alt werden. 

Man möge Gott sich um das kümmern lassen,

was man selbst nicht ändern kann.

Wer nämlich all das,

was ihm irgendwann einmal passiert ist,

mit Herz und Hand rächen wollte,

der schiene mir ein Narr zu sein. 

Allen, denen das Leid zu nahe geht,

denen gebricht es an göttlichem Heil.

17750-17759

und wil des gerne vlîzic sîn,

daz er zehant gereche sich,

sîn krankez leit wirt grœzlich

und wahset drûz ein grôzer schade.

der wîse niht ze herzen lade

sîn ungemach ze sêre,

dur daz er niht gemêre

mit leide sînen smerzen.

swer allez daz ze herzen

wil mûren, daz im ist geschehen,

und mit großem Eifer

sich sogleich rächen will,

dann wird sein kleines Leid größer

und es erwächst daraus ein großer Schaden.

Wer vernünftig und weise ist,

nimmt sich sein Schicksalsschläge 

nicht zu sehr zu Herzen,

damit er seinen Schmerz

nicht noch um Leid und Not vermehrt.

Wenn man all das fast in sein Herz schließt,

was einem geschehen ist,

17740-17749

biz er sîn leit gerichet

ze manicfalter swære.

swer alsô wîse wære,

swenn im ein schade geschæhe,

daz er den übersæhe,

dur daz im wirs gelünge niht:

der möhte veiger ungeschiht

wol eteswenne sich erholn.

kan er vertragen und verdoln

dekeiner slahte schedelîn

bis sie sich für ihr Leid gerächt

und dabei noch größere Not angerichtet haben.

Jeder, der so welterfahren und vernünftig ist,

dass er über einen Schaden, der ihm geschieht,

hinwegsieht,

damit ihm nichts Schlimmeres geschieht,

der kann sich von verderbenbringendem Unglück

gewiss irgendwann wieder erholen. 

Wenn er aber auch nicht den kleinsten Schaden

hinnehmen und erdulden kann

17730-17739

und daz man im die clâren

gezücket hete in roubes wîs.

daz laster und den unprîs

liez er im an sîn herze gân

und hete gerne widertân

die schemelichen smâheit.

er wolte rechen sîniu leit

und mêrte sînen kumber,

sô noch vil manic tumber

ein ungemüete brichet,

und dass man ihm diese wunderbare Frau

geraubt hatte.

Diese Beleidigung und Schande

traf ihn im Herzen

und diese entehrende Kränkung

wollte er gerne wettmachen.

Er wollte sich für das ihm angetane Leid rächen –

und steigerte dadurch noch seine Not,

so wie auch heute noch viele Narren, 

ihrem Zorn freien Lauf lassen, 

17720-17729

der helt begunde sorgen

dar ûf mit ganzer stæte,

wâ mite er wider tæte,

waz von den Kriechen im geschach.

daz man im sîne stat zerbrach

und im sîn vater wart erslagen,

daz wolte er niht sô tiure clagen,

sô daz der künic Telamon

mit sîner swester was gewon

friuntschefte bî den jâren

Angestrengt und beharrlich

dachte der Held darüber nach,

womit er das, was ihm durch die Griechen

angetan worden war, wiedergutmachen könnte.

Dass man ihm seine Stadt zerstört

und ihm seinen Vater erschlagen hatte,

darüber klagte er nicht so sehr

wie darüber, dass er, der König Telamon,

mit seiner Schwester seit vielen Jahren

eine enge, freundschaftliche Beziehung hatte