Freitag, 29. Juli 2016

5531-5540

daz lûter und daz scharpfe swert
mit sîner blanken hende wert
gehienc sus über in dort hin,
dô sprach er aber wider in:
›Nû sî dir mîn gewalt gegeben.
lâ sehen, wie dû getürrest leben
und habe dir allez, daz ich hân!
mîn rîch daz sî dir undertân
und alle mîne liute;
an mîner stat wis hiute

das blanke und scharfe Schwert
mit seinen weißen, schönen Händen
auf solche Weise dorthin über seinen Kopf hängte,
da sagte er wiederum zu ihm:
›Nun sollst du meine Macht haben.
Dann zeig mal, wie du dich zu leben getraust,
wenn du alles hast, das ich habe!
Mein Reich, das sei dir untertan
und alle Leute, die mir verpflichtet sind.
Sei heute an meiner Stelle

Donnerstag, 28. Juli 2016

5521-5530

und gesliffen sêre
daz bant der künic hêre
mit sîner wîzen hende clâr
an ein vil cleinez rossehâr
und hienc ez über den spilman
sô lîse, daz er wære dran
versniten und versêret,
ob er sich dâ gekêret
und gerüeret hæte.
nû Prîamus der stæte

und sorgfältig geschliffen hatte,
das band der edle König
mit seinen weißen, schönen Händen
an ein hauchdünnes Haar aus dem Schweif
oder der Mähne eines Pferdes und hing es
über den Spielmann, so sanft, dass er sich
daran geschnitten und verletzt hätte,
wenn er sich dorthin gewendet
oder überhaupt bewegt hätte.
Als nun Priamus, der Untadelige,

[Rosshaar dürfte in diesem Fall das Haar aus der Mähne oder dem Schweif meinen. Da heutzutage kaum mehr jemand mit diesem »Rohstoff« zu tun haben dürfte, übersetze ich die Erläuterung gleich mit.]

Mittwoch, 27. Juli 2016

5511-5520

daz wirt versuochet alzehant.
sus zôch er abe sîn gewant
und sîniu küniclîchiu cleit.
diu wurden gæhes an geleit
dem hövelichen spilman.
er muoste si dâ legen an,
als in der werde künic bat.
gekrœnet wol an sîne stat
wart er von im gesetzet.
ein swert vil wol gewetzet

das wollen wir jetzt sofort ausprobieren.
Dann legte er seine Waffen ab
und seine königliche Kleidung.
Die zog man eilig dem
höfischen Spielmann an.
Er hatte da keine andere Wahl, als sie anzulegen,
weil ihn der angesehene König darum gebeten hatte.
Ordentlich gekrönt wurde er von ihm
auf seinen Platz gesetzt.
Ein Schwert, das man sehr gut gewetzt

Dienstag, 26. Juli 2016

5501-5510

›friunt,‹ sprach er, ›tugentrîcher kneht,
dich diuhte billich unde reht,
daz ich frœlich solte sîn.
nû stêt ez sô, geselle mîn,
daz ich niht fröuden mac gehân:
dâ von sô lâ die rede stân,
mit der dû mich beswærest.
dû sprichest, ob dû wærest
an mîner stat, sô woltest dû
dich fröuwen harte sêre nû,

›Mein Lieber«, sagte er, »tadelloser Junge,
du meinst also, dass Recht und Anstand mir gebieten,
fröhlich zu sein.
Nun ist es aber so, mein Freund,
dass ich keine Freude haben kann.
Lass deshalb das Reden sein,
mit dem du mich belästigst.
Du sagst, wenn du an
meiner Stelle wärest, dann wolltest du
gleich ganz unglaublich glücklich sein, 

Montag, 25. Juli 2016

5491-5500

und wære ich künic, als dû bist,
ich wolte funden alle vrist
in hôhem muote werden.
wer künde mich ûf erden
gemachen jâmerbære,
sît nieman lebender wære
alsô gewaltic, daz er sich
getörste setzen wider mich?‹
Der künic, Prîamus genant,
gap im antwürte dô zehant:

und wäre ich König, so wie du es bist,
ich würde wollen, dass man mich zu jeder Zeit
als einen glücklichen Menschen antrifft.
Wie könnte mich jemand auf der Welt
in Kummer und Sorge stürzen,
da es doch keine Menschenseele gibt,
die so mächtig ist, dass sie es wagen würde,
sich gegen mich aufzulehnen?‹
Der König mit dem Namen Priamus
antwortete ihm darauf postwendend:

Freitag, 22. Juli 2016

5481-5490

ist kein fürste dîn genôz.
dur waz siht man dich vröuden blôz
und alsô rehte jâmerhaft?
sît daz von dîner magenkraft
sich biuget alsô manic knie,
daz nieman lebt ûf erden hie,
der dir an êren sî gelîch;
sô soltest dû dich fröuden rîch
hie lân beschouwen, herre mîn.
möht ich an dîner stat gesîn

kommt kein Fürst dir gleich.
Weshalb sieht man dich freudlos
und so ganz bekümmert dasitzen?
Weil sich vor deiner Majestät
so manches Knie beugt;
weil es niemanden auf der Erde gibt,
der dir an Ansehen gleicht;
deshalb sollte man dich, mein Herr, hier sehen,
wie du sehr vergnügt und fröhlich bist. 
Könnte ich an deiner Stelle sein

[Die Traurigkeit des Herrschers ist am Hof nur dann relevant, wenn sie sichtbar ist und damit als Botschaft verstanden werden kann. Deshalb zeigt sich der Spielmann auch irritiert darüber, dass man den König freudlos »sieht«. Im Neuhochdeutschen muss aber noch etwas hinzukommen, denke ich, deshalb übersetze ich »freudlos dasitzen«.]

Donnerstag, 21. Juli 2016

5471-5480

war umbe fröuwest dû dich niht,
daz man dich sorgen hüeten siht
an dîme geburtlichen tage?
daz ist ein wunderlîchiu clage
und ein fremder ungelimpf.
dû soltest wunnebæren schimpf
von wâren schulden üeben.
wer möhte dich betrüeben?
dû bist doch allen künigen obe.
an hôher werdekeite lobe

Warum freust du dich nicht
und warum sieht man, wie du mit Sorgen beschäftigt bist,
an deinem Geburtstag?
Das ist ein seltsamer Kummer
und ein bisher unbekanntes, unangemessenes Benehmen.
Du solltest dich aus guten Gründen verpflichtet fühlen,
vergnüglichen Spaß zu verbreiten.
Wer könnte dich traurig stimmen?
Du bist doch der Erste unter allen Königen.
Was die Anerkennung hoher Würde anbelangt, 

Mittwoch, 20. Juli 2016

5461-5470

dem künige sîne swære.
swie vil der hovebære
des spils getreip und dâ getete,
daz half in lützel an der stete;
wan der künic saz verdâht.
nû daz er hete vollebrâht
die leiche sîn nâch wunsche dâ,
dô sprach er zuo dem künige sâ:
›vil werder künic, wie bist dû
sô trûric und sô leidic nû!

sein Leid erträglicher machte.
Was auch immer er, der sich höfisch
zu verhalten wusste, dort spielte und tat,
das half ihnen in dem Moment wenig,
denn der König saß in sich gekehrt da.
Als er nun jeden Leich,
den er spielen wollte und sollte, gespielt hatte, 
sagte er gleich darauf zum König:
›Verehrter König, warum herrscht bei dir
derartige Trauer und derartige Betrübnis?

Dienstag, 19. Juli 2016

5451-5460

mit sîner harpfen ûf den sal,
der huop dâ wunneclichen schal
mit sînem hübschen seitenspil.
tenz unde süezer leiche vil
liez er dâ lûte erclingen.
dar zuo begunde er singen
vrœlîche bî der stunde.
mit handen und mit munde
vil kurzewîle er machete,
dur daz er dâ geswachete

vor ihn, hinein in den Saal.
Er fing dort an, angenehme Musik zu machen
mit seinem höfischen Zupfspiel.
Tänze und einen süßen Leich nach dem anderen
ließ er da laut erklingen.
Auch begann er zu dieser Zeit
fröhlich zu singen.
Mit seinem Mund und seinen Händen
sorgte er für beste Unterhaltung,
weil er dort dem König

[Ich versuche den neuhochdeutschen Plural von »Leich« zu vermeiden.]

Montag, 18. Juli 2016

5441-5450

Mit disen worten und alsô
vertriben si die stunde dô
und heten hôher vröude vil.
Pârîs der was ir wunnespil
und ir trôst gelîche,
wan daz der künic rîche
durch in aleine trûric saz.
sîn herze leides niht vergaz,
swenne er sach Pârîsen an.
nû kam für in ein spilman

Mit diesen Worten und auf diese Weise
vertrieben Sie sich dort die Zeit
und hatten viel ehrenhaftes Vergnügen.
Paris, der war ihre größte Freude
und zugleich ihr Trost und ihre Zuversicht,
weil nämlich der mächtige König
allein und traurig dasaß – wegen ihm.
Immer wenn er Paris ansah,
konnte sich sein Herz nicht von Schmerz befreien.
Nun trat ein Spielmann mit seiner Harfe

Donnerstag, 14. Juli 2016

5431-5440

daz dicke ein armer âne guot
baz unde tugentlicher tuot,
denne ein bœser rîcher zage.
ob nû der hirte sîne tage
bî werden künigen het vertân,
wie künde er tugentlicher hân
den schœnen jungelinc erzogen.
Pârîs beleip vil unbetrogen
an sîner zühte meisterschaft;
er ist clâr unde tugenthaft.‹

dass oft ein Armer ohne Besitz
besser und tugendhafter handelt,
als ein böser, reicher Feigling.
Selbst wenn der Hirte seine Zeit
bei angesehenen Königen verbracht hätte,
er hätte den schönen jungen Mann
nicht vortrefflicher erziehen können?
Paris hat keine Schaden erlitten
hinsichtlich seiner bestmöglichen Erziehung und Bildung;
er ist schön und vortrefflich.‹

Mittwoch, 13. Juli 2016

5421-5430

›der künic, unser herre, sol
den hirten gerne enphâhen wol,
der im erzogen hât ein kint
sô schône, daz geblüemet sint
diu lant mit sîner sælikeit.
er hât sô reinen vlîz geleit
ûf den erwelten jungelinc,
daz im nâch heile sîniu dinc
billîche hie ze hove ergânt.
die göte an im bewæret hânt,

›Unser Herr, der König, soll
den Hirten freundlich und gut begrüßen,
der ihm ein Kind aufgezogen hat,
das so schön ist, dass das Land
mit seinem Heil geschmückt ist.
Er hat sich um den unvergleichlichen jungen Mann
mit so reiner Hingabe gekümmert,
dass seine Angelegenheiten hier am Hof
zurecht gut für ihn ausgegangen sind.
Die Götter haben an ihm bewiesen,

Dienstag, 12. Juli 2016

5411-5420

schœn unde wol bewæren.
den wolte er niht vermæren,
ê man im daz gehieze,
daz in der künic lieze
vrid unde stæte hulde haben,
swenn er geseite von dem knaben
der lûterlichen wârheit.
Pârîs wart sîner kunft gemeit
und sîner angesihte vrô.
die ritter sprâchen alle dô:

schön und gut beweisen.
Den nämlich wollte er nicht in Schwierigkeiten bringen,
bevor man ihm nicht versprochen hatte,
dass ihm der König
Sicherheit und beständiges Wohlwollen gewähre,
sobald er von dem jungen Mann
die reine Wahrheit gesagt habe.
Paris war froh über sein Kommen
und er freute sich, ihn zu sehen.
Dann sagten die Ritter einmütig:

Montag, 11. Juli 2016

5401-5410

Seht, alsô lobte dô Pârîs
den hirten biderbe unde wîs,
vor al den hoveliuten.
er kunde in wol getriuten
mit süezer rede ân allen vâr.
ouch het er an dem dinge wâr,
daz er was bescheiden gnuoc.
als edel herze nie getruoc
ein einvaltiger hirte,
daz kunde er an dem wirte

Schaut, auf diese Weise lobte da Paris
den anständigen und lebensklugen Hirten
vor der gesamten Hofgesellschaft.
Ihm viel es leicht, ihn zu würdigen,
mit süßen Worten und ohne böse Hintergedanken.
Außerdem sprach eine Sache unzweifelhaft für ihn,
dass er nämlich überaus bescheiden war.
Ein so edles Herz hatte
noch nie ein schlichter Hirte in seiner Brust,
das konnte er an dem Wirt

Freitag, 8. Juli 2016

5391-5400

denn alle veter, die der sint.
von keinem vater wart nie kint
sô rehte minneclîche ernert.
mîn dinc alrêrst nâch wunsche vert,
sît in mîn ouge ersehen hât.
swie man in spüre in kranker wât,
doch ist er sô bescheiden,
daz under armen cleiden
nie rîcher tugent, noch reiner art
verborgen und verdecket wart.‹

als alle Väter, die es gibt.
Nie hat sich ein Vater
so liebevoll um ein Kind gesorgt.
Meine Sache verläuft erst jetzt nach Wunsch,
seitdem ihn meine Augen erblickt haben.
Mag sein, dass man ihn in schlechter Kleidung sieht,
aber er ist so bescheiden,
dass unter armseliger Kleidung
nie größere Tugend und ein anständigeres Wesen
verborgen und versteckt worden ist.‹

Donnerstag, 7. Juli 2016

5381-5390

lief engegen im dort hin;
mit armen umbegreif er in
und enphienc in bî der zît.
›ir herren alle,‹ sprach er sît,
›diz ist mîn vater, der mich hât
durch sîns getriuwen herzen rât
erzogen alle mîne tage.
in weiz, waz ieman anders sage,
ich sol in z' einem vater hân.
er hât mir verre baz getân,

lief ihm dorhin entgegen;
und dann umarmte er ihn
und hieß ihn willkommen.
›Ihr Herren, hört,‹ sagte er dann,
›das ist mein Vater, der mich,
weil ihm sein treues Herz dazu geraten hat,
mein Leben lang erzogen hat.
Was interessiert mich, was andere sagen –
er muss mir mein Vater sein.
Er hat weit mehr für mich getan

Mittwoch, 6. Juli 2016

5371-5380

der hirte von dem künige trat
und îlte für sich zuo der stat,
dâ Pârîs des mâles gienc
und in noch verre baz enphienc,
dann er enphangen wære.
wan dô der tugentbære
den hirten komen sach dort her,
dô wart sô vröudenrîch sîn ger,
daz er von liebe weinte.
Pârîs der wol gereinte

ging der Hirte von dem König
und beeilte sich, an den Ort zu kommen,
an dem Paris zuvor gewesen war
und er wurde von ihm noch weit besser empfangen
als er zuvor empfangen wurde.
Als nämlich der Edle und Tüchtige
den Hirten von dort herkommen sah,
da wurde all sein Wollen so voll von Glückseligkeit,
dass er vor Freude weinte.
Paris, nun gut gereinigt,

Dienstag, 5. Juli 2016

5361-5370

dô wir uns dar zuo wâgen,
daz wir schirmens pflâgen,
sô müest ich iemer trûren
und in mîn herze mûren
jâmer unde sende clage
biz ûf ein ende mîner tage.‹
Sus gie von sîner bruoder schar
zuo im iegelicher dar,
der in enpfienc besunder.
hie mite und ouch dar under

als wir uns auf das Kampfspiel einließen,
uns Schutz zu bieten und Angriffe zu parieren,
so müsste ich ewig trauern
und in mein Herz müsste ich
Leid und sehnsuchtsvollen Jammer einmauern,
bis zum Ende meiner Tage.‹
Und dann ging von der Gefolgschaft seines Bruders
ein jeder zu ihm hin,
um ihn persönlich willkommen zu heißen.
Dann und währenddessen 

Montag, 4. Juli 2016

5351-5360

ze bruoder ûf der erden.
gebenedîet werden
müez iemer aller göte namen,
sît daz si mich sô wunnesamen
an dirre fröude hânt gewert;
wan allez, des mîn herze gert,
von brüederlicher sælikeit,
daz hât ir kraft an dich geleit
und ir helfe götelich.
het ich erslagen hiute dich,

bestimmt bist, hier auf Erden.
Gebenedeit seien auf ewig
alle Götter,
weil sie mir ein solches Vergnügen
angesichts dieser Glückseligkeit zugestehen;
denn alles, was mein Herz an
brüderlicher Vollkommenheit verlangt,
das hat ihre Kraft und ihre göttliche Hilfe
in dich gelegt.
Hätte ich dich heute erschlagen,

Freitag, 1. Juli 2016

5341-5350

nû wart er stille und über lût
in allen tûsent warp sô trût,
als er in was gewesen vor.
sîn werder bruoder Hector
kam an in geloufen sider.
er kuste im ougen unde lider
und hiez in willekomen sîn.
er sprach: ›Pârîs, geselle mîn,
wol mich der sælde manicvalt,
daz dû mir hiute bist gezalt

nun aber gewannen sie ihn
– im Stillen und für jeden sichtbar –
alle tausend Mal so lieb wie zuvor.
Sein angesehener Bruder Hector
kam bald zu ihm gelaufen.
Er küsste ihm Augen und Körper
und hieß ihn willkommen.
Er sagte: ›Paris, mein Kamerad,
gesegnet bin ich, angesichts des vielfältigen Heils,
dass Du mir heute zum Bruder

[»Ougen unde lider« ist eine Formulierung, die sich bei Konrad von Würzburg offenbar häufiger findet. Da die »Augenlieder« wohl eher nicht gemeint sind, sondern Gliedmaße, Körperteile, übersetze ich (recht allgemein) mit »Augen und Körper«.]