Freitag, 25. Februar 2022

16070-16079

und greif ouch dar nâch mit der hant,

swar in geluste bî der stunt.

nû seht, ob er niht möhte wunt

von dem gebâre werden.

und solte ein man ûf erden

von keime dinge siechen,

sô möhte ouch wol dem Kriechen

von dirre sache wê geschehen.

si liez in handeln unde sehen

ir linden und ir blanken lîp


und fasste mit seiner Hand überall dorthin,

wohin zu greifen er gerade Lust hatte.

Schaut nur, ob er durch diese Umgangsformen

nicht vielleicht wundgescheuert wird!

Und wenn ein Mann hier auf Erden

durch nichts krank werden würde,

so würden doch dieser Griechen

durch diese Sache gewiss Schmerzen erleiden.

Sie ließ ihn machen und ließ ihn

ihren weichen, nackten Körper sehen

Donnerstag, 24. Februar 2022

16060-16069

hin z’einem clâren bache

si zwei vil ofte giengen,

dar în si beide hiengen

ir füeze, des geloubent mir.

›lâ sehen‹, sprach er danne z’ir,

›ob dîniu bein iht liuhtent wîz.‹

sus leite er dar ûf sînen vlîz,

daz er gesæhe ir hiute schîn.

er huop ûf mit der hende sîn

der wunneclichen daz gewant


Häufig gingen die zwei

zu einem klaren Bach,

in den sie, ihr könnte es mir glauben,

beide ihre Füße hingen.

»Lass sehen«, sagte er dann zu ihr,

»ob deine Beine weiß strahlen.«

Auf diese Weise bemühte er sich darum,

den Glanz ihrer Haut zu sehen.

Mit seiner Hand hob er 

den Stoff ihrer Kleidung hoch  

Mittwoch, 23. Februar 2022

16050-16059

von der im grôz beswærde

und ein vil jâmerhaftez leben

sîme herzen wart gegeben.

Swie vaste er kumberhaft beleip

dur mangen schimpf, den er dâ treip

mit sîner vrouwen wol gesite:

doch was im alsô wol dermite,

daz er niht drâne wolte sîn.

in dûhte sînes herzen pîn

ein wunneclîchiu sache.


durch das ihm und seinem Herzen 

große Beschwernis und ein jämmerliche Leben

zuteil geworden war. 

Egal wie sehr er durch vielerlei Scherze,

die er dort mit seiner wohlerzogenen Dame trieb, 

seinen Kummer aufrecht erhielt:

Dennoch ging es ihm damit so gut,

dass er nicht darauf hätte verzichten wollen.

Im schien sein tiefes Leid

eine angenehme Angelegenheit zu sein. 

Dienstag, 22. Februar 2022

16040-16049

an triuwen lûterbære

und âne mein erkennet.

sîn valsch wart ûz gebrennet

in heizer minne fiure.

diu bitterliche siure,

diu sîn lîp truoc unde hete,

diu was im süezer denne mete

und dûhte in alsô milteclich,

daz er vil kûme hæte sich

geloubet der gebærde,


ganz und gar geläutert

und zeigte sich als frei von jeder Falschheit. 

Seine Unredlichkeit wurde ausgebrannt

im heißen Feuer der Liebe.

Die beißende Bitterkeit,

die er hatte und mit sich führte,

die war ihm süßer als Met

und schien ihm so lieblich,

dass er von seinem Verhalten

nicht abgelassen hätte,

Montag, 21. Februar 2022

16030-16039

sîn wille und sînes herzen gir

gereinet wurden von der nôt,

daz sîn gemüete in leide sôt

unde in jâmer alle tage.

daz er dur si truoc senede clage,

dâ von was ir sîn herze holt.

als in der gluot ein edel golt

wirt von hitze lûtervar,

sus wart sîn edel herze gar

von seneclicher swære


Sein Wille und sein sehnlichstes Begehren

wurden gereinigt durch all die Mühe und Not,

dass nämlich sein ganzes Denken und Wollen 

die ganze Zeit im Leid versank und im Jammer.

Weil er wegen ihr sehnsuchtsvoll lammentierte,

eben deshalb war sein Herz ihr ergeben.

So wie edles Gold in der Glut

durch die Hitze geläutert wird,

so wurde die Treue seines edlen Herzen

durch sehnsuchtsvollen Kummer

Freitag, 18. Februar 2022

16020-16029

daz man den kumber gerne hât,

den si dâ gît spât unde vruo,

swie rehte wê si dicke tuo,

sô dunket si doch süeze gar:

des wart Achilles wol gewar

bî sîner frouwen ûz erkorn.

er wolte ungerne hân verlorn

swær unde kumberlichen pîn,

dur daz er die gebærde sîn

het ouch vermiten gegen ir.


dass man den Kummer gerne in Kauf nimmt,

der von morgens bis abends entsteht,

wie groß die Schmerzen auch sein mögen –

freundliches Verhalten führt Anmut und Süße mit sich. 

Das merkte auch Achill

bei seiner auserwählten Dame.

Auf Kummer und Schmerz

wollte er nicht verzichten,

hätte er dann doch sein Verhalten 

ihr gegenüber sein lassen müssen. 

Donnerstag, 17. Februar 2022

16010-16019

diu vollekomene vröude birt

dem herzen und der andâht.

swâ niht diu liebe vollebrâht

mac werden mit getæte,

dâ wirt diu vröude unstæte,

der man dâ mit gebærde pfligt:

wan si den schimpf dâ wider wigt

mit ernestlicher siure.

doch ist alsô gehiure

lieplich gebærde ân alle tât,


die dem Herzen und dem Begehren

vollkommende Freude bringt.

Wo auch immer die Freude durch Taten

nicht zustande kommen kann,

da wird das Vergnügen brüchig,

das man dort mit seinem Verhalten zu Wege bringt,

weil das Vergnügen dort den Spaß mit

strenger Bitterkeit aufwiegt.   

Wobei freundliches Verhalten ohne jede Tat

so angenehm ist, 

Mittwoch, 16. Februar 2022

16000-16009

swaz er mit im getrîben

mac von schimpflicher sache,

daz wirt im z’ungemache

verkêret alle stunde:

ein marterlîchiu wunde

wirt im sîn gemellich gebâr,

wenn er daz spil süez unde clâr

vermîdet, des sîn herze gert.

ich meine, daz er niht gewert

der wâren süezen minne wirt,


Alles, was er an Scherz und Spaß

auch anstellen mag,

das schlägt bei ihm beständig

ins Unglück um. 

Sein ausgelassenes Treiben

führt bei ihm zu einer qualvollen Wunde,

wenn er auf das schöne und süße Spiel

verzichtet, das sein Herz begehrt.

Damit meine ich, dass ihm die wahre,

süße Liebe nicht gewährt wird,

Dienstag, 15. Februar 2022

15990-15999

ein strô, daz bî dem fiure lît,

daz wirt enzündet sanfter an,

denn ob ez verre dort hin dan

von im gelegen wære:

sus wirt ein senendære

von seneclicher marter

enbrennet deste harter,

daz im sîn liep wont nâhe bî

und er doch sîner minne vrî

dar under muoz belîben.


Stroh, das bei dem Feuer ligt,

das fängt leichter Feuer,

als wenn es dort weit von ihm 

entfernt liegen würde:

Ebenso wird ein ein sehnsuchtsvoll Liebender

von sehnsüchtiger Marter

umso heftiger entzündet,

wenn er in der Nähe und nahe dran ist,

zugleich aber seine Liebe

dabei unbefriedigt bleibt. 

Montag, 14. Februar 2022

15980-15989

ie næher im diu guote was,

ie vaster im sîn herze bran.

des werkes er dâ niht began,

daz an der süezen minne lac.

er wielt des schimpfes unde pflac,

der liep ze liebe reizet

und sêre triuten heizet:

dâ von was im, geloubent mirs,

nâch der vil clâren deste wirs

und deste nœter alle zît.


Je näher im die Gute war,

desto heftiger brannte sein Herz.

Eine Sache aber fing er dort nicht an,

das nämlich, was süße Liebe heißt. 

Er beschränkte sich und blieb beim Scherz,

der Spaß und Freude provoziert

und den man liebkosen nennt.

Dadurch wurde, das könnt ihr mir glauben, 

sein Verlangen nach der Makellosen nur noch größer

und sein Notlage beständig schlimmer.

Freitag, 11. Februar 2022

15970-15979

dâ von sîn herze wart enzunt

nâch ir liebe deste mê.

im tet wol tûsentstunt sô wê,

daz im diu schœne wonte mite,

denn ob diu reine wol gesite

von im gewesen wære.

iedoch was im diu swære

vil süeze, diu sîn herze truoc.

in dûhte senftebære gnuoc,

swaz er an sich beswærde las.


wodurch sein Herz um ihrer Liebe wegen

noch mehr entflammte. 

Dass die Schöne bei ihm war,

das schmerzte ihn sicherlich tausendmal mehr,

als wenn die Schöne und Makellose

von ihm getrennt gewesen wäre.

Dennoch war der Kummer,

der auf seinem Herz lastete, ausgesprochen süß.

All das schien ihm ziemlich angenehm zu sein, 

was er an Kummer bei sich ansammelte.   

Dienstag, 8. Februar 2022

15960-15969

ouch tet ez im entriuwen nôt,

daz an ir dô sîn leben lac,

sît daz er kurzewîle pflac

mit ir, swie dicke er wolte.

swaz liebe heizen solte,

daz treip er mit der reinen,

wan eht des alters einen

daz niht diu schœne wart sîn wîp.

er umbevienc ir kiuschen lîp,

und kuste ir ougen unde munt:


Auch war es für notwendig,

dass sein Leben ganz auf sie bezogen war,

da er sich doch mit ihr die Zeit vertrieb,

so oft er dies wollte.

Mit der Reinen tat er alles,

was man Freude nennen darf,

nur eben das eine nicht,

dass nämlich die Schöne nicht seine Frau wurde.

Er umarmte ihren sittsamen Körper

und küsste ihr die Augen und den Mund,

Montag, 7. Februar 2022

15950-15959

si locket unde reizet

mich vil ofte zuo dem zil,

daz ich nâch herzeliebe quil.‹

Seht, alsô was diu guote

in herzen unde in muote

verdâht in manger stunde,

dur daz der senewunde

juncherre si sô gerne sach.

er leit dur si grôz ungemach,

als ez der minne kraft gebôt.


Sie lockt und reizt 

mich immer wieder, um dafür zu sorgen,

dass ich mich nach Herzensfreude sehne.«

Schaut, in solche Überlegungen war die Gute

mit Herz und Sinn

so manche Stunde vertieft, um herauszufinden,

warum der von Liebesschmerz gepackte

junge Mann sie so gerne sah.

Er litt ihretwegen großes Leid,

so wie es die Macht der Liebe bestimmte.


[V. 15952: mhd. »quellen«, eigentlich »quellen«, »anschwellen«, »in die Höhe dehnen«.]

Freitag, 4. Februar 2022

15940-15949

der si von grunde meinen kan

und si von herzen triutet.

si gît mir unde biutet

oug über ouge z’aller stunt,

als ob ir sî daz herze wunt

von seneclicher swære.

sus kan diu wunnebære

vil manigen siufzen lâzen

und wil sich des niht mâzen,

daz man dâ küssen heizet.


der sie mit ganzem Herzen liebt

und ihr voll und ganz zugetan ist.

Sie beäugt mich und beschaut mich

die ganze Zeit,

so als wäre ihr Herz verwundet

von der schweren Last der Sehnsucht.

So gibt die Liebenswerte

zahlreiche Seufzer von sich

und will sich bei dem, was man Küssen nennt,

nicht mäßigen. 

Donnerstag, 3. Februar 2022

15930-15939

›waz meinet, daz mîn ougen

sô dicke schouwet mîn gespil?

si luoget an mich harte vil

und ist mir alze gerne bî.

mich wundert, waz der mære sî,

daz si mich alsô gerne siht.

und wære si ein maget niht,

ich möhte denken, daz ir lîp

mich wolte meinen, als ein wîp

gemeinet wirt von einem man,


»Was bedeutet es, dass meine Freundin

immer wieder in meine Augen schaut?

Sie beäugt mich beständig

und hält sich erstaunlich gern in meiner Nähe auf.

Ich frage mich, was dahinter steckt,

dass sie mich so gerne sieht.

Wenn sie kein Mädchen wäre,

dann würde ich fast denken, dass sie

sich in mich verliebt hat, so wie eine Frau

von einem Mann geliebt wird, 

Mittwoch, 2. Februar 2022

15920-15929

swenne er dâ nâch sîner gir

in ir ougen sich ersach,

sô wizzent, daz im wol geschach

und daz im wart sô sanfte nie.

vil manigen siufzen er dô lie,

der ûz des herzen grunde sleich.

er wart dô von geluste bleich

und aber denne rôsenvar:

sô sach diu sælig iemer dar

und dâhte denne tougen:


Immer, wenn er Lust hatte, 

sich dort in ihren Augen zu erblicken,

dann fühlte er sich wohl;

und ihr sollt wissen: niemals hat er sich so leicht und gut gefühlt.

Immer wieder seufzte er dann –

und diese Seufzer kamen auf sanften Füßen vom Grunde seines Herzens. 

Dann wurde er bleich wegen seiner Begierde –

und dann aber wieder rosenfarben.

Und die Glückselige verfolgte das alles aufmerksam

und dachte dann, ganz für sich:

Dienstag, 1. Februar 2022

15910-15919

hie mite blicte er denne dar

in ir ougen unde kôs

daz wilde wunder endelôs,

daz von lebender minne

versigelt was dar inne

und im sîn herze mahte wunt.

ouch maz er dicke sînen munt

z’ir munde rœselehte,

ob er im stüende rehte

und alsô minneclîche als ir.


Nach diesen Worten schaute er ihr dann

in die Augen und erspähte

das endlose, unbezwingbare Wunder,

das von der lebendigen Liebe

dort eingelassen und versiegelt worden war –

und das ihm sein Herz verwundet hatte.

Auch verglich er seinen Mund oft

mit ihrem rosenfarbigen Mund,

um zu sehen, ob seiner ebenso schön sei

und ebenso liebenswert wie ihrer.