Mittwoch, 30. Juni 2021

15000-15009

dîn schrit sol werden enge

und setze lîse dînen fuoz!

dâ bî sô teile dînen gruoz

den armen und den rîchen,

sô maht dû dich gelîchen

wol reinen wîben dînen tac.

dîn houbet zühteclichen trac!

daz stêt wol reinen vrouwen.

swâ dich die liute schouwen,

dâ soltû gerne schicken,


Deine Schritte müssen kurz sein

und du musst mit deinem Fuß sanft auftreten!

Außerdem musst du sowohl 

die Mächtigen als auch Leute niederen Standes grüßen.

Auf diese Weise schaffst du es,

zu aller Zeit wie eine makellose Frau zu wirken.

Die Haltung deines Kopfes muss Anstand zum Ausdruck bringen!

So gehört sich das für makellose Damen.

Wo auch immer dich Menschen betrachten können,

da musst du bereitwillig zeigen,   

Dienstag, 29. Juni 2021

14990-14999

waz hülfe, daz dir wonte mite

wîplicher schîn rein unde clâr,

sô dû niht hætest den gebâr,

den ein vrouwe solte hân?

dû solt gezogenlichen gân

elliu mâl und alle zît.

louf niht ze balde, noch enschrît

und habe die rehten mâze!

ze hove und ûf der strâze

pflic senfteclicher genge!


Was hilft es, dass du nach außen 

hin wie eine reine, makellose Frau erscheinst,

wenn du dich nicht auch so verhältst,

wie eine Frau sich zu verhalten hat?

Dein Gang muss fein und artig sein,

jedes Mal und zu jeder Zeit.

Laufe und schreite nicht zu schnell

und mäßige dich und achte auf das richtige Maß!

Am Hof und auf der Straße

musst du sanft schreiten!

Montag, 28. Juni 2021

14980-14989

Têtis diu werde künigîn

begunde in lêren under wegen.

si bat in wîbes zühte pflegen

und einer frouwen site hân.

›sun lieber unde wol getân‹,

sprach si wider in zehant,

›sît daz dû vröuwelich gewant

wilt tragen unde wîbes wât,

sô merke rehte mînen rât

und habe ouch einer vrouwen site!


Thetis, die angesehene Königin, 

begann währenddessen damit, ihn zu unterrichten.

Sie bat ihn, weiblichen Anstand zu zeigen

und das Verhalten einer Dame anzunehmen.

›Lieber, schöner Sohn‹, 

sagte sie sogleich zu ihm,

›Höre, da du das Kleid einer Dame 

und überhaupt weibliche Kleidung tragen willst,

gut auf meinen Rat

und verhalte dich auch wie eine Dame!

Mittwoch, 23. Juni 2021

14970-14979

und er von eime knehte

nâch hôher und nâch rîcher art

gebildet z’einer megde wart,

dô nam sîn werdiu muoter in

und fuorte in zuo dem tempel hin,

dar în mit fröuden schalle

des küniges tohter alle

des selben mâles giengen

und werdeclîche enpfiengen

Achillen und die muoter sîn.


und er von einem Knaben

mit hoher und mächtiger Kunst

zu einem Mädchen geformt worden war,

da nahm ihn seine angesehene Mutter

und führte ihn hin zum Tempel,

wohin zu dieser Zeit mit freudigem Getöse

alle Töchter des Königs

gingen,

die Achill und seine Mutter

würdevoll in Empfang nahmen. 

Dienstag, 22. Juni 2021

14960-14969

wan daz ein teil ze wilde

was dennoch diu gebærde sîn,

sô truoc er einer megde schîn

an allen dingen anders.

er hielt des salamanders

ordenunge tougen.

sîn herze sunder lougen

in heizer minne fiure bran.

nû daz er wîbes cleider an

geleite dâ ze rehte


Zwar war sein Benehmen

ein wenig zu wild,

doch ansonsten machte er 

rundum den Eindruck eines Mädchens.

Er verbarg das,

was einen Salamander ausmacht,

denn zweifellos brannte sein Herz 

im heißen Feuer der Liebe. 

Da er nun dort Frauenkleider

ganz so, wie es sich gehört, angelagt hatte,

Montag, 21. Juni 2021

14950-14959

swaz man gezierde solde

nâch wunsche legen an ein wîp,

daz wart geleit an sînen lîp

und stuont im daz sô rehte wol,

daz man dekeine maget sol

gezieren lîhte niemer mê,

der alsô wunneclichen stê

gezierde und einer frouwen cleit.

nâch frouwelicher wîpheit

geschepfet wart sîn bilde.


Alles, was man an Schmuck 

einer Frau anlegen konnte,

das wurde ihm angelegt

und das stand ihm so gut,

dass man vielleicht nie wieder ein Mädchen

schmücken wird,

der der Schmuck und die Frauenkleider

derart wunderbar stehen.

Sein Aussehen wurde so gestaltet,

wie es der Weiblichkeit einer Dame entspricht.

Donnerstag, 17. Juni 2021

14940-14949

des vrîen willen er vergaz,

des er von kindes beine pflac.

sîn hôchgemüete daz gelac

an herzen und an sinne,

des wart er von der minne

mit kreften übervohten.

sîn hâr daz wart gevlohten

und ein borte drûf geleit,

gezieret wol nâch rîcheit

mit gimmen und mit golde.


Er vergaß seinen Freiheitsdrang,

dem er von Kindesbeinen an gefolgt war.

Seine Selbstgefälligkeit, die 

Herz und Hand umfasst hatte, fiel in sich zusammen –

und so wurde er denn von der Liebe

mit Macht besiegt.

Sein Haar, das wurde geflochten 

und mit einem Kopfband bedeckt,

das prächtig war und

mit Edelsteinen und Gold geschmückt.  

Mittwoch, 16. Juni 2021

14930-14939

der aller besten purper ein,

der ie ze Kriechen wart geweben,

wart im an sînen lîp gegeben

und was im der sô wol gesniten

nâch einer stolzen megde siten,

daz frouwen cleit nie baz gestuont.

er tet als alle die noch tuont,

die nâch liebe sint versent,

und wart der wæte dô gewent,

der ê sîn herze was gehaz.


Einer der allerbesten Seidenstoffe,

die jemals in Griechenland gewebt worden waren,

wurde ihm angezogen

und dieser Stoff war so passend für ihn geschnitten,

ganz so wie es die herrlichen Mädchen tragen,

dass Frauenkleidung nie jemandem besser stand.

Er verhielt sich so, wie es alle tun,

die sich in Liebe verzehren

und akzeptierte nun die Kleidung,

die ihm vorher von Herzen verhasst war. 

Dienstag, 15. Juni 2021

14920-14929

doch liez er si ze jungest legen

im an sînen werden lîp

und wart geschepfet als ein wîp

vil kûmelîche und über lanc.

ez solte im über sînen danc

geschehen, doch was ez im liep.

er liez als einen minnediep

sich in frouwen bilde steln

und in ir wæte sich verheln,

diu rîlich von gezierde schein.


doch ließ er sie sich zuletzt dann 

doch seinem schönen Körper anlegen

und wurde so als und zur Frau geschaffen –

mit Mühe und mit zeitlichem Aufwand. 

Ihm musste das mit Gewalt 

angetan werden und dennoch freute es ihn.

Er ließ sich wie ein gewiefter Verführer

in weibliche Gestalt verwandeln

und in ihrer Kleidung verbergen,

die mit ihrem Schmuck kostbar erstrahlte.  

Montag, 14. Juni 2021

14910-14919

nû kam er ûf des willen spor,

möht ez mit fuoge wol geschehen,

daz er sich wolte lâzen sehen

in ir geselleschefte guot.

als ob er hete keinen muot

zuo der wîplichen wæte,

sus tet der knappe stæte,

wan er trat allez hinder sich,

dô sîn muoter wunneclich

bôt diu cleider im engegen,


nun aber nahm sein Wille eine neue Richtung

und er wollte sich, falls das auf anständige Art und Weise möglich sei,

in ihrer guten Gemeinschaft

zu sehen sein.

Der standhafte Jüngling tat so,

als ob er keine Lust

auf die Frauenkleidung hätte,

denn er wich zurück,

als seine wunderbare Mutter

ihm die Kleider entgegen hielt,  

Freitag, 11. Juni 2021

14900-14909

daz nie sîn ouge spiegelvar

von ir keinen wanc getete:

dâ von sîn muoter an der stete

liez in dâ sehen wîbes cleit,

des wart der jungelinc gemeit.

Dar zuo sîn muot stuont niender ê,

dar nâch wart im nû balde wê

mit herzen und mit sinne gar.

daz er kæm in der megde schar,

daz was im widerwertic vor,


dass sein spiegelblankes Auge

von ihr nie auch nur ein Stückchen abrückte.

Deshalb zeigte ihm seine Mutter dort 

Frauenkleider,

worüber der junge Mann ganz erfreut war.

Woran er zuvor keinerlei Interesse hatte,

danach sehnte er sich nun

mit ganzem Herzen und all seinem Denken und Wollen.

Zur Gruppe der Mädchen zu kommen,

das war ihm zuvor ein Graus, 

Donnerstag, 10. Juni 2021

14890-14899

noch verstuont des niht ein hâr,

daz mit im dâ geredet wart.

diu minne diu het im verspart

des herzen und der ougen tür.

dâ swungen unde fuoren für

der wîsen küniginne wort.

sîn vröude und sîner wunne hort

lac an Dêîdamîen.

der kiuschen wandels vrîen

nam er sô vlîzeclichen war,


und bekam gar nichts davon mit,

dass dort mit ihm geredet wurde.

Die Liebe hatte ihm 

die Tür des Herzens und der Augen versperrt.

Daran schwebten und flogen 

die Worte der erfahrenen und verständigen Königin vorbei.

Die Quelle seiner Freude und seines Wohlergehens,

das war Deidamia. 

Die reine, makellose,

die betrachtete er so intensiv, 

Mittwoch, 9. Juni 2021

14880-14889

er was von senender quâle

verstumbet unde sorgen rîch.

dem wolfe tet er vil gelîch,

der blicket zuo dem lambe hin,

sô man ze schuole setzet in

und man diu buoch in lêren sol.

swie vil diu frouwe tugende vol

dem jungelinge zuo gesprach,

dô blicte er allez unde sach

hin umbe zuo der megde clâr,


Er war durch quälenden Liebesschmerz

und große Sorgen verstummt.

Ihm erging es ganz so wie dem Wolf,

der das Lamm anstarrt,

wenn man ihn in die Schule schickt,

um ihm Lesen und Schreiben beizubringen. 

Ganz egal, was die scharfsinnige Dame

zum jungen Mann auch sagte,

er schaute doch immer nur

zum makellosen Mädchen

Dienstag, 8. Juni 2021

14870-14879

der niht dur frouwen künne

vergizzet sîner swære,

wie sol der fröudenbære

von keiner sache werden?

wîp sint ûf al der erden

des mannes leben und sîn lîp:

wan alle man sint âne wîp

an fröuden unde an êren tôt.‹

der rede ir kein antwürte bôt

Achilles zuo dem mâle.


Wer durch das weibliche Geschlecht

seine Sorgen nicht vergisst,

wie soll der dann überhaupt 

durch irgendeine Sache fröhlich werden?

Frauen sind überall auf der Welt

das, wofür der Mann lebt, und das, was ihn als Person ausmacht,

denn die Freude und das Ansehen alle Männer ist tot, 

wenn sie ohne Frau sind.‹

Auf diese Worte gab

Achill keine Antwort. 

Montag, 7. Juni 2021

14860-14869

nû sage, vil herzenliebez kint,

ob dir niht sanfte wære,

swenn alsô lûterbære

juncfrouwen von gebürte vrî

dir wonten unde wæren bî

den âbent und den morgen.

jâ zwâre, ob dû verborgen

hie möhtest werden under in,

dîn trûren daz gieng allez hin

von manicvalter wünne.


Sag, herzallerliebstes Kind,

ob es für dich nicht angenehm wäre,

wenn so makellose 

junge, edel und frei geborene Damen

bei dir wären und mit dir lebten,

von morgens bis abends. 

Ja, wahrlich, wenn du hier

unter ihnen versteckst werden würdest,

dann würde sich dein Trauern  

in vielfältige Freude auflösen. 

Freitag, 4. Juni 2021

14850-14859

und er die kiuschen maget hêr

beslâfen möhte deste baz.

nû diu vil hôchgeborne daz

bedâhte in ir gemüete alsô,

zuo dem juncherren sprach si dô:

›getriuwer sun Achilles,

hâst dû dich noch berâten des,

daz dû wîplîchiu cleider tragest

und bî den frouwen hie betagest,

die wol gestalt nâch wunsche sint?


und er mit dem reinen, unschuldigen Mädchen

umso leichter schlafen könne.  

Als nun die Frau von hoher Geburt

dies durchdacht hatte,

sagte sie zum jungen Herrn:

›Achill, lieber Sohn,

hast du noch einmal darüber nachgedacht,

ob du Frauenkleider tragen willst

und hier bei diesen Damen,

die ein Muster an Schönheit sind, 

die Zeit verbringen möchtest?

Mittwoch, 2. Juni 2021

14840-14849

daz er enzündet garwe

nâch der megde minne was:

dâ von si dô ze herzen las

ein hôchgemüete wunneclich,

wan si gedâhte wider sich,

begünde er sus nâch liebe queln,

sô lieze er sich dâ gerne heln

in eines wîbes wæte,

dar umbe, daz er hæte

sînes willen deste mêr


dass er ganz und gar in Liebe

zu den jungen Frauen entbrannt war.

Aus diesem Grund versammelte sie

Vergnügen und Heiterkeit in ihrem Herzen,

denn sie dachte sich, dass er sich,

wenn er sich so schmerzlich nach Liebesfreude sehnte,

gern in Frauenkleidern

verstecken lassen wolle,

weil er dann nämlich

dem Ziel seiner Sehnsucht näher wäre