Donnerstag, 30. Oktober 2014

1771-1780

von im gescheiden dirre strît,
sîn lôp wirt michel unde wît
und muoz ûf al der erden
sîn nam erhœhet werden.‹
Pârîse was diu rede leit.
er zôch dur sîne hübescheit
den huot gezogenlichen abe.
der hôchgeborne süeze knabe
stuont ûf mit zühten über lanc
und leite sîne hende blanc

endlich und sauber beendet wird,
dann wird man ihn weit und breit loben
und sein Name muss auf der ganzen Welt
im Ansehen steigen.‹
Paris wollte das nicht hören.
Wegen seiner Höflichkeit nahm er
anständig den Hut ab.
Der süße, in einer edlen Familie geborene Knabe,
stand nach einiger Zeit sittsam auf 
und legte seine weißen Hände

[Was genau meint »über lanc«?]

1761-1770

ir eine ziehen ûz in drîn.
swenne er mit den ôren sîn
verneme îr aller drîer wort
und iren kriec biz ûf ein ort
gehœre und an ein ende,
sô gebe mit sîner hende
den apfel einer drunder
und lâze in der besunder,
diu ze rehte in haben sol.
wirt endelichen unde wol

die diesen Apfel mit sich nimmt.
Hat er erst mit eigenen Ohren
die Argumente der drei erfahren
und ihren Streit bis zuletzt und
bis zu Ende gehört,
dann gebe er mit eigener Hand
den Apfel einer von ihnen
und lasse ihn ihr allein,
der er zurecht zusteht.
Wenn von ihm diese Auseinandersetzung

Dienstag, 28. Oktober 2014

1751-1760

hât vrô Sælde ûf in gewant;
dur daz hab ich in her gesant,
daz er die vrouwen süeze
von kriege wîsen müeze,
der muot ûf disen apfel stât.
ir iegelîchiu willen hât
zuo der wunneclichen fruht.
nû sol Pârîs dur sîne zuht
den strît gescheiden under in.
er heize diesen apfel hin

hat die Herrin des Heils ihm mitgegeben.
Ich habe ihn hier herkommen lassen,
damit er die süßen Damen,
die sich nach diesem Apfel sehnen,
von ihrem Streit abbringe.
Jede von ihnen möchte
die herrliche Frucht haben.
Nun soll Paris durch seine Redlichkeit
den Streit, der zwischen ihnen herrscht, beilegen.
Er möge eine von ihnen bestimmen,

[»muot« hier mit »sehnen« zu übertragen, ist vielleicht etwas zu stark. Die Göttinnen sind – so ist das wohl gemeint – auf den Apfel fixiert, auf ihn konzentriert; – sind auf diesen Apfel hin ausgerichtet.]

Montag, 27. Oktober 2014

1741-1750

Pârîsen, der hie sitzet.
enbrennet und erhitzet
ist er ûf keiserlîche tugent:
ez wart nie kneht in sîner jugent
sô gar bescheiden, noch sô wîs.
er heizet dâ von Pârîs,
daz er gelîche rihtet
und allez dinc verslihtet
nâch rehte, des man frâget in.
witz unde künsterîchen sin

Paris empfing, der hier sitzt.
Er brennt – und ist heiß
auf kaiserliche Tugend.
Noch nie war ein junger Mann in seiner Jugend
so ganz und gar klug, verständig und so weise.
Er heißt deshalb Paris,
weil er neutral seine Urteile spricht
und alle Sachen, wegen der man ihn fragt,
so beilegt, wie es recht ist.
Wissen und versierte Ideen

Samstag, 25. Oktober 2014

1731-1740

an dem gestüele wunneclich.
si dâhten alle wider sich:
›dur waz kam dirre hirte her?‹
nû weste wol her Jûpiter,
daz si des alle wunder nam;
dâ von er in mit rede bekam
und gap in sîn antwürte alsô:
›ir herren alle,‹ sprach er dô,
›lânt iuch niht wunder nemen hie,
daz ich sô werdeclîche enphie

bei den herrlichen Stühlen. 
Sie dachten alle bei sich:
›Warum kam dieser Hirte her?‹
Da nun Herr Jupiter genau wusste,
dass sie sich alle darüber wunderten,
wandte er sich mit einer Ansprache an sie
und stand ihnen folgendermaßen Rede und Antwort:
›all ihr Herren‹, sagte er,
›wundert euch nicht darüber, dass
ich hier so würdevoll

[Ich gehe davon aus, dass »mit rede bekommen« meint, dass man sich mit einer Rede an jemanden wendet. Statt »antwürte« einfach nur mit »Antwort(en)« zu übersetzen (was man so heutzutage wohl nicht sagen würde), nehme ich eine geläufige Redensart.]

Donnerstag, 23. Oktober 2014

1721-1730

Die fürsten und der künige schar
die kâmen algelîche dar
für den werden hôhen got.
si dûhte ein wunderlicher spot,
daz im sô nâhe ein hirte saz
und daz er den sô hôhe maz,
daz er in liez die wirde hân.
von in wart rede vil getân,
waz er ze hove wolte,
und waz er schicken solte

Die Fürsten und die Leute der Könige
kamen alle zusammen dorthin,
vor den ehrbaren, erhabenen Gott.
Es schien ihnen eine kuriose Verhöhnung zu sein,
dass so nah bei ihm ein Hirte saß.
und dass er den so hoch schätzte,
dass er ihm diese Würde zukommen ließ.
Viel wurde über ihn geredet;
was er am Hof wollte
und was er ausrichten sollte

Mittwoch, 22. Oktober 2014

1711-1720

und al sîn massenîe,
daz dirre wandels vrîe
wart schône enphangen mit genuht
und daz im keiserlîche zuht
her Jûpiter mit rede bôt;
dô wart in allen harte nôt,
daz si gedrungen für den gast,
dem in der welte nihtes brast,
wan daz er guoter wæte,
noch cleider niht enhæte.

und alle Hofleute dort zu sehen begannen,
dass dieser makellose junge Mann
schön und aufwändig empfangen wurde
und dass Herr Jupiter ihm im Gespräch
mit kaiserlicher Höflichkeit begegnete –
da hatten sie es alle eilig,
sich hin vor den Gast zu drängen,
dem es auf der Welt an nichts fehlte,
außer daran, dass er weder gute
Kleidungsstoffe noch Kleidungsstücke hatte. 

Dienstag, 21. Oktober 2014

1701-1710

wart von schœnen wîben er.
des hoves wirt, her Jûpiter,
enphienc in harte schône.
ze wirde sîner crône
fuort er in bî den zîten
und sazte an sîner sîten
den süezen und den clâren,
der kunde alsô gebâren,
daz man im lobes muoste jehen.
und dô der hof begunde sehen

mit Ruhm und Anerkennung verziert.
Herr Jupiter, der Gastgeber des Hoffestes,
empfing ihn sehr freundlich.
Seiner Krone zum Ruhm
nahm er ihn dann mit sich
und setzte ihn, den Liebenswerten und Schönen,
an seine Seite.
Der war in der Lage, sich so zu benehmen,
dass man nicht umhin kam, ihn hierfür zu loben.
Und als der Hof

Montag, 20. Oktober 2014

1691-1700

die frouwen alle an sâhen.
si sprâchen unde jâhen,
ez wære ein schedelichez dinc,
daz ein sô glanzer jungelinc
ein hirte solte heizen.
er möhte in allen kreizen
ein künic lîbeshalben sîn.
sus wart durch sînen clâren schîn
Pârîs dâ gerüemet.
mit êren wol geblüemet

betrachteten alle Damen.
Sie sagten und betonten,
dass es eine Schande sei,
dass ein so herrlicher junger Mann
als Hirte durchgehe.
Er könnte, was seine Erscheinung anbelangt,
allenthalben ein König sein.
Auf diese Weise wurde Paris
wegen seines hellen Glanzes dort gerühmt.
Er wurde von schönen Frauen

Freitag, 17. Oktober 2014

1681-1690

schôn unde sæleclichen stât.
het er getragen rîche wât,
sô wære ein wunder dâ gezelt
von sîner clârheit ûz erwelt
und von der liehten varwe sîn.
diu gap sô wunnebæren schîn
ûz sînem swarzen huote,
als ob ein hac dâ bluote
von rôsen rîchen dornen.
den süezen hôchgebornen

das war bei ihm versammelt.
Hätte er kostbare Kleidung getragen,
dann hätte man dort Bewundernswertes
von seiner auserwählten Schönheit
und von seiner leuchtenden Farbigkeit erzählt.
Die glänzte so behaglich
aus seiner schwarzen Haut,
wie wenn ein Dornbusch dort geblüht hätte
mit Rosen voll mit Dornen.
Den süßen, hochgebornen

[Für »Haut« würde man eigentlich das mittelhochdeutsche »hût« erwarten; aber »huote« als irgendetwas, das mit Schutz und Behütung zu tun hat, scheint wenig Sinn zu geben.]

Donnerstag, 16. Oktober 2014

1671-1680

umb den apfel hæte.
swie man in kranker wæte
den jungelinc dâ sæhe,
doch was vîn unde wæhe
sîn lîp und aller sîn gebâr.
als ob er hæte guldîn hâr,
sus glizzen sîne löcke reit.
der wunsch der was an in geleit
von aller hande dinge,
daz einem jungelinge

des Apfels begonnen hatte.
Auch wenn man den jungen Mann
dort mit schlechter Kleidung sah,
waren doch sein Aussehen und sein ganzes Auftreten
grazil und stattlich.
Seine blonden Locken glänzten,
als wenn er goldenes Haar hätte.
Was man sich nur wünschen konnte; –
was einem jungen Mann
gut und glücklich ansteht –,

Mittwoch, 15. Oktober 2014

1661-1670

einen kolben in der hant.
als man in bî dem vihe vant,
sus wart er hin ze hove brâht.
des wart vil dicke dâ gedâht,
waz ein hirte wolte dar
vür schœne frouwen liehtgevar.
Doch wart er wol enphangen.
er kam für si gegangen
zuo dem gestüele wunneclich,
dâ der kriec erhaben sich

eine Keule in der Hand.
So wie man ihn bei dem Vieh fand,
so wurde er hin zum Hof gebracht.
Dort zerbrach man sich deshalb sehr den Kopf
darüber, weshalb ein Hirte dorthin
zu schönen, hell leuchtenden Damen komme.
Trotzdem wurde er gut empfangen.
Er ging zu ihnen,
und damit auch zu den schönen Stühlen,
wo der Streit wegen

[Ich füge ein »und damit auch« ein, um deutlich zu machen, dass er sowohl zu den Damen wie auch zu den Stühlen kommt (bzw. zu dem »Gestühl«, für das mir aber kein passendes neuhochdeutsches Wort einfällt).]

Dienstag, 14. Oktober 2014

1651-1660

von liehter sîden wol gebriten!
nein, sîn roc der was gesniten
ûz einem groben sacke
und hienc an sînem nacke
ein grâwer mantel niht ze guot.
von vilze truoc er einen huot
und zwêne schuohe rinderîn,
die wâren zuo den beinen sîn
mit riemen dâ gebunden.
ouch truoc er bî den stunden

aus heller Seide schön gewebt war?!
Nein, sein Rock, der war
aus grobem Sacktuch geschnitten
und über seinem Nacken hing
ein grauer und nicht allzu guter Mantel.
Aus Filz war der Hut, den er trug,
und zwei Schuhe aus Rindsleder
waren an seine Beine mit
Riemen gebunden.
Auch trug er zu dieser Zeit

Montag, 13. Oktober 2014

1641-1650

nâch dem hirten alzehant.
sus wart Pârîs von in besant,
der kûme doch ze hove kam,
wan in des michel wunder nam,
waz er dâ schicken müeste.
hin ûz der wilden wüeste
kêrte er ûf die hôchgezît.
ein kleit daz truoc er bî der zît,
daz im dâ was gebære.
nû sprechent, ob ez wære

innerlich sogleich in Wallung gerieten.
Sogleich sandten sie nach Paris,
der nur zögerlich zum Hof kam,
weil er sich sehr darüber wunderte,
was er da zu schaffen haben werde.
Von der wilden Wüste aus
ging er zum Fest.
Zu dieser Zeit trug er ein Gewand,
das ihm seinerzeit gebührte.
Nun sagt, ob es

Freitag, 10. Oktober 2014

1631-1640

den selben hirten wolten,
dazs' einen boten solten
nâch im senden in den walt,
dur daz ir kriec sô manicvalt
gescheiden würde rehte
von dem getriuwen knehte,
der sich ûf tugende wæge
und ganzer wâre pflæge.
Diz mære in allen drîen geviel
sô wol, daz ir gemüete wiel

diesen Hirten sehen wollten,
sie nach ihm, in den Wald,
einen Boten senden sollten,
damit ihr vielfach verschlungener Streit
auf (ge)rechte Art und Weise
von dem ehrlichen jungen Mann geschlichtet würde;
er, der sich an die Tugenden halte
und sich um Friedensschlüsse kümmere.
Diese Neuigkeit gefiel allen dreien
so gut, dass sie wegen des Hirten

Donnerstag, 9. Oktober 2014

1621-1630

und daz liuterlîche reht.
ouch seite er in, der selbe kneht
wære ein hirte unmâzen wîs
und hieze dâ von Pârîs,
daz an im gelîche
der arme und ouch der rîche
fünden starc gerihte grôz.
diz mære dô mit rede entslôz
her Jûpiter den frouwen.
er sprach, ob si beschouwen

noch das gute Recht.
Er sagte ihnen auch, dass dieser junge Mann
ein Hirte sei und außerordentlich klug
und deshalb Paris genannt werde,
weil bei ihm sowohl
der Schwache wie auch der Mächtige
einen imposanten, einflussreichen Gerichtshof finde.
Diese Sache machte dort
Herr Jupiter den Damen persönlich bekannt.
Er sagte ihnen, dass, wenn sie

[Ich übersetze die »rede« in V. 1628 mit »persönlich«.]

Mittwoch, 8. Oktober 2014

1611-1620

Doch seite er in ze mære,
ein hübscher knabe wære
dâ bî in einem walde,
der scheiden künde balde,
swaz verlâzen würde an in.
er hete alsô getriuwen sin
und sô bescheidenlichen muot,
daz er durch keiner slahte guot,
noch dur liebe, noch dur leit
zerbræche sîne wârheit

Doch erzählt er ihnen davon,
dass ganz in der Nähe in einem Wald
ein hübscher Knabe sei,
der in der Lage sei, geschwind all den Streit zu schlichten,
der an ihn herangetragen werde.
Er habe eine so treue Gesinnung
und sei so klug veranlagt,
dass er durch keinerlei Besitz,
noch durch Freude, noch durch Leid
weder seine Aufrichtigkeit aufgebe

Dienstag, 7. Oktober 2014

1601-1610

beswæren niht ir zweier lîp,
sô was Jûnô sîn selbes wîp
und dar zuo diu swester sîn:
alsô was er in allen drîn
mit sippeschaft gebunden,
daz er si bî den stunden
getorste niht gescheiden.
den zwein wolt er niht leiden,
ob diu dritte füerte hin
den schœnen apfel under in.

sie beide nicht betrüben;
außerdem war Juno seine eigene Frau
und zudem noch seine Schwester.
Er war also allen dreien
verwandtschaftlich verbunden,
so dass er es nicht wagte, sie
zu dieser Zeit zu trennen.
Er wollte nicht zweien Leid zufügen,
indem die Dritte der drei den
schönen Apfel mit sich nahm. 

Montag, 6. Oktober 2014

1591-1600

wolt under in verkiesen
und dâ mit rede verliesen
sîn hôchgebornez künne.
er was von adels wünne
in sippe sunder allen mein.
dâ von er wider si dô schein
an triuwen deste vester.
Vênus diu was sîn swester
und frô Pallas sîn tohter,
von dirre sache mohter

verschmähen wollte; auch wollte er
dort nicht wegen seiner Äußerungen
Verwandte von hoher Geburt verlieren.
Er war wegen der Herrlichkeit hoher Geburt
gegenüber der Familie ohne böse Absichten.
Deshalb stellte sich ihnen seine
Treue als umso größer dar.
Venus, die war seine Schwester
und Frau Pallas seine Tochter;
Aus diesem Grund wollte er

[Die Verse 1594/95 bereiten mir Kopfzerbrechen, weil mir nicht ganz klar ist, wie die »Wonne« des Adels zu verstehen ist und wie man »sippe« hier am Besten übersetzt.]