Dienstag, 31. März 2015

2611-2620

sô mach ich dich sô rîche,
daz niendert dîn gelîche
wirt funden ûf der erden.‹
›nein, Pârîs, dû solt werden
mîn geziuc!‹ sprach Pallas.
›sît wîsheit ie vor guote was
und iemer ist ân ende,
sô nim von mîner hende
ze lône witze und edel kunst,
dar umbe daz ich dînen gunst

mache ich dich so reich,
dass niemand auf Erden sich findet,
der dir gleicht.‹
›Nein, Paris, du sollst mein
Fürsprecher werden!‹, sagte Pallas.
›Weil Weisheit schon immer dem Besitz
vorausging und ewig vorausgehen wird –
so nimm aus meinen Händen
Weisheit und herrliche Kunstfertigkeit,
so dass ich deine Unterstützung habe

[Kann man »gunst« mit »Unterstützung« übersetzen?]

Montag, 30. März 2015

2601-2610

rîcheit von mir ze stiure.
schaz ist dir worden tiure,
wan dû bist an guote cranc;
des gib ich dir ân allen wanc
ein wunder hie ze miete,
dur daz der hovediete
von dir werde kunt getân,
daz ich von schulden müeze hân
den apfel missewende vrî.
gestêst dû mînem rehten bî,

Reichtum von mir als Gabe.
Geld und Gut sind für dich unbezahlbar,
weil es dir an Besitz fehlt;
du kannst dir sicher sein: davon gebe ich dir
hier als Belohnung eine unfassbare Menge,  
wenn du der Hofgesellschaft
Bescheid gibst,
dass ich zurecht den makellosen
Apfel haben müsse.
Wenn du hinter meinem Anspruch stehst,

Freitag, 27. März 2015

2591-2600

›Pârîs, dû hâst den kriec vernomen
und bist dar umbe her bekomen,
daz dû nâch rehte scheiden solt.
nû wil ich silber unde golt
dir geben hie ze lône,
dar umbe daz dû schône
und ordenlîche rihtest.
sît daz dû wol verslihtest
mit hôhen witzen elliu dinc,
sô nim, dû werder jungelinc,

›Paris, du hast den Streit gehört
und bist deshalb hergekommen,
dass du schlichten sollst, dem Recht gemäß.
Nun will ich dir Silber und Gold
als Lohn geben,
damit du anständig und ordentlich
über den Streit entscheidest.
So nimm, du geschätzter Jüngling,
weil Du sorgfältig und mit
großer Weisheit alle Angelegenheiten schlichtest,

Donnerstag, 26. März 2015

2581-2590

diu wart besunder dâ geseit
und ûf ein ende vür geleit
Pârîse, dem vil clâren,
der rehtes kunde vâren
und ungerihte stôrte.
er saz still unde hôrte
ir kriegen und ir vehten
und wolte nâch dem rehten
rihten willeclichen dô.
dô sprach eht aber Jûnô:

die wurde dort jeweils einzeln geäußert
und – schließlich und endlich – Paris vorgelegt,
dem außerordentlich Schönen,
der wusste, wie man sich an das Recht hält
und Unrecht verhindert.
Er saß schweigend und hörte
ihr Streiten und ihr Kämpfen
und wollte nun bereitwillig,
dem Recht gemäß richten.
Da aber sagte Juno:

Mittwoch, 25. März 2015

2571-2580

mit kriege widerspænic
und wolten si gar ænic
des werden apfels hân getân.
seht, dô begunde in widerstân
Vênus in allen orten.
mit witzen und mit worten
stuont si der süezen minne bî.
si sâzen kriegend alle drî
und triben des vil unde gnuoc.
swaz wirde ir ieglîchiu truoc,

feindselig und kriegerisch gegenüberzutreten
und sie wollten ihr den wertvollen
Apfel ganz und gar abspenstig machen.
Seht, da begann Venus,
ihnen in jeder Hinsicht Widerstand zu leisten.
Mit Klugheit und mit Worten
leistete sie der süßen Minne Beistand.
Alle drei saßen sie und stritten
und taten das in aller Länge und Breite.
Welche Würde auch einer jeden von ihnen zukam,

Dienstag, 24. März 2015

2561-2570

den sic dâ solte füeren hin.
si zwô gehullen under in
enweder sô, noch sus in ein,
wan daz der muot was an in zwein,
dazs' umb den apfel beide striten.
dâ von si deste kûmer liten,
daz ieman anders drumbe vaht.
si leiten beide ir strîtes maht
ûf der minne künigîn.
si zwô begunden ir dô sîn

dort den Sieg davon getragen.
Die beiden waren sich ansonsten
weder bei dem noch bei jenem einig,
nur waren alle zwei darauf aus,
um den Apfel zu kämpfen.
Eben deshalb konnte sie es umso weniger ertragen,
dass jemand anderes darum stritt.
Sie konzentrierten beide ihre Kampfeskräfte
auf die Königin der Minne.
Die zwei begannen von da an, ihr

2551-2560

Mit disen worten und alsus
bestuont diu vrouwe Vênus
ir zwô gespilen krieges dô.
vrô Pallas und vrô Jûnô
die wânden ir gestrîten
und wurden bî den zîten
ir widersachen beide.
swie michel underscheide
wær an ir zweiger sinne,
doch was in leit, ob minne

Mit diesen Worten und auf diese Weise
hielt dort Frau Venus gegen die Angriffe
ihrer beiden Gefährtinnen stand.
Frau Pallas und Frau Juno,
die dachten, sie könnten ihrer Herr werden,
und beide wurden zu dieser Zeit
ihre Gegner.
Ganz egal, wie groß der Unterschied
zwischen den Einstellungen dieser beiden auch war,
es schmerzte sie beide, hätte die Minne

Freitag, 20. März 2015

2541-2550

mit vröuden übergüetet.
minn alle tugende brüetet,
sam sîniu kindelîn daz huon.
wer künde tugentlichen tuon,
ob man niht minne pflæge.
nieman sich hôhe wæge
ûf êre und ûf der triuwen hort,
ob minne, daz vil reine wort,
niht wære z’allen stunden
ze herzen im gebunden.‹

Liebreiz und Wonne aller Dinge.
Die Minne brütet alle Tugenden aus
wie das Huhn seine Kinderchen.
Wer könnte tugendhaft handeln,
wenn man nicht mit der Minne umginge?
Niemand würde sich in die Höhe wagen,
zu Ansehen und zum Schatz der Treue,
wenn ihm Minne, das vollends makellose Wort,
nicht zu jeder Zeit
in das Herz gebunden wäre.‹

Donnerstag, 19. März 2015

2531-2540

und niht umb in kan werben,
der schicke eht umb ein sterben
und tuo sich lebender sælden abe.
swie vil er anders heiles habe,
er muoz an fröuden tôt geligen,
wirt im der sælikeit verzigen,
daz er niht hât der minne gunst.
waz hilfet den guot oder kunst,
der muotes niht ûf minne treit.
minn aller dinge süezekeit

und nicht in der Lage ist, um ihn zu werben,
der kümmere sich lieber darum, zu sterben
und streife alles lebende Heil ab.
Wie viel Glück auch immer er ansonsten habe,
seine Freude wird mit Sicherheit zu Tode kommen,
wenn ihm die Glückseligkeit versagt bleibt,
über das Wohlwollen der Minne zu verfügen.
Was helfen demjenigen Besitz und Können,
dessen Denken nicht auf die Minne gerichtet ist?
Mit Freude übertrifft die Minne

Mittwoch, 18. März 2015

2521-2530

den apfel wunneclich gestalt,
sît ich der minne hân gewalt,
diu manic wunder schicket.
si vlihtet unde stricket
z'ein ander leben unde muot.
des beidiu wîsheit unde guot
niht vollenden kunnen.
minn ist ob allen wunnen
ein sunderlîchiu vröude wert.
swer niht ir süezen lônes gert

den herrlich aussehenden Apfel lassen,
da ich Herrscherin der Minne bin,
die so manches Wunder schickt.
Sie flechtet und strickt
ineinander Leben und Denken,
was weder Weisheit noch Besitz
erledigen können.
Minne ist noch vor allen Beglückungen
eine besondere, wertvolle Freude.
Wer auch immer nichts von ihrem süßen Lohn begehrt

2511-2520

daz ir wille erfüllet wirt,
der in niht ganzer wünne birt,
noch herzecliches muotes.
wîstuomes unde guotes
wirt an die minne vil geleit
durch niht, wan dur die trügenheit,
daz man si wænet tœren.
ir mügent strîtes hœren
und iuch des krieges mâzen.
man sol mir hiute lâzen

so dass ihr Wollen ausgefüllt wird,
aus dem ihnen weder eine vollständige Seelenweide wächst
noch von Herzen kommende Gesinnung.
Viel Weisheit und Besitz
wird für die Minne aufgewendet
und das nur, weil man sich einbildet,
man könnte sie betrügen.
Ihr könnt den Streit beenden
und im Kämpfen Maß halten.
Man muss mir heute

Montag, 16. März 2015

2501-2510

belîben hie ûf erden.
swaz in dâ nutzes werden
von ungetriuwem muote kan,
dâ vindent si niht anders an,
wan den selben trügesite,
dâ si die minne suochent mite.
Den valsch, den si dâ sæjent,
den snîdents' unde mæjent,
noch anders keiner slahte fruht
wan die vil armen ungenuht,

nicht meine Hoffnung setzen.
Welchen Vorteil sie auch daraus ziehen,
dass sie eine untreue Gesinnung hegen,
sie werden nichts anderes finden
als die gleiche betrügerische Art und Weise,
mit der sie die Minne suchen.
Von der Treulosigkeit, die sie dabei sähen,
schneiden und mähen sie
keine andere Ernte
als das höchst ärmliche Unkraut,

[Soll man »ungenuht« mit Unkraut übersetzen? Oder wäre »Unmäßigkeit« oder »Unvernunft« besser? Oder eine Kombination aus beidem?]

Samstag, 14. März 2015

2491-2500

die wellent ouch vil dicke
mit valscher liebe stricke
der süezen minne vâren,
sô kan si wol gebâren,
sam si niht merke ir trügenheit
und lât in fröude sîn bereit
von ir genâden stiure.
daz aber âne siure
diu selbe kranke vröude sî,
der zuoversihte wil ich vrî

die wollen auch immer wieder
mit den Stricken falscher Freude
der süßen Minne nachstellen.
Sie aber kann sich leicht so verhalten,
als würde sie deren Falschheit nicht bemerken
und sie lässt ihnen Freude zukommen,
weil sie aus eigenem Antrieb dazu geneigt ist.
Dass aber diese schwache Freude
ohne Bitterkeit sei,
darauf will ich, hier auf Erden,

Donnerstag, 12. März 2015

2481-2490

den im diu minne bære,
ob er niht valschaft wære
und er getriuwe wolte sîn.
wil er der minne liehten schîn
mit valschen muote swerzen,
so erleschent im ir kerzen,
dâ von sîn fröude würde enbrant,
güzze drunder niht zehant
sîn trügelichez gunterfeit.
rîchtuom und edel wîsheit

das ihm die Minne schafft,
wenn er nicht betrügerisch ist,
sondern treu sein will.
Will er das helle Strahlen der Minne
mit schlechter Gesinnung schwärzen,
dann erlöschen ihm ihre Kerzen,
wodurch seine Freude in Brand geriete,
würde er nicht sofort sein trügerisches,
unreines Metall hinein gießen.
Macht, Reichtum und vornehme Weisheit,

[»gunterfeit« ist, laut Lexer, »unreines, vermischtes, verfälschtes gold, metall«.]

Mittwoch, 11. März 2015

2471-2480

und wil an ir den site hân:
wirt valsches iht dar în getân
sô tiure als umb ein cleinez hâr,
daz ir lop schœn unde clâr
wirt betrüebet gar dâ mite.
doch swachent an ir tugent site
diu minne selber niht dar abe!
swer valsch dar în gemachet habe,
der wizze, daz er krenke sich
an dem geluste lûterlich,

und sie ist darauf bedacht,
dass dann, wenn etwas Unechtes hinein getan wird,
so bedeutsam wie ein kleines Haar,
ihr schönes und reines Lob
dadurch ganz und gar getrübt wird.
Doch wird die Minne selbst dadurch
in ihrer Brauchbarkeit und Tauglichkeit nicht beeinträchtigt!
Wer auch immer Unechtes hinein gemacht habe,
der soll wissen, dass er sich selbst
an dem reinen und klaren Begehren schädigt,

Dienstag, 10. März 2015

2461-2470

an lûterlicher angesiht,
und wære ez an im selber niht
deste bœzer umb ein ei;
wan daz sîn varwe bræche enzwei
und dem niht schînes gæbe,
der valsch dar under wæbe
und ez betrüebet hæte.
diu lûter minne stæte
dem selben wazzer ist gelîch.
ir art ist alsô tugentrîch

sein ungetrübtes Aussehen –
auch wenn es selbst
nur ein klein wenig schlechter wäre;
es ist aber so, dass seine Schönheit
zerbräche und demjenigen nicht leuchten würde,
der Unredlichkeit hineinweben würde
und es getrübt hätte.
Die klare, beständige Minne
gleicht diesem Wasser.
Ihr Wesen ist so voll von Tugend

[Das ist eine Passage, die mich etwas unsicher zurücklässt.]

Montag, 9. März 2015

2451-2460

gebrennet und geflœzet.
swer valsch dar under stœzet,
ez wirt unlûterbære.
ob sîn ein fuoder wære,
ez müeste gar betrüebet sîn;
der niht wan einen tropfen drîn
ûz fremdem wazzer güzze,
daz niht von rôsen flüzze,
noch wære ûz in gebrennet.
sîn glanz der würde entrennet

gebrannt und geschmolzen.
Wer auch immer Unechtes hineinmischt –
es wird unsäuberbar.
Auch wenn es ein ganzer Wagen voll wäre,
es wäre vollständig verunreinigt;
wer auch nur einen Tropfen fremden Wassers
hineingießen würde, das nicht
aus Rosen geflossen ist
oder aus ihnen gebrannt worden war.
Sein Glanz würde aufgelöst –

Montag, 2. März 2015

2441-2450

in selber und die minne niht:
wan ob im liebes iht geschiht,
daz ist wol halbez kunterfeit.
vermit er sîne trügenheit
und hæte lûter sinne,
sô fünde er ganze minne,
und herzeclîche friuntschaft.
swer minne suochet und ir kraft,
der sol mit ir niht lôsen.
ein wazzer wirt ûz rôsen

und nicht die Minne;
denn wenn ihm etwas Angenehmes passiert,
ist das wohl die bessere Hälfte von verfälschtem Gold.
Ließe er seine Falschheit sein
und hätte er eine makellose Gesinnung,
so fände er die ganze Minne,
und Liebe, die vom Herzen kommt.
Jeder, der Minne sucht und ihre Kraft,
der darf ihr nicht falsch schmeicheln.
Aus Rosen wird Flüssigkeit

[»kunterfeit« meint, leut Lexers Handwörterbuch, »unreines, vermischtes, verfälschtes gold, metall«. Da es offenbar um die Hälfte dieses »kunterfeit« geht, und ich annehme, dass es sich um die bessere Hälfte handelt, füge ich ein »besser« hinzu. »friuntschaft« übersetze ich hier mit Liebe; auch, um den semantischen Wandel zu markieren, den das Substantiv vollzogen hat.]