Donnerstag, 30. Juni 2022

16560-16569

hæt in der Minne wâfen

dâ langer iht versêret,

daz müest im sîn verkêret,

von allen werden liuten.

sît daz er si dâ triuten

nâch sînem willen möhte

heimlîche, als ez im töhte:

sô was ouch billich unde reht,

daz der vil hôchgeborne kneht

gæb aller sîner sorge ein zil


Alle anständigen Leute hätten 

ihn davon abbringen müssen –

aber die Waffen der Liebe 

hatten ihn seit langem schon verwundet. 

Da er vorhatte, sie dort zu liebkosen,

wie er es wollte,

heimlich, ganz nach seinem Willen,

so war es auch recht und billig,

dass der überaus adlige junge Mann

allen seinen Sorgen eine Frist setzte 

Mittwoch, 29. Juni 2022

16550-16559

den blanken und den brûnen

bluomen schuof ez guot gemach,

wan in sîn wunneclicher bach

bar vil süeze senftekeit.

hie wart ein bette in zwein bereit

schier under disem boume hôch.

der jungelinc z’ein ander zôch

bluomen, gras, loup unde krût,

dar ûf er und sîn frouwe trût

des nahtes wolten slâfen.


Das Wasser schuf den weißen und braunen

Blumen ein angenehmes Leben,

weil ihnen der angenehme Bach

eine große, süße Behaglichkeit brachte.  

Hier wurde den beiden sogleich 

unter diesem hohen Baum ein Bett bereitet.

Der junge Mann sammelte

Blumen, Gras, Laub und Kräuter,

worauf er und seine geliebte Dame

während der Nacht schlafen wollten.

Dienstag, 28. Juni 2022

16540-16549

diu sungen dâ ze wunder

vil manic süeze wîse

ûf dem geblüemten rîse.

Dar under was diu ruowe guot.

in bâren löuber unde bluot

luft unde reineclichen smac.

der wase wol geblüemet lac

mit vîol und mit rôsen.

ouch hôrte man dâ kôsen

diu wazzer unde rûnen.


Diese Vögel sangen dort auf wunderbare Weise

auf den geblühmten Zweigen

viele süße Melodien.

Darunter konnte man gut ruhen.

Ihnen brachten Laub und Blüten

frische und reine Luft.

Das Gras erstreckte sich schön, mit seinen Blumen,

mit Veilchen und Rosen.

Auch hörte man dort 

das Wasser plätschern und murmeln.

Montag, 27. Juni 2022

16530-16539

sus gie diu maget reine

mit dem juncherren einen stîc,

der truoc si, dâ vil manic zwîc

ab eime grüenen boume gienc

und si mit sîme lufte enpfienc

vil senfteclichen unde wol.

er stuont der bleter alsô vol,

daz im an loube niht gebrast.

dô hete ein iegelicher ast

sîn vogelîn besunder,


So ging denn das makellose Mädchen

mit dem jungen Herren einen Pfad entlang,

der sie an einen Ort brachte, wo ein grüner

Baum mit vielen Zweigen stand,

der sie mit seinem Schatten 

überaus sanft und angenehm empfing. 

Er trug so viele Blätter,

dass es seinem Laub an nichts fehlte.

Auch hatte ein jeder Ast

seinen eigenen Vogel.

Donnerstag, 23. Juni 2022

16520-16529

wir tæten als die tôren,

ob wir uns leiten zuo der schar,

die slâfes unde ruowe bar

muoz al die naht belîben.

niht anders wil si trîben

wan toben unde wüeten,

dâ vor suln wir uns hüeten,

ob ez dir wol gevallet.

swâ man ze vil geschallet,

dâ wirt diu ruowe cleine.


Wir wären ja verrückt,

wenn wir uns zu der Menge legen würden,

die die ganze Nacht 

weder Schlaf noch Ruhe finden wird.

Sie wollen nichts anderes tun

als umher zu toben und Herumzuspringen. 

Wenn es dir recht ist,

müssen wir das nicht mitmachen.

Wo auch immer man zu viel Lärm verursacht,

bleibt wenig Ruhe übrig. 

Mittwoch, 22. Juni 2022

16510-16519

ein brunne lûter unde kalt

ûz einem velse gât derbî,

der tuot uns aller sorgen vrî

mit sînem süezen gange.

von sînes fluzzes klange

sîn wir entslâfen schiere.

in dirre waltriviere

kein wazzer ist sô reine,

ez clingelt ûz dem steine

ze wunsche in unser ôren.


Aus einem Felsen gleich daneben

entspringt eine reine und kalte Quelle,

die uns alle Sorgen nimmt

mit ihrem süßen Plätschern.

Durch den rauschenden Klang

werden wir schnell eingeschlafen sein.

In diesem Waldgebiet

ist kein Wazzer derart rein;

es klingelt aus dem Felsen

auf wunderbare Weise in unsere Ohren.

Dienstag, 21. Juni 2022

16500-16509

und z’eime leger hie gezelt,

dâ suln wir slâfen under.

er hât von im ein wunder

von bletern und von rîse,

dâ mange süeze wîse

diu vögellîn ûf singent

und uns mit sange ringent

swær unde trûren dise naht.

ir schallen und ir süezer braht

ist edel unde manicvalt.


und hier zu einem Lager auserwählt,

unter dem wir schlafen können. 

Er besitzt eine schier unglaubliche Menge

an Blättern und Ästen,

auf denen die Vögelchen

viele süße Melodien singen

und uns mit ihrem Gesang heute Nacht

Schwermut und Traurigkeit nehmen.

Ihr Lärmen und ihre süßer Trubel

ist edel und vielfältig. 

Montag, 20. Juni 2022

16490-16499

ie zwô und zwô z’ein ander

heten slâfen sich geleit.

dar under ouch niht langer beit

der hôchgeborne Achille.

heimlichen unde stille

nam er Dêîdamîen.

die kiuschen wandels vrîen

fuort er besunder in daz holz.

er sprach: ›gespil schœn unde stolz,

ich hân uns einen boum erwelt


Immer zwei hatten sich gemeinsam

nebeneinander schlafen gelegt.

Auch der edle Achill

zögerte nicht lange:

Still und heimlich

nahm er Deidamia.

Sie, die sittsam und unbescholten war,

führte er beiseite in den Wald.

Er sagte: »Schöne und stolze Freundin,

ich habe uns einen Baum ausgesucht  

Freitag, 17. Juni 2022

16480-16489

ir tanzen unde ir springen

was vil schiere dô gelegen,

wan si begunden ruowe pflegen

und slâfes alle enwette.

ir leger unde ir bette

wâren bluomen unde gras.

daz grüene loup ir decke was,

dar under si dâ lâgen.

mit sange ir lîbes pflâgen

diu lêrche und der galander.


Bald hörte ihr Tanzen und Springen

auf,

weil sie sich Ruhe gönnten

und sich hinlegten und um die Wette schliefen.

Ihr Lager und Bett

waren Blumen und Gras.

Das grüne Laub war ihre Decke,

unter der sie dort lagen.

Mit Gesang wurden sie 

von Lerchen eingelullt. 

Mittwoch, 15. Juni 2022

16470-16479

des wart sîn lîp und sîn getât

vor in allen dâ gelobet.

nû dâ mit vröuden was getobet

den langen tac biz ûf die naht,

dâ wart ir schallen unde ir braht

gestillet von den clâren:

wan si dâ müede wâren,

daz si niht mohten langer

sich vröuwen ûf dem anger

mit wunneclichen dingen.


Deshalb wurden dort sein Körper und seine Gestalt

von ihnen allen gelobt. 

Als man nun dort mit großer Freude

sich den lieben langen Tag bis in die Nacht ausgetobt hatte,

wurde von ihnen selbst ihr Lärmen und Geschrei

zum Schweigen gebracht,

weil sie nämlich müde waren,

so dass sich sich auf der Wiese

nicht länger mit angenehmen Dingen

erfreuen konnten

Dienstag, 14. Juni 2022

16460-16469

und von der minne glüejen,

diu sîme herzen wonte bî.

die vrouwen, missewende vrî,

die jâhen albesunder,

ez læge an im ein wunder

von ûz erwelter sælikeit.

sîn schapel und sîn frouwencleit

stuont baz dô sîme lîbe,

denn iender keime wîbe

dâ stuont ir krenzel unde ir wât:


und zu glühen von der Liebe,

die sich in seinem Herzen eingenistet hatte. 

Jede der tadellosen Damen

beteuerte,

dass er ganu außergewöhnlich sei

und durch überragendes Heil ausgezeichnet.

Sein Kranz und seine weibliche Kleidung

standen ihm besser

als irgendeiner 

anderen Frau:

Montag, 13. Juni 2022

16450-16459

Achilles der enwære

dennoch wol zwirent alsô clâr.

sîn schœner lîp und sîn gebâr

der schein den frouwen allen obe

an liehter clârheit unde an lobe.

Der wunsch der was ûf in geleit.

in dirre spilenden tobeheit,

der man durch kurzewîle pflac,

begunde im als ein rôsenhac

sîn antlitze blüejen


dass Achill nicht gewiss doppelt 

so rein war.

Sein schöner Körper und sein Auftreten

überstrahlte mit Ruhm und leuchtender Reinheit 

alle Damen.

Er war so, wie man es sich nur wünschen konnte.

In dieser scherzhaften Raserei,

die man zum Zeitvertreib dort trieb,

begann sein Antlitz zu blühen

wie eine Rosenhecke

Freitag, 10. Juni 2022

16440-16449

ein bluome schein vür alliu wîp,

diu zuo dem feste wâren komen.

ûz sîme herzen wart genomen

vil manic tiefer siufze lanc,

des in diu minneclîche twanc,

diu sam ein glanziu feine

durliuhtic unde reine

verr ûz in allen lûhte.

doch wizzent, daz si dûhte

nie sô lûterbære,


eine Blume zu sein schien, schöner als alle Frauen,

die zu dem Fest gekommen waren. 

Aus seinem Herzen wurden

viele tiefe Seufzer genommen,

wozu ihn die Liebenswerte zwang,

die wie eine strahlende Fee –

makellos und hell erglänzend –

sie alle weit überstrahlte.

Ihr müsst aber wissen, dass sie in ihrer Erscheinung nie

einen solchen Grad von Reinheit erreichte, 

Donnerstag, 9. Juni 2022

16430-16439

er hete sich gelenket

und geschepfet nâch ir site.

er wonte in gemellîche mite

und bran iedoch dar under

der heizen minne zunder

in sînes herzen sinne.

diu glanze küniginne

Dêîdamîe tet im wê.

nâch ir sô bran er deste mê,

daz ir vil hôchgeborner lîp


Er bog sich und bewegte sich

wie sie und hatte sich ihnen angepasst.

Er lebte ausgelassen unter ihnen

und dennoch brannte dabei

der Zunder der heißen Liebe

in seinem Herzen.

Die leuchtende Königin

Deidamie verursachte ihm Leid.

Nach ihr war er umso mehr entbrannt,

als ihr überaus edler Körper 

Mittwoch, 8. Juni 2022

16420-16429

dâ wart von rôtem munde

gelâzen manic vrœlich ruof.

von schimpfe man dâ wunder schuof

und von wîplichem spotte.

in der juncfrouwen rotte

hete Achilles guot gemach.

ir schimpf er willeclichen sach

und fuor dâ ringend under in.

diu eine her, diu ander hin

wart von im geswenket.


Aus rotem Mund 

erging da so mancher fröhliche Ruf.

Was Scherze und weibliche Neckereien anbelangt,

wurden dort wahre Wunder vollbracht.

In der Schar der Mädchen

ließ es sich Achill gutgehen. 

Ihre Neckereien und Scherze sah er gern

und er stürzte sich wie ein Ringkämpfer mitten hinein.

Die eine warf er hierhin, 

die andere dorthin.

Freitag, 3. Juni 2022

16410-16419

sus wolten si den herren loben,

der Bâche was genennet.

zerfüeret und zertrennet

wart von sîden manic nât

an der vil küniclîchen wât,

die beide megede unde wîp

geleget heten an ir lîp.

Ouch wart von blanker hende

vil schapel und gebende

verrücket bî der stunde.


Auf diese Weise wollten sie den Herrn loben,

den man Bachus nannte.

Zerrissen und zertrennt

wurde so manche seidene Naht

der überaus königlichen Kleidung,

die beide, Mädchen und Frauen,

ihren Körpern übergestreift hatten.

Auch haben weiße Hände

zu dieser Zeit

viele Kränze und Gebände von der Stelle gerückt.  

Donnerstag, 2. Juni 2022

16400-16409

si wâren vrœlich und gemeit

in manger hande wîse.

dem gote z’eime prîse.

der luoders unde wînes pflac,

wart gevîret dirre tac

mit wunneclichen sachen.

der walt der mohte erkrachen

von gemellichen dingen.

sich huop dâ michel ringen

unde ein brehten unde ein toben.


Sie waren auf vielerlei Art und Weise

fröhlich und glücklich.

Zu Ehren des Gottes,

der für das Schlemmen und den Wein verantwortlich war,

wurde dieser Tag 

mit angenehmen Dingen gefeiert.

Der Wald zersplitterte schier durch die 

ausgelassene Stimmung!

Man begann dort zu toben,

miteinander viel zu rangeln und zu lärmen. 

Mittwoch, 1. Juni 2022

16390-16399

ir aller besten wæte,

der heten sich geflizzen

die megde wol verwizzen

und diu wunneclichen wîp.

dâ was gezieret manic lîp

mit golde und mit gesteine.

vil manic frouwe reine

truoc dâ den besten purper an,

den elliu diu welt ie gewan,

und hete sich dar în becleit.


Ihre allerbeste Kleidung

hatten die klugen Mädchen

und liebenswürdigen Frauen

angelegt.

Viele Körper waren

mit Gold und Edelsteinen geschmückt.

Zahlreiche makellose Damen

hatten sich dort mit dem 

besten Purpur eingekleidet,

den es in der ganzen Welt je gegeben hat.