Freitag, 30. September 2022

17030-17039

si wart im z’eime wîbe

unde er wart ir z’einem man

si truogen beide ein ander an

lieb unde herzeclichen sin,

si minnet unde meinet in.

daz selbe tet er si dâ wider.

diu schœne leite ir zürnen nider

und wart im herzeclichen holt:

daz schuof der süezen minne solt,

der in beiden nâch ir art


Sie wurde zu seiner Frau

und er wurde zu ihrem Mann.

Sie beide waren einander

freudig und von Herzen zugetan.

Sie liebte ihn und hing an ihm;

und ihm ging es ihr gegenüber ganz genauso.

Die Schöne ließ ihren Zorn sein

und hatte ihn nun von Herzen gern. 

Dafür sorgte der süße Lohn der Liebe,

der für sie beiden, so wie es ihnen gebührte,

Donnerstag, 29. September 2022

17020-17029

ir priesterinne reine

diu hæte si gewecket

und mit ir stimme erschrecket,

dur daz man sliefe niht ze vil

und man der hôchgezîte spil

begunde trîben aber als ê.

waz touc hie lange rede mê?

der jungelinc schœne unde guot

erküelet hete sînen muot

an der juncfrouwen lîbe.


ihre herrliche Priesterin

sie geweckt 

und mit ihrer Stimme aufgeschreckt habe,

damit man nicht zu viel schlafe

und man wieder festlich feiere

so wie zuvor.

Was soll ich groß davon erzählen?

Der schöne und gute junge Mann

hatte sein flammendes Begehren

an der jungen Dame gekühlt.  


[»Sein Mütchen kühlen« sagt heute vermutlich niemand mehr…]

Mittwoch, 28. September 2022

17010-17019

sus wâren dâ ze liebe komen

mit ein ander disiu zwei,

doch wizzent, daz sô lûte erschrei

diu maget rîch von hôher kür,

ê si den magetuom verlür,

daz von ir stimme schalle

die werden frouwen alle

erschrâken unde erwacheten.

ir gnuoge sich ûf macheten

und wânden vil gemeine,


Auf diese Weise haben diese beiden

miteinander zur Freude gefunden –

doch müsst ihr wissen, dass das edle,

hochgeborene Mädchen so laut geschrien hatte,

bevor sie ihre Jungfräulichkeit verlor,

dass durch ihre laute Stimme

all die angesehenen Damen

erschraken und erwachten.

Viele von ihnen machten sich auf

und allgemein ging man davon aus, dass

Dienstag, 27. September 2022

17000-17009

si vâhten unde rungen

mit ein ander ûf dem grase

sô lange, biz der grüene wase

wart ir zweiger bettewât

und ein vil minneclich getât

ergienc dâ von in beiden.

diu schœne wart gescheiden

von ir magetuome:

ir kiuscheite bluome

wart mit vröuden ab genomen.


Sie rangen und kämpften

miteinander auf dem Gras

so lang, bis der grüne Rasen

ihr beider Bettezeug war

und von ihnen beiden Handlungen begangen wurden,

die sehr der Liebe entsprachen.

Der Schönen wurde

ihre Jungfräulichkeit genommen:

Die Blume ihrer Unschuld

wurde mit Freuden gepflückt.

Montag, 26. September 2022

16990-16999

si wolte gerne stillen

sîn trûren mit ir güete

und machen sîn gemüete

vil hôher wunne rîche,

doch tet si dem gelîche,

sam si niht gerne sæhe,

daz an ir dâ geschæhe

sîn wille und sînes herzen ger.

er wart von ir hin unde her

gestôzen und gedrungen.


Sie wollte gern sein Trauern

mit ihrer Herzensgüte lindern

und dafür sorgen, dass er sich besser fühlt

und von großer, mächtiger Glückseligkeit erfüllt wird.

Dennoch handelt sie so,

als würde sie nicht gerne sehen,

dass dort an ihr

sein Wille und sein Begehren verwirklicht werde.

Er wurde von ihr hin und her

gestoßen und geschoben.

Freitag, 23. September 2022

16980-16989

ungerne wart si niht sîn wîp

und werte sich doch vaste sîn.

in stiez diu werde künigîn

von ir allez hinnen baz.

si dûhte unschemelicher daz,

er læge ir mit gewalte bî,

dann ob diu kiusche wandels vrî

gesprochen hete wider in:

»vollende dînes herzen sin

an mir und dînen willen.«


Sie wurde nicht ungern seine Frau

und dennoch wehrte sie sich heftig gegen ihn.

Die edle Königin stieß ihn

kräftig von sich weg.

Sie glaubte, sich weniger schämen zu müssen,

wenn er gewaltsam mit ihr schliefe,

als wenn die Sittsame und Tugendhafte

zu ihm gesagt hätte:

»Vollende an mir, was dein Herz begehrt

und was du willst.«

Donnerstag, 22. September 2022

16970-16979

si was ein wol gewahsen maget

und schein der süezen minne fruht

an ir sô zîtic mit genuht,

daz si daz niht ungerne sach,

daz er daz edel obez brach,

daz in ir wunnegarten stuont.

si tet als al die megde tuont,

die sich von êrst beginnent wern,

sô man der minne wil verhern

ir kiuschen unde ir reinen lîp.


Sie war ein gutaussehendes Mädchen

und die Frucht der süßen Liebe

strahlte an ihr so reif und voll,

dass sie das nicht ungern sah,

dass er das edle Obst pflückte,

das in ihrem Lustgarten gewachsen war.

Sie tat das, was alle Mädchen tun,

die sich zunächst wehren,

wenn man den keuschen und reinen Körper 

der Liebe erobern will.

Mittwoch, 21. September 2022

16960-16969

er twanc si nâhe an sîne brust

und an sîn herze bî der stunt.

ouch wart diu minneclîche enzunt

sô vaste und alsô sêre,

daz si niht langer mêre

mit worten noch mit listen

sich mohte dâ gevristen

von sîner hôhen überkraft.

ir lîp schœn unde tugenthaft

wart in senende nôt gejaget.


Er zwang sie dann nah an seine Brust

und an sein Herz.

Auch wurde die Liebenswerte

so stark und innig erregt und entflammt,

dass sie sich nicht länger

mit Worten, Kniffen und Manövern

vor seiner übermächtigen Stärke

bewahren konnte.

Sie und ihr schöner, tugendhafter Körper

wurden in schmerzliche Not gestürzt.


[Ob es eine gute Idee ist, dem »entzünden« hier noch ein »erregen« beizugesellen?]

Dienstag, 20. September 2022

16950-16959

nû sol mîns herzen wunde

verheilet werden schône

mit dîner minne lône

und von der hôhen helfe dîn.

hie mite er aber die künigîn

begunde triuten alzehant.

der guoten er sich underwant

mit herzen und mit henden

und wolte an ir vollenden

mit liebe sînen muotgelust.


nun aber muss die Wunde meines Herzens

mit dem Lohn deiner Liebe

und deiner edlen Hilfe

schön geheilt werden.

Mit diesen Worten begann er sogleich erneut,

die Königin zu umfassen.

Mit Herz und Hand

bemächtigte er sich der Guten

und wollte an ihr mit Freude

sein Begehren erfüllen.

Montag, 19. September 2022

16940-16949

nû trœste mîne sinne

und al mîn trûren büeze.

sît daz dû, frouwe süeze,

bist ze trôste mir geborn,

sô habe drumbe keinen zorn,

daz dich erwelt mîn herze hât,

wan sîn ist keiner slahte rât:

mîn angest muoz ein ende haben.

in senender nôt bin ich begraben

gewesen lange stunde,


ein Trost werde für mein Fühlen und Wollen

und mich für all meine Traurigkeit entschädigt. 

Da du, süße, edle Dame,

mir zum Trost auf der Welt bist,

brauchst du nicht darüber zornig zu sein,

dass dich mein Herz erwählt hat,

denn es muss so sein:

Meine Not und Betrübnis müssen ein Ende haben.

In sehnsuchtsvoller Not bin ich 

so viele Stunden lang begraben gewesen –

Freitag, 16. September 2022

16930-16939

erwerben hie ze wîbe dich

und dînen minnen an gesigen:

dâ von sô lâ die rede ligen,

daz ich nû hinnen kêre!

ich wâge ê lîp und êre,

ê daz ich von dir scheide.

ich hân mit herzeleide

durch dich gerungen aldâ her,

des muote ich an dich unde ger,

daz dîn erweltiu minne


hier zu meiner Frau machen

und deine Liebe erobern.

Hör deshalb auf mit dem Gerede,

dass ich von hier weggehen soll!

Eher setze ich Leben und Ansehen aufs Spiel

als mich hier von dir zu trennen.

Ich hatte mit tiefem Leid zu kämpfen,

wegen dir, schon die ganze Zeit lang,

deshalb begehre ich dich und will,

dass deine herrliche Liebe

Donnerstag, 15. September 2022

16920-16929

doch lie der tugentbære

dar umbe niht sîn ringen abe.

er sprach mit jâmers ungehabe

zuo der vil clâren aber dô:

»niht rede, sælic vrouwe, alsô,

daz dû vermelden wellest mich

gein dînem vater lobelich,

wan ich enlâze drumbe niht.

swaz an dem lîbe mir geschiht

und an den êren, doch wil ich


doch ließ der Kräftige

deshalb nicht von seinem Ringen ab.

Er wiederum sagte dann mit jämmerlich-herzzerreißender Stimme

zu der makellos Schönen:

»Sag’ doch sowas nicht, glückselige Dame,

dass du mich deinem verehrten Vater

melden und verraten willst,

denn ich werde dennoch nicht von dir ablassen.

Ganz egal was mir geschieht, 

ob ich auch Leben und Ansehen verliere, ich will dich dennoch

Mittwoch, 14. September 2022

16910-16919

swie mich dîn kraft betwinget,

daz ich werden muoz dîn wîp,

ez sol bînamen dînen lîp

dich kosten und dîn êre.

dâ von dû hinnen kêre

und lâ mit êren mich dur got!

dû trîbest ungefüegen spot,

der hôhen muot mir leidet

und mich ûz vröuden scheidet.«

Diu rede was im swære:


Und sollte es dazu kommen, dass du mich mit Gewalt bezwingst,

so dass ich deine Frau werden muss,

dann wird es dich wahrlich 

dein Leben kosten und all dein Ansehen.

Geh deshalb weg 

und lass mich, um Gottes willen, mit Anstand zurück!

Die Scherze, die du hier treibst, sind unerhört und rücksichtslos –

sie verderben mir Glück und Frohsinn

und nehmen mir meine Freude.«

Ihre Rede betrübte ihn;

Dienstag, 13. September 2022

16900-16909

dîn ringen tuot mir alsô wê,

daz ich sîn langer niht vertrage,

wan ich ez klegelîche clage,

daz dû mich niht mit vride lâst.

swie dû niht von mir hinnen gâst,

hie wirt ein grôz geschrei vernomen

und muoz für mînen vater komen,

daz mich dîn vrevelich gewalt

hât in angest hie gestalt

und mich ze nœten bringet.


Dein Ringen tut mir so weh,

dass ich es nicht länger aushalte,

zumal ich ja jämmerlich drüber klage,

dass du mich nicht in Ruhe lässt.

Wenn du nicht von hier weggehst,

werde ich laut schreien,

so dass mein Vater hört,

dass du mich unverschämt

in eine Notlage gezwungen hast

und mir Gewalt antun willst.

Montag, 12. September 2022

16890-16899

het ich gewist, daz ich nû weiz,

ich hete niht verhenget dir,

daz dû sô dicke nâhe mir

gesezzen wærest und gelegen.

dû hâst ze vil mit mir gepflegen

heimlicher kurzewîle,

nû ganc von mir und île

vil balde dîne strâze!

des schimpfes mich erlâze,

der mînen êren übel stê!


Hätte ich gewusst, was ich nun weiß,

hätte ich dir nicht erlaubt,

dass du so oft nah bei mir

hast sitzen und liegen dürfen. 

Du hast zu viel vertrauliche Zeit

mit mir verbracht.

Lass mich nun allein und 

zieh schleunigst deines Wegs!

Erspare mir die Schande,

die mein Ansehen beschmutzen wird!

Freitag, 9. September 2022

16880-16889

mit êren dû mich lâzen solt

dur dîne tugentrîchen art!

daz ich dir ie sô heimlich wart,

daz ist mich nû geriuwen.

wer möhte des getriuwen,

daz dû der wærest, der dû bist?

ich hân dir alze lange vrist

geselleschaft alhie geboten,

des muoz ich glüejen unde roten

in schemelicher nœte heiz.


Lass mir, um deiner edlen Tugend willen,

mein Ansehen!

Dass wir uns jemals so nahe gekommen sind und uns angefreundet haben,

das bereue ich nun.

Wer hätte wissen können,

dass du der bist, der du bist?

Viel zu lange habe ich dir

hier Gesellschaft geleistet;

dafür muss ich nun erglühen und erröten

in schamvoller, heißer Not.

Donnerstag, 8. September 2022

16870-16879

ûf bluomen unde ûf krûte

begunde er mit ir ringen,

dur daz im dâ gelingen

möht an ir lîbe minneclich.

dô werte diu vil schœne sich

mit hübschen worten unde sprach:

»lâ stên, dû tuost mir ungemach

mit frevelichen sachen.

dû wilt an mir gemachen,

daz ich dir niemer wirde holt.


Er fing an, auf Blumen und Gräsern

mit ihr zu ringen,

um an ihrem schönen Körper

zum Erfolg zu kommen.

Sie, die überaus schön war, wehrte sich dann

mit wohlgesetzten Worten und sagte:

»Hör auf, du fügst mir Leid zu 

mit Gewalt und Übermut.

Du wirst dafür sorgen,

dass du niemals meine Zuneigung gewinnst.

Montag, 5. September 2022

16860-16869

er seite ir, daz er wære tôt

an herzen unde an lîbe,

ob er si niht ze wîbe

gewünne bî den zîten.

ein minneclichez strîten

vienc er aber mit ir an,

als ein vil senesiecher man,

der liebes gerne wirt gewert

und minneclicher wunne gert

von sînes herzen trûte.


Er sagte ihr, dass er mit 

Herz und Leib zugrunde gehen müsse,

wenn er sie nicht bald

als Frau bekomme.

Einen Liebeskampf

fing er erneut mit ihr an,

so wie es ein Mann tut, der vor Begehren krank ist

und der gerne hätte, dass ihm seine Herzensliebe

Freude gewähre

– und dessen Verlangen auf das Glücksgefühl der Liebe zielt.  

Freitag, 2. September 2022

16850-16859

si wart von blûcheit und von schame

rôt als ein niuwez rôsenblat

und wolte gerne von der stat

zen frouwen sîn gegangen.

dâ wart si dâ gevangen

von dem juncherren bî der hant.

er sluoc die hende an ir gewant

und lie si niht von dannen gên.

die schœnen bat er stille stên

und clagte ir aber sîne nôt.


Scham und Schüchterheit ließen sie erröten

wie ein frisches Rosenblatt

und gern wäre sie von diesem Ort weg

zu den edlen Frauen gegangen.

Nun war sie aber dort 

durch die Hand des jungen Mannes gefangen.

Mit seinen Händen packte er sie an ihrem Kleid

und ließ sie nicht weggehen.

Er bat die Schöne, still zu stehen

und klagte ihr erneut seine Not. 

Donnerstag, 1. September 2022

16840-16849

well êweclichen minnen.«

Der rede erschrac diu guote.

si wundert in ir muote

der fremden niuwemære,

daz niht ein maget wære

und ein juncfrouwe ir trûtgespil:

dâ von des dûhte gar ze vil

die clâren süezen künigîn,

daz ir sô heimlich was gesîn

der edele und der lobesame.


für immer lieben will.«

Über diese Rede erschrak die Gute.

Sie wunderte sich 

über die befremdliche Neuigkeit,

dass ihre Spielgefährtin kein Mädchen sei

und keine junge Dame.

Und das Schlimmste für die

makellose, süße Königin war,

dass der Edle und Vielgerühmte

ihr schon die ganze Zeit so nah und vertraut war.