Freitag, 17. Dezember 2021

15770-15779

dâ von sluoc si der clâre

des mâles mit dem rîse

und traf si doch sô lîse,

daz ir der slac tet sanfte wê.

dâ nider ûf den grüenen clê

warf si der knappe spæhe.

als ez dur schimpf geschæhe,

sus leite er ûf ir brüstelîn

die linden blanken hende sîn

und wart denn iemer alsô rôt


deshalb hat er sie damals

mit dem Zweig geschlagen

und sie doch so behutsam getroffen,

dass ihr der Schlag kaum wehgetan hat. 

Hinab auf das grüne Gras

warf sie der geschickte Jüngling 

und er legte, ganz so, als würde es im Spiel geschehen,

auf ihr Brüste

seine zarten, weißen Hände –

und immer dann, wenn das geschah, wurde er wegen seiner Liebesqualen 

Donnerstag, 16. Dezember 2021

15760-15769

ob ir mit worten sîn gedanc

wære entslozzen und geseit,

im hæte lîhte sîniu leit

geringet diu getriuwe maget.

nû was an schame alsô verzaget

daz herze und daz gemüete sîn,

daz er mit rede sînen pîn

niht getorste künden ir.

er wolte ir sînes herzen gir

entsliezen mit gebâre,


Wenn ihr seine Gedanken mit Worten

aufgeschlosse und gesagt worden wären,

hätte ihm das zugeneigte und wohlmeinende Mädchen

vielleicht sein Leid gelindert;

allerdings war sein Herz und sein Gemüt

durch die Scham so verschüchtert,

dass er ihr seine Qual mit Worten

nicht zu sagen traute.

Er wollte ihr sein Begehren

durch Taten enthüllen;

Montag, 13. Dezember 2021

15750-15759

wie solt ir aber werden kunt

diu tougenlîche minne sîn,

sît daz diu werde künigîn

des wânde, daz er wære

ein maget wunnebære.

Der schœnen wâren sîniu dinc

ein tougenlicher hælinc

und ein verborgenlich geschiht:

dâ von enwiste si des niht,

daz er nâch ir minne ranc.


Wie sollte sie aber 

von seiner heimlichen Liebe erfahren,

da die edle Königin

dachte, dass er

ein liebenswertes Mädchen sei?

Der Schönen waren seine Angelegenheiten

ein großes Geheimnis

und eine verborgene Sache.

Deshalb wusste sie nicht,

dass er um ihre Liebe kämpfte.  

Freitag, 10. Dezember 2021

15740-15749

dâ bî man die beswærde

der minne kiesen müeze:

dar umbe ouch dirre süeze

und dirre werde jungelinc

tet vil ofte manic dinc,

dâ bî diu reine guote

wol mohte in irem muote

gemerket hân die trûtschaft,

mit der sîn herze was behaft

verborgenlichen alle stunt.


woran man die Mühen

der Liebe erkennt.

Deshalb tat auch dieser süße,

edle junge Mann

immer wieder Dinge,

bei denen sie, die rein und gutmütig war,

die Zuneigung

durchaus merken und erkennen konnte,

die die ganze Zeit hindurch heimlich

an seinem Herzen haftete. 

Donnerstag, 9. Dezember 2021

15730-15739

iedoch ruort er niht vaste

noch ze sêre si dâ mite.

er sluoc si nâch der liute site,

die vol trûtschefte steckent

und sich mit liebe zeckent,

nâch dem si tougenlichen quelnt.

sô si vor schame ir leit verhelnt

und ez mit rede niht enklagent,

sô zeigent si doch unde tragent

daz werc und die gebærde,


doch hieb er sie nicht heftig

und nicht zu sehr damit. 

Er schlug sie, so wie es diejenigen tun,

die voll von Zuneigung sind

und sich liebevoll necken,

weil sie sich heimlich nach Liebe verzehren.

Auch wenn sie aus Scham ihr Leid verbergen

und ihre Klage nicht aussprechen,

so zeigen sie es doch durch 

ihr Auftreten und ihre Taten,

Mittwoch, 8. Dezember 2021

15720-15729

si giengen zuo den boumen hin

und brâchen wol geblüemtiu rîs,

mit den wart in dô manic wîs

vil sanfte und inneclichen wol.

daz rîs blüet unde loubes vol,

daz Achilles danne truoc,

daz huop er ûf lîs unde sluoc

ez ûf Dêîdamîen.

die kiuschen wandels vrîen

traf er dâ mit dem aste,


Sie gingen zu den Bäumen

und brachen blühende Zweige,

mit denen sie es sich dann auf vielfältige Weise

behaglich und angenehm machten.

Den Zweig, voll mit Blüten und Blättern,

den Achill gebracht hatte,

den hob er heimlich auf schlug

mit ihm auf Deiamia.

Die Reine, Tugendhafte

traf er dort mit dem Ast,

Dienstag, 7. Dezember 2021

15710-15719

ûf einen plân grüen unde wît

si giengen z’einer ouwe,

diu mit des meien touwe

vil sanfte was erfiuhtet

und wunneclich erliuhtet

stuont mit bluomen und mit grase.

ir ougen bar der grüene wase

süez unde senfte weide

mit aller hande cleide,

daz herze fröuwet unde sin.


Auf einer grünen und weiten Ebene

gingen sie zu einer Aue,

die vom Tau des Mais

sacht angefeuchtet war

und mit Blumen und Gras

wunderschön erstrahlte.

Ihren Augen war die grüne Wiese,

die so vielfältig gekleidet war, 

eine süße und angenehme Weide,

die das Herz und Gemüt erfreute. 

Montag, 6. Dezember 2021

15700-15709

von manger hande varwe,

die man dâ schouwet ûf dem plân.

wer solte alsus beswærde hân

dur sîner muoter willen!

dich schœnen Jocundillen

sol man niht vinden ungemeit.‹

mit disen worten überstreit

diu clâre den getriuwen,

daz er sich dâ von riuwen

begunde scheiden bî der zît.


durch die vielen Farben,

die man dort, auf der Wiese, zu sehen bekommt. 

Wer wird da noch schwermütig sein

wegen seiner Mutter!

Du, meine schöne Jocundille,

darfst nicht traurig sein.‹

Mit diesen Worten bezwang

die Strahlende den Ehrbaren,

so dass er sich dann und dort

von der Traurigkeit zu verabschieden begann.

Freitag, 3. Dezember 2021

15690-15699

dâ singet der galander

und diu liebe nahtegal.

waz ob ir wunneclicher schal

dîn ungemüete swachet.

sô dur dîn ouge lachet

vil manic bluome in dînen muot

und des vil liehten meigen bluot

gelpf in dîn herze glîzet,

sô swindet unde slîzet

dîn ungemüete garwe


Dort singen die Lerche

und die liebe Nachtigall. 

Vielleicht kann der angenehme Gesang

deinen Schwermut lindern.

Wenn durch deine Augen

zahlreiche Blumen hinein in deine Laune lachen

und die Blüten des strahlenden Monats Mai

hell in dein Herz strahlen,

dann schwindet und zerplatzt

dein Schwermut ganz und gar

Donnerstag, 2. Dezember 2021

15680-15689

nû daz Dêîdamîe

den knaben sus beswæret vant,

der Jocundille was genant

unde Achilles hiez dô vor,

dô wolte in ûz der sorgen spor

diu minneclîche füeren hin.

diu reine süeze diu nam in

mit blanker hende wol getân.

›wol ûf‹, sprach si, ›wir müezen gân

ze velde mit ein ander.


Als nun Deidamia

den Jungen derart bedrückt vorfand,

der Jocundille hieß

und zuvor Achill genannt worden war,

da wollte die Liebenswerte ihn

aus der Spur der Sorgen herausführen.

Die Reizende, Makelose nahm ihn

mit schönen, weißen Händen.

›Auf geht’s‹, sagte sie, ›wir müssen miteinander

zur Wiese gehen.  

Mittwoch, 1. Dezember 2021

15670-15679

in hete ir clârheit unde ir tugent

gestalt nâch einem wîbe,

des sprach er von ir lîbe,

daz er nâch sîner muoter lite

swær unde riuwelîche site.

Alsô truoc er die reinen,

daz er si wolte meinen

sus z’einer muoter wolgetân.

wie mohte des getriuwet hân

diu kiusche wandels vrîe?


Ihn hatte ihre Schönheit und ihre Vortrefflichkeit

in eine Frau verwandelt,

daher sprach er über sie,

als er sagte, dass er sich nach seiner Mutter

sehne und deswegen traurig sei.

Er hatte also die Makellose im Sinn,

die er also lieben wollte

als eine schöne Mutter.

Wie hätte die reine, tugendhafte

das merken und erraten sollen?