Freitag, 23. Dezember 2016

6391-6400

geschepfet des juncherren muot;
wan sîn rîlichez herze guot
wart in si gedrücket
und hete an sich gezücket
vil schiere und ouch vil drâte
daz bilde von dem râte,
den im Schŷron dâ leite vür.
mit eigenlicher willekür
tet er niht anders, denne wol.
swaz z’eime haggen werden sol,

der Wille des jungen Herrn geformt;
denn sein kostbares, gutes Herz
wurde in sie gedrückt
und riss augenblicklich  
und auch sehr schnell
das Vorbild der Ratschläge an sich,
die ihm Schyron dort erteilte.
Aus eigenem Willen heraus
handelte er nie anders als gut.
Ganz früh krümmt sich all das,  

Donnerstag, 22. Dezember 2016

6381-6390

daz er die lêre sanfte enphienc,
die von Schŷrônes munde gienc
und in sîn edel herze flôz.
vür sîn gemüete niht enschôz
der unbescheidenheite rigel.
alsam daz wahs ein ingesigel
formieret nâch dem bilde sîn,
swenn ez gedrücket wirt dar în,
seht, alsô wart vil sêre
nâch sînes meisters lêre

dass er die Lehre leicht aufnahm,
die von Schyrons Mund ausging
und in sein edles Herz floss. 
Vor das Tor seines Denkens und Wollens war
kein Schloss der Uneinsichtigkeit angebracht worden.  
Ganz so wie das Wachs jedes Mal
ein Siegel nach seinem Bild formt,
wenn es hinein gedrückt wird,
seht, genau so wurde 
nach der Lehre seines Meisters

Mittwoch, 21. Dezember 2016

6371-6380

dar ûf twanc er sich alle wege.
sîn meister hete in sîne pflege
juncherren vil genomen her,
die niht sô vlîzeclîche als er
nâch sîner lêre tâten.
daz er sô wol gerâten,
vür mangen was besunder,
des nem iuch lützel wunder.
Sîn werder lîp der was geslaht
und alsô linde in sîner maht,

dazu verpflichtete er sich ein jedes Mal.
Sein Lehrmeister hatte zuvor
viele junge Herren in seine Obhut genommen,
die nicht so eifrig wie er 
seiner Lehre folgten.
Dass dies einzig bei ihm allein 
und nicht bei den anderen so gut gelang,
darüber braucht ihr euch nicht wundern.
Sein edler Körper, der war dafür gemacht
und so geschmeidig in seiner Gewalt,

Dienstag, 20. Dezember 2016

6361-6370

daz niendert lebet sîn gelîch.
ez wart nie knabe sô tugentrîch,
noch alsô ellenthaft geborn.
sîn dinc nâch wunsche ist ûz erkorn.‹
Seht, alsô wart gerüemet
und wol mit lobe geblüemet
der hôchgemuote Achilles.
sîn herze vleiz sich alles des,
daz wirde heizen mohte;
swaz hôhen êren tohte,

dass es nirgendwo seinesgleichen gibt. 
Nie wurde ein so tüchtiger 
und kühner Junge geboren. 
Seine Situation ist ideal; sein Schicksal einzigartig.‹
Seht, auf diese Weise wurde der
glückselige Achill gepriesen
und mit Lob schön geschmückt. 
Sein Herz strebte nach allem,
was man als Ehre bezeichnen kann.
Alles, was ihm hohes Ansehen zu versprechen schien,


[»dinc« kam in den vergangenen Versen mehrmals vor und mittlerweile vermute ich, dass es eher mit »Schicksal«, »Geschick« o.ä. zu übersetzen ist. Das Grimm’sche Wörterbuch hat unter Punkt sieben im Artikel »ding« auch »lage, angelegenheiten, umstände«; dazu ließen sich ja vieleicht auch »Stellung« und »Situation« ergänzen.]

Montag, 19. Dezember 2016

6351-6360

sîn lîp begêt und anderswâ.
man suoche hie, dort unde dâ,
man vindet keinen jungelinc,
der sô vermezzenlîchiu dinc
in blüender jugent vollendet habe.
er ist ein zwelfjæriger knabe,
des ellent mâze niht enhât.
schouw al diu welt an sîne getât
und zitter vor der hende sîn;
ez wirt an sînem werke schîn,

und auch anderswo verursacht.
Man suche hier und dort und da,
man findet keinen jungen Mann,
der es geschafft hat, derartige Kühnheiten
in seiner blühenden Jugend zu vollbringen.
Er ist ein zwölfjähriger Knabe,
dessen Mut keine Grenzen kennt.
Möge die ganze Welt auf seine Taten sehen
und zittern vor seinen Händen;
An seinen Leistungen wird sich zeigen,

Freitag, 16. Dezember 2016

6341-6350

wart sîner werdekeite vrô.
die liute sprâchen alle dô
gemeinlîch und besunder:
›wart ie sô vremdez wunder
begangen, als Achilles tuot?
sô vrevel, noch sô wol gemuot
wart nie geborn kein irdisch man,
der getörste blicken an
daz griuwelîche unbilde,
daz in der wüeste wilde

war froh über sein hohes Ansehen.
Dort sagten alle Leute
öffentlich und nichtöffentlich:
›Hat jemals jemand so außergewöhnliche Wundertaten
vollbracht, wie sie Achill vollbringt?
Nie wurde auf der Erde ein Mann zur Welt gebracht, 
so kühn und so voller Wagemut,
der es wagte, den grauenerregenden
Frevel anzuschauen,
den er in der unwirtlichen Wüste

Donnerstag, 15. Dezember 2016

6331-6340

Sus manicvaltiu wunder
begienc der helt besunder
und tet sô vrevelîchiu dinc,
daz in des landes umberinc
mit lobe sîn nam geblüemet fuor
und man des bî den göten swuor,
ez lepte niendert sîn genôz.
sîn prîs durchliuhtic unde grôz
ze Kriechen was und anderswâ;
daz wîte lant Tessaliâ

Allerhand solcher Wundertaten
verübte der Held ohne fremde Hilfe
und er machte so mutige Sachen,
dass in der Umgebung des Landes
sein Name die Runde machte, mit Lobesworten geschmückt,
und man bei den Göttern schwur,
dass nie jemand gelebt hat, der ihm gleicht.
Sein Ansehen war hell erleuchtet und groß,
in Griechenland und darüber hinaus;
das große Land Tessalia

Mittwoch, 14. Dezember 2016

6321-6330

lêrt in vil âventiure.
in wazzer und in fiure
wart er ein getürstic man.
swâ von urliuge ein hûs enbran,
dâ muoste Achilles loufen în
und rouben mit der hende sîn,
swaz er bereites drinne vant;
swenne ez allez was enbrant,
sô lief er durch die heizen gluot
und nam dar ûz vih unde guot.

lehrte ihn viele gefahrvolle Unternehmungen.
Im Wasser und im Feuer
wurde er zu einem kühnen Mann.
Wo auch immer durch Streit und Krieg ein Haus in Flammen stand,
dort hinein musste Achill laufen
und mit eigenen Händen alles rauben,
was er an tragbaren Sachen darin fand.
Dann, wenn alles brannte,
dann lief er durch die heiße Glut
und holte dort Vieh und Besitz heraus. 

Dienstag, 13. Dezember 2016

6311-6320

mit dem schilte sîn enphie:
swenn in sîn meister ane lie
von dem gebirge loufen abe,
sô stuont der ellentrîche knabe
still an des berges fuoze
und hete dise unmuoze,
daz er ûf sînen buggeler
den grôzen stein lie walzen her
und sînen grimmen louf enthielt.
Schŷron, der hôher künste wielt,

mit seinem Schild abwehrte.
Wann auch immer ihn sein Lehrmeister 
loslaufen ließ, hinunter von dem Gebirge,
dann stand der tapfere Junge
still am Fuß des Berges
und vertrieb sich damit die Zeit,
dass er auf sein mit einem Schildbuckel versehenes Schild
den großen Stein zurollen ließ
und seinen wilden Lauf aufhielt.
Schyron, der über großes Wissen verfügte, 


[Wie kann man »buggeler« so ins Neuhochdeutsche übersetzen, dass sich die Leser eine Vorstellung von der Art des Schildes machen können?]

Montag, 12. Dezember 2016

6301-6310

begân sus vrevelîchiu dinc.
zwelfjæric was der jungelinc,
dô sîn kraft diz allez tete.
er was an iegelicher stete
der beste in allen strîten
und wart ze beiden sîten
vür den tiursten dâ gezelt.
der junge hôchgeborne helt
sô creftic und sô vrevel schein,
daz er einen mülstein

solch kühne Dinge unternehmen.
Zwölf Jahre alt war der junge Mann,
als seine Kraft dies alles zustande brachte.
Er war an allen Orten
der Beste in allen Kämpfen
und wurde dort auf beiden Seiten
für den Ausgezeichnetsten gehalten.
Der junge, hochgeborene Held
zeigte sich so kräftig und so verwegen,
dass er einen Mühlstein

Freitag, 9. Dezember 2016

6291-6300

wie diz gesinde væhte
und er sich drunder vlæhte
mit sîn selbes crefte.
Schŷron ze ritterschefte
den juncherren twanc alsô.
mit vrecher hende muoste er dô
vil manigen stechen unde slahen;
er gôz dâ bluotes mangen trahen
und schriet vil tiefer wunden.
man sach in z'allen stunden

wie diese Kriegsleute kämpfen,
und er sich mit seiner Kraft
mitten unter sie menge.
Auf diese Weise zwang
Schyron den jungen Herren zur Kriegerschaft.
Da musste er mit mutiger Hand
gar viele durchbohren und darnieder schlagen;
Da vergoss er das Blut vieler Drachen
und schlug viele tiefe Wunden.
Man sah ihn zu jeder Zeit

[Sollte man »ritterschefte« mit »Ritterschaft« oder »Rittertum« übersetzen?]

Donnerstag, 8. Dezember 2016

6281-6290

die Lafficî dâ hiezen,
zesamene si dâ stiezen
mit kampfe z'aller zîte.
nieman kunde ir strîte
gescheiden noch gestillen;
dâ von Schŷron Achillen
hiez under si dô kêren,
durch daz man in gelêren
strîten möhte deste baz,
swenn er mit ougen sæhe daz,

die dort Laffici hießen.
Sie trafen dort immerzu
im Kampf aufeinander.
Niemand war in der Lage, ihren Krieg
zu schlichten oder zu befrieden.
Deshalb bekam Achill von Schyron
die Anweisung, sich zu ihnen zu gesellen,
damit man ihm das Kämpfen
umso besser lehren würde,
immer dann, wenn er sehe,

Mittwoch, 7. Dezember 2016

6271-6280

dô truogen bî den jâren:
ros unde man si wâren,
und was ir muot gar ellentrîch;
Schŷrône wâren si gelîch,
als ich von in geschriben vant;
Centaurî wâren si genant
und kunden mit geschütze wol.
die selben liute zornes vol
begunden sich urliuges wenen
und vâhten alle zît mit jenen,

zweierlei Gestalt hatten:
Sie waren Pferd und Mann
und sie waren in höchstem Maße tapfer.
Sie ähnelten Schyron.
Centauri wurden sie genannt,
so zumindest habe ich das in Büchern gefunden,
und sie konnten sehr gut schießen.
Eben diese zornerfüllten Leute
hatten sich an den Krieg gewöhnt
und kämpften immerzu mit jenen,

[Ich halte mich nicht an die Interpunktion des mhd. Textes, sondern setze nach 6274 einen Punkt.]

Dienstag, 6. Dezember 2016

6261-6270

daz ûf dem gebirge lac
und der wilden welde pflac
mit bûwe und mit geriute;
die selben starken liute
wâren Lafficî genant,
und was ir muot ûf strît gewant.
Si dûhte urliuge ein wunnespil.
ouch wonte dâ ze lande vil
der liute ûf dem gevilde,
die zweiger hande bilde

das sich auf dem Gebirge niedergelassen hatte
und wie die Wilden lebte
mit Feldbau und mit Rodungen;
diese starken Leute
wurden Laffici genannt
und sie waren erpicht darauf zu kämpfen.
Für sie war der Krieg wie ein freudiges Spiel.
Außerdem lebten im dortigen Gebiet, auf dem Land,
viele von den Leuten,
die damals, in dieser Zeit

Montag, 5. Dezember 2016

6251-6260

ûf unde nider als si flügen.
wie sîne blanken hende bügen
diu sper in manic stückelîn,
des nam Schŷron, der meister sîn,
sêr und genôte goume.
er lêrte in bî dem zoume
daz ors ze rehte kêren.
er kunde in wol gelêren
mit worten und mit handen.
ein volc was in den landen,

auf und ab, als wären es Flügel.
Wie er mit seinen weiß strahlenden Händen
die Speere in viele Stückchen knickte,
das nahm Schyron, sein Lehrmeister,
genau und mit eifriger Aufmerksamkeit wahr.
Er brachte ihm bei, das Pferd
mit dem Zügel auf die rechte Art zu wenden.
Er wusste, wie er gut zu unterweisen war,
mit Hilfe von Worten und der Hände.
In diesem Gebiet gab es ein Volk,   

Freitag, 2. Dezember 2016

6241-6250

diu wurden sîner hende zam.
er vienc ir mangez unde nam;
dar ûf der hôchgeborne saz.
sîn meister lêrt in allez daz,
des man ûf orsen pflegen sol;
wand er kund in geheizen wol,
daz er daz ors vil ûz erkorn
mit grimmen und mit scharpfen sporn
behendeclîche ruorte
und beide schenkel fuorte

die in seinen Händen zahm wurden.
Er fing und nahm sich einige davon;
auf ihnen saß der Hochgeborne.
Sein Lehrmeister brachte ihm alles darüber bei,
wie man sich auf Pferden zu verhalten hat,
denn er wusste ihm genau zu sagen,
wie er das sorgfältig ausgewählte Pferd
auf rücksichtslose Weise mit scharfen Sporen
geschickt voranzutreiben habe;
beide Schenkel bewegte er

Donnerstag, 1. Dezember 2016

6231-6240

allen sînen kumber tragen.
der tiere wart sô vil erslagen
von sîner vrechen hende balt,
daz œde stuont der wîte walt,
und man niht wildes drinne kôs.
Achilles wart nie sigelôs,
swenn er begunde strîten.
Schŷron der lêrte in rîten
und üeben ritterschefte spil.
er vant dâ wilder rosse vil,

musste er ertragen, als wäre es ein Spaß.
Durch seine kühnen, mutigen Hände
wurden so viele von den Tieren erschlagen,
dass der große Wald entvölkert war
und man keine wilden Tiere mehr darin fand.
Achill blieb nie ohne Sieg,
ganz egal, wann er zum Kampf antrat.
Schyron, der brachte ihm bei zu reiten
und ließ ihn die ritterlichen Kampfspiele üben.
Er fand dort viele wilde Pferde,

Mittwoch, 30. November 2016

6221-6230

bestuont er kampfes bî dem mer
und valte si mit hôher wer
dâ nider ûf des sandes griez.
sîn meister bat in unde hiez
bestân die snellen trachen;
ersmieren und erlachen
muost er in allen stürmen,
vor giftebæren würmen
getorste er sich niht rimphen;
er muoste vür ein schimphen

besiegte er am Meer im Kampf
und schlug sie – gegen großen Widerstand –
dort zu Boden, hinab auf den Kiesstrand.
Sein Lehrmeister bat ihn – und gebot ihm –
die schnellen Drachen zu attackieren;
in allen Kämpfen musste er
anfangen zu lächeln und zu lachen;
auch angesichts giftiger Drachen
wagte er es nicht, sich zu ducken;
all seine mühseligen Qualen

[Meint »mit hôher wer« den Widerstand der Krokodile?]

Dienstag, 29. November 2016

6211-6220

gerüemet an der selben stete,
swenn er getürsteclichen tete.
Dâ mite geschuof der meister hôch,
daz er in dem walde vlôch
kein übel dinc, des sint gewis.
ein tier, daz heizet tygris
und ist gar bitterlichen arc,
daz kunde der juncherre starc
wol veigen unde villen.
die grimmen cocatrillen

noch am gleichen Ort gepriesen,
wann immer er sich als kühn erwiesen hatte.
Auf diese Weise – da könnt ihr sicher sein –
sorgte der große Meister dafür, dass er in dem Wald
vor nichts davonlief, was gefährlich war.
Ein Tier, das Tigris heißt,
und sich durch überaus garstige Bösartigkeit auszeichnet,
das konnte der starke junge Herr
gestrost töten und enthäuten.
Die schrecklichen Kokrodile  

[Ich habe die Krokodile etwas verfremdet…]

Montag, 28. November 2016

6201-6210

muost er diu küenen eberswîn;
diu kleinen cranken tierlîn,
diu liez er ungetœtet.
sô sîniu schoz gerœtet
von bluote wurden alle,
sô lepte in fröuden schalle
Schŷron, sîn meister, alzehant.
sîn lop daz wart ûf in gewant
und sîn durchliuhticlicher prîs;
von im wart er in alle wîs

die mutigen Eberschweine in Empfang nehmen;
die jungen, schwachen Tiere,
die ließ er am Leben.
Wenn alle seine Wurfspieße
rot vom Blut geworden waren,
dann geriet sein Meister, Schyron,
sogleich in euphorische Stimmung.
Er bedachte ihn mit Lob
und mit hell strahlender Anerkennung;
von ihm wurde er auf jede erdenkliche Weise

Freitag, 25. November 2016

6191-6200

möht über sîn geklummen.
Schŷron lêrt in die summen
von griuwelichen dingen:
er hiez in dicke springen
über manic tobel tief;
lêhparten spranc er unde lief
drât unde snelleclîche vor.
ûf aller vrechen tiere spor
hiez in sîn meister gâhen.
mit sînem spieze enphâhen

es geschafft hätten, hinüberzuklettern.
Schyron brachte ihm die ganze Masse
an grauenerregenden Dingen bei:
häufig ließ er ihn über
viele tiefe Schluchten springen;
geschickt und schnell übersprang und
überholte er Leoparden.
Die Fährte all der gefährlichen Tiere
ließ ihn sein Lehrmeister eilig folgen. 
Mit seinem Spieß musste er

Donnerstag, 24. November 2016

6181-6190

daz manic stein dar inne lief,
sô muoste er an ir strûme tief
stên mit blôzen beinen,
und von den herten steinen
vil grimmer stœze lîden.
kein dinc getorste er mîden,
daz engestlîche was getân:
er muoste loufen unde gân
ûf manigen hôhen rûhen berc,
dâ weder katze, noch getwerc

dass viele Steine darin trieben,
dann musste er tief in ihrer Strömung
mit nackten Beinen stehen
und von den harten Steinen
viele schlimme Schläge einstecken.
Er durfte es nicht wagen, einer Sache auszuweichen,
die gefärhlich war.
Er musste auf so manchen hohen, felsigen Berg
laufen und steigen,
wo weder Katzen noch Zwerge

Mittwoch, 23. November 2016

6171-6180

wart dem juncherren offen;
er hæte ein hâr wol troffen
mit sînes bogen pfîle.
vil herter kurzewîle
lêrt in Schŷron ein wunder.
daz er genas dar under,
daz was ein grôz unbilde.
wan sô diu wazzer wilde
sich in dem walde erguzzen
und alsô tobende fluzzen,

dazu hatte der junge Herr Gelegenheit.
Er hätte mit den Pfeilen seines Bogens
gewiss ein Haar getroffen.
Schyron lehrte ihn eine schier unglaubliche
Menge strapaziöser Vergnügungen.
Dass er dabei am Leben blieb,
das war ein großes Wunder.
Denn wenn im Wald
die wilden Fluten strömten
und so stürmisch flossen,

Dienstag, 22. November 2016

6161-6170

und in mit leide tet gedon.
sîn zühte meister Schŷron
lêrt in behendekeite vil:
schâchzabel, schirmen, seitenspil
und singen mit dem munde,
daz muoste er gar von grunde
biz ûf ein ende kunnen.
von allen hovewunnen
lêrte er in den überfluz.
ze râme schiezen mangen schuz

und ihnen auf schmerzliche Weise Gewalt antat.
Sein Erzieher und Lehrmeister Schyron
brachte ihm zahlreiche Fertigkeiten bei:
Schachspielen, Schwertkampf, das Spielen auf Saiteninstrumenten
und das Singen mit dem Mund,
das musste er von den Grundlagen
bis hin zu den Feinheiten perfekt können.
Von all die Vergnügungen des Hofes
lehrte er ihn mehr als genug.
Oft auf eine Ziel zu schießen, das

Montag, 21. November 2016

6151-6160

steic er ûf daz gebirge hôch.
dâ brach er von in unde zôch
diu wilden cleinen grîfelîn.
wan sô Schŷron, der meister sîn,
wart von in geblicket an,
sô liezen si diu kint her dan
ab den vil hôhen flinsen
Achille balde dinsen
und getorsten im niht wern,
daz er si kunde alsus verhern

stieg er, hinauf auf das hohe Gebirge.
Da nahm und entriss er ihnen
die wilden, kleinen Greiflein.
Wenn dann Schyron, sein Lehrmeister,
von ihnen angesehen wurde,
dann ließen sie die Kinder hinab
von dem hohen Felsen
und sogleich durch Achill hinwegtragen
und sie wagten es nicht, sich gegen ihn zu wehren,
so dass er in der Lage war, sie auf diese Weise zu berauben

Freitag, 18. November 2016

6141-6150

güetlîche kuste sîniu lider.
kam aber ungesêret wider
vür in der süeze Achilles,
sô wând er âne zwîvel des,
er kæme ân allen strît her dan,
und sach in übelichen an
durch sîne rûhen brâwen.
er muoste ouch ûz den clâwen
den grîfen zücken alle ir fruht.
in ir geniste und in ir zuht

wohlwollend seine Glieder küsste.
Wenn aber der süße Achill
unversehrt zu ihm zurückkam,
dann hatte er keinen Zweifel daran,
dass er ohne gekämpft zu haben herbei käme
und er sah ihn durch seine
struppigen Brauen böse an.
Er musste auch den Greifen
aus ihren Klauen die ganze Nahrung entreißen.
In ihr Nest und zu ihrer Brut

Donnerstag, 17. November 2016

6131-6140

dar inne ir kint die beren zugen.
daz si die muoter niht ensugen,
daz kunde er in versperren,
wan er diu welfer zerren
in balde muoste von der brust.
enphienc er danne die verlust,
daz im zerkratzet wart diu hût,
sô wart er liep und alsô trût
dem meister sîn Schŷrône,
daz er im dô ze lône

in der die Bären ihre Kinder großziehen.
Er wusste sie daran zu hintern,
von der Mutter gesäugt zu werden,
indem er die Jungen schnell
von der Brust wegzerrte.
Wenn er dann den Schaden davontrug,
dass ihm die Haut zerkratzt war,
dann bereitete er seinem Meister,
Schyron, eine Freude und war ihm so lieb,
dass er, um ihn zu belohnen,

Mittwoch, 16. November 2016

6121-6130

von der senewen snüere
gesnurrete und gefüere.
Sîn louf, der muoste dringen
vür der strâlen swingen
und für der gæhen bolze fluc.
Schŷron der lêrte in mangen tuc,
der griuwelîche was gestalt,
und mahte in alsô rehte balt
mit sîner künste fuoge,
daz er slouf in die luoge,

von den Fäden der Sehne
schnellte und sauste.
Mit seinem Sprint drängte er sich 
vor die fliegenden Pfeile
und vor den Flug der flinken Bolzen.
Schyron brachte ihm viele Kunstgriffe bei,
die grauenvoll waren,
und er brachte ihn zu einer solchen Kühnheit
mit seinem tadellosen Können,
dass er in die Höhle schlüpfte,

[Was genau sind denn die »snüere« der Sehne? Meint »tuc« wirklich »Kunstgriff«?]

Dienstag, 15. November 2016

6111-6120

ân alle vorhte fluges lief,
sô daz er in dem wâge tief
den fuoz doch nie genazte.
sô Schŷron ûf gesazte
durch kurzewîle ein verre zil,
und er in sîner wunne spil
schôz dar zuo mit sînem bogen,
sô muoste Achilles ê geflogen
und geloufen sîn dar an,
ê daz der snelle phîl her dan

und ohne jede Furcht –
doch so, dass er in dem tiefen See
den Fuß sich nicht nass machte.
Wenn Schyron des Zeitvertreibs wegen
ein entferntes Ziel aufstellte
und er mit Lust und zum Vergnügen
mit seinem Bogen dorthin schoss,
dann war es so, dass Achill
längst schon dort hingeflogen und hingelaufen war,
noch bevor der schnelle Pfeil

Montag, 14. November 2016

6101-6110

swaz er von künsten wiste;
er schuof mit sînem liste,
daz er wart unmâzen snel.
swâ man von îse ein lindez vel
ûf einem tiefen sêwe kôs,
und er sô lützel dâ gefrôs,
daz man durch sîn vil dünnez dach
ein hâr bereiteclîche sach;
dô muoste Achilles sîn sô balt,
daz er dar über mit gewalt

was Schyron über Geschick und Fertigkeiten wusste;
er sorgte mit seiner klugen Anleitung dafür,
dass er außergewöhnlich schnell wurde.
Wo auch immer man ein zartes Fell aus Eis
auf einem tiefen See entdeckte,
und er so minimal nur gefroren war,
dass man durch sein hauchdünnes Dach
ganz leicht ein Haar hätte sehen können,
dort musste Achill schnellstmöglich sein,
damit er darüber laufe, schnell, mit vollem Einsatz

Donnerstag, 10. November 2016

6091-6100

den ûz erwelten jungelinc,
dur daz er angestbæriu dinc
deste senfteclicher lite,
swenn er mit vrecher hende strite
nâch wirde in sînen jâren.
er lêrte in sô gebâren,
daz er gemaches wênic pflac.
in snêwe saz er unde lac
den âbent und den morgen.
vor im wart niht verborgen,

den auserwählten jungen Mann,
damit er beängstigende Situationen
umso leichter ertrage;
immer dann, wenn er mit kühner Hand
in späteren Jahren einmal um Ansehen kämpfen werde.
Er brachte ihm bei, sich so zu verhalten,
dass er wenig Wert auf Bequemlichkeit legte.
Im Schnee saß und lag er,
morgens und abends.
All das wurde ihm nicht vorenthalten,

Mittwoch, 9. November 2016

6081-6090

wart dem juncherren tiure.
êsieren bî dem fiure
was im betalle vremde.
man liez in cleiner hemde
niht tragen unde dinsen;
er muoste ûf herten flinsen
bî sînem meister nahtes ligen;
wand im dâ bette wart verzigen.
Seht, alsô hertecliche erzôch
Schŷron, der zühte meister hôch,

musste der junge Herr verzichten.
Es sich am Feuer gutgehen lassen,
so etwas kannte er gar nicht.
Feine Hemden ließ man ihn
nicht anziehen und tragen;
er musste nachts auf hartem Stein
bei seinem Meister liegen,
weil ihm dort kein Bett gegeben wurde.
Schaut, auf derart harte Weise erzog
Schyron, der große Meister der Erziehung,   

Dienstag, 8. November 2016

6071-6080

gewermet dâ mit muose:
des wildes crûtes gruose,
die Schŷron mit sîner hant
ûz den wurzen dicke want,
diu wart im în getroufet.
in lindiu tuoch gesloufet
wart ez ze keinen stunden,
Achilles wart gewunden
mit rûher tiere belzen.
phankuochen unde smelzen

Pfanne mit Mus erhitzt:
Der Pflanzensaft des wilden Krauts,
den Schyron mit seinen Händen
oft aus den Wurzeln presste,
der wurde ihm eingeträufelt.
In weiche Tücher wurde
es zu keiner Zeit gehüllt;
Achill wurde eingewickelt in
die groben Pelze wilder Tiere.
Auf Pfannkuchen und Schmalzgerichte 

Montag, 7. November 2016

6061-6070

erkennen vremde spîse.
Schŷron, der künste wîse,
der kunde ez wilder trahte wern.
swenn er die löuwen und die bern
zerbrach mit sîner hende starc,
seht, alsô gap er im daz marc,
daz in dem beine steckete:
daz brûchte ez unde leckete
vür alle spîse danne.
nû wart vil selten phanne

fremde Nahrung kennenlernen.
Schyron, gelehrt im praktischen Wissen,
konnte es vor unbekömmlichen Speisen schützen.
Wann immer er die Löwen und Bären
mit seinen starken Händen zerriss,
schaut, das Mark, das in den
Beinen steckte, das gab er ihm dann:
das leckte es und daran tat es sich dann
gütlich – anstelle aller anderen Nahrung.
Indes wurde keine

[Wie übersetzt man die Litotes »vil selten«?]

Freitag, 4. November 2016

6051-6060

und mit der blanken milche sîn.
Schŷron der liez daz knebelîn
diu grimmen tier niht vliehen.
er wolte ez dar ûf ziehen,
daz ez getürstic wære,
und ez niht diuhte swære
strîtlicher sorgen bürde.
ob menschlich ezzen würde
geleit dem kinde in sînen munt?
nein, ez muoste bî der stunt

und mit ihrer weißen Milch.
Schyron ließ nicht zu, dass der
kleine Knabe vor den wilden Tieren floh. 
Er wollte ihn dazu erziehen,
durstig zu sein
und dass er die beschwerliche Sorge, kämpfen zu müssen,
nicht als Last empfinde.
Ob dem Kind auch meschliches
Essen in seinen Mund gelegt wurde?
Nein, es musste zu dieser Zeit

Donnerstag, 3. November 2016

6041-6050

ze stücken und ze trunzen;
dâ von twanc er die lunzen,
daz si diu jungen löuwelîn
liez âne sûgen dicke sîn,
und ir brüste Achille bôt;
si müeste sîn gelegen tôt,
ob si sich hæte des gewert.
sus wart daz edele kint ernert
und des küniges künne
mit eines löuwen spünne

in Stücke und in Splitter;
damit zwang er die Löwin,
dass sie die kleinen, jungen Löwen
immer wieder ungestillt ließ
und ihre Brüste Achilles anbot.
Sie hätte sterben müssen,
hätte sie sich dagegen gewehrt.
Auf diese Weise wurde das edle Kind
aus der königlichen Familie ernährt,
an der Mutterbrust einer Löwin

Mittwoch, 2. November 2016

6031-6040

begunde sougen disen knaben.
si muoste in mit ir milche laben
alle zît und alle vrist.
Schŷron der kunde wol den list
und hete an im die meisterschaft,
daz er si twanc mit sîner kraft,
daz si daz kint lie sûgen.
erzamen und erblûgen
muost allez wilt, daz in gesach.
vil schefte er ûf den tieren stach

übernahme es, diesen Knaben zu stillen.
Mit ihrer Milch musste sie ihn
zu jeder Zeit und Gelegenheit erfrischen und stärken.
Schyron, der wusste, wie man das macht,
und er hatte das meisterliche Geschick,
sie mit seiner Kraft dazu zu zwingen,
dass sie das Kind an der Brust saugen ließen.
Zahm und schüchtern
mussten alle wilden Tiere werden, die ihn sahen.
Viele Spieße verstach er auf den Tieren

Dienstag, 1. November 2016

6021-6030

des er geflîzen kunde sich.
der zühte meister lobelich
lêrt in behendeclîchiu dinc.
dar ûf stuont aller sîn gerinc,
daz er in herteclîche züge.
ob dirre knabe ein ammen süge?
nein, er souc ein wildez tier.
daz kint liutesælic unde zier
wart niht an wîbes brust geleit:
ein lunze, diu den löuwen treit,

die er – pflichteifrig – zu leisten im Stande war.
Der lobenswerte Meister in Sachen Bildung und Anstand
brachte ihm allerlei Arten von Geschicklichkeit bei.
All sein Streben war darauf gerichtet,
dass er ihn auf harte Weise erzöge.
Ob dieser Knabe von einer Amme gestillt wurde?
Nein, ihn stillte ein wildes Tier.
Das leutselige, schöne Kind
wurde nicht an die Brust einer Frau gelegt:
Eine Löwin, die Löwen trug,

Montag, 31. Oktober 2016

6011-6020

Thêtis wart von der rede vrô.
diu minneclîche seite dô
gnâd unde danc Schŷrône;
si neic im dô ze lône
und îlte dannen wider hein.
ir sun, der gar liutsælic schein,
lie si belîben in dem hol;
dâ von wart sîn gepflegen wol
mit hôher meisterschefte dâ.
Schŷron tet im daz beste sâ,

Thetis war über diese Worte froh.
Sie, die Liebenswerte, zeigte sich Schyron
daraufhin verbunden und bedankte sich.
Anschließend lohnte sie es ihm mit einer Verbeugung
und beeilte sich dann, wieder nach Hause zu kommen.
Ihren Sohn, der einen sehr leutselig Eindruck machte,
ließ sie in der Höhle zurück.
Also kümmerte man sich dort um ihn
mit großer Kenner- und Meisterschaft. 
Schyron ließ ihm sogleich die beste Erziehung angedeihen,

Freitag, 28. Oktober 2016

6001-6010

geblüemet wol nâch êren.
Achillen sol ich lêren,
daz ir sîn iemer dankent mir;
wan ich vröuwe mich, daz ir
geruochet hânt ze komene her.
der werde got, her Jûpiter,
der iuwer vater ist für wâr,
der sî geprîset offenbâr
des heiles, daz diu lêre mîn
sol ziehen daz geslehte sîn.‹

seinem Rang entsprechend geschmückt.
Achill werde ich so erziehen,
dass ihr mir dafür ewig dankbar seid,
denn ich ich freue mich darüber, dass ihr
entschieden habt, hierher zu kommen.
Der verehrte Gott, Herr Jupiter,
der wahrlich euer Vater ist,
der sei für alle sicht- und hörbar gelobt,
wegen des Glücks, dass mit meiner Ausbildung
jemanden seines Geschlechts erzogen wird.‹

Donnerstag, 27. Oktober 2016

5991-6000

bevalch si dar in sîne gewalt.
mit süezen worten manicvalt
bat in diu frouwe sêre,
daz er mit sîner lêre
des knaben underwünde sich.
›entriuwen‹, sprach er, ›daz tuon ich,
vil hôchgeborniu vrouwe guot!
sît des geruochet iuwer muot,
daz ich zieh iuwer edele fruht,
sô wirt daz kint mit hôher zuht

übergab sie dort seiner Aufsicht und Führung.
Mit vielerlei süßen Worten
bat ihn die Dame inständig,
dass er sich mit seiner Erziehung
des Knaben annehme.
›Seid gewiss‹, sagte er, ›vornehme, überaus hochgeborene Dame,
dass ich das tun werde!
Da ihr entschieden habt,
dass ich eure edle Leibesfrucht unterweisen soll,
so wird das Kind mit ausgezeichneter Erziehung

[Ich übersetze »gewalt« mit einer Doppelformel, um das Bedeutungsspektrum abzubilden; ich werde aber das Gefühl nicht los, dass es eine einfachere Lösung gibt.]

Mittwoch, 26. Oktober 2016

5981-5990

ir süne enphulhen sîner hant.
si wurden in sîn hol gesant
dick und ze mangen zîten,
dur daz er si dâ strîten
und ander fuoge lêrte.
nû Thêtis z’im gekêrte
und für in was gegangen,
dô wart diu vrouwe enphangen
rîlîche von dem munde sîn.
ir hôchgebornez kindelîn

ihre Söhne in seine Obhut.
Sie wurden oft und zu verschiedenen Zeiten
in seine Höhle geschickt,
damit er ihnen dort das Kämpfen
und andere anständige Dinge beibringe.
Als nun Thetis zu ihm gereist
und bei ihm angelangt war,
da wurde die Dame von ihm
auf herrliche Weise mit Worten empfangen.
Ihr hochgeborenes Kindlein

Dienstag, 25. Oktober 2016

5971-5980

daz er wist übel unde guot.
bescheiden was sîn vrecher muot
ze hovelichen dingen.
rotten, harpfen, singen
und aller hande zabelspil,
daz kunde er unde treip sîn vil.
An im lac grôz behendekeit.
er was ûf alliu dinc bereit,
des man ze kurzewîle gert;
dâ von die rîchen künige wert

dass er Böses und Gutes zu unterscheiden wusste.
Bewandert war seine kühne Wesensart
in höfischen Dingen.
Mit der Rotte, der Harfe, dem Gesang
und mit allerlei Brettspielen,
damit wusste er umzugehen und er tat das oft.
Er verfügte über große Geschicklichkeit.
Für all die Dinge, mit denen man
sich die Zeit vertreibt, war er präpariert.
Deshalb gaben die mächtigen, angesehenen Könige

Montag, 24. Oktober 2016

5961-5970

als ich dâ vorne hân geseit,
doch was ein varwe dran geleit
noch swerzer, denne ein brûner zobel.
gebirge steic er unde tobel
reht als ein wilder steinboc.
ez wære flins, ez wære stoc,
dar über clam er hôhe enbor;
an im lac hinden unde vor
vil gar ein wunderlich geschaft,
und was er doch sô tugenthaft,

wie ich zuvor schon gesagt habe,
allerdings war er mit einer Farbe versehen,
die noch schwärzer war als ein brauner Zobel.
Gebirge erstieg und er durchwanderte Schluchten
ganz wie ein wilder Steinbock.
Sei es Stein, sei es Stock,
darüber stieg er hoch empor;
Er besaß hinten und vorne
eine ganz und gar sonderbare Gestalt,
war aber doch so vortrefflich,

Freitag, 21. Oktober 2016

5951-5960

was diu liderîne wât,
diu mit riemen sunder nât
zesamen stuont gebestet;
niht anders was gegestet
oberthalben dirre man,
der vil schône sich versan,
swie wunderlich sîn forme schine.
sîn underteil, ûf dem er hine
gienc über vels und über mos,
daz was gestellet als ein ros,

war die lederne Kleidung,
die mit Riemen, ohne Naht,
zusammengeschnürt war.
Genau so war dieser Mann
obenherum gekleidet;
Klug und ganz vernünftig war er,
auch wenn sein Körper eigenartig aussah.
Der untere Teil seines Körpers, mit dem er
sich über Stock und Stein fortbewegte,
das war wie bei einem Pferd geformt,

Donnerstag, 20. Oktober 2016

5941-5950

ûz schinen wol geziunet.
ein wurmes hût gebriunet
dar über was von im gedenet.
Schŷron, der hete sich gewenet,
daz er von leder truoc ein cleit,
daz er schant wîlent unde sneit
ab einem wilden vische rûch.
ez sluoc im nider vür den bûch
und schein rôt als ein lösche,
weich unde niht ze rösche

aus schmalen Streifen schön geflochten.
Eine glänzende Schlangenhaut
war von ihm darüber gespannt worden.
Schyron, der hatte sich daran gewöhnt,
dass er Kleidung aus Leder trug,
für das er vor Zeiten einem groben, wilden Fisch
die Haut abschnitt und abzog.
Bis über den Bauch reichte es hinab
und leuchtete rot wie ein Lösch,
weich und nicht zu spröde,

[»lösch« meint wohl rotes Wildleder; ich lasse es hier als Fachbegriff stehen, weil der Kontext das Verständnis wohl einigermaßen sicherstellt.]

Mittwoch, 19. Oktober 2016

5931-5940

ûz sîme kopfe brunnen.
er mohte dur die sunnen
geblicket hân mit der gesiht.
diu wârheit sprichet unde giht,
er hete liehte varwe,
diu was gemischet garwe
mit wîze und ouch mit rôte.
sîn houbet was genôte
z’eim alten manne schœne gnuoc.
ein hüetelîn er ûfe truoc

aus seinem Kopf flackerten.
Er hätte mit diesen Augen
hinein in die Sonne schauen können.
Es ist die Wahrheit, die sagt und versichert,
dass er helle Haut hatte,
die vollständig mit Weiß
und auch mit Rot gemischt war.
Sein Kopf war für einen
alten Mann durchaus ziemlich schön.
Auf dem Kopf trug er ein Hütchen,

Dienstag, 18. Oktober 2016

5921-5930

als ich von im gelesen hân.
swaz menschlich an im was getân,
daz hete wunneclîchiu lider.
hâr unde bart im beidiu nider
ûf den gürtel sluogen.
diu gâben unde truogen
altlichen schîn vil grâwen.
er hete lange brâwen,
dâ stuonden ougen under,
diu vaster denne ein zunder

das habe ich so über ihn gelesen.
Alles, was an ihm menschlich geformt war,
das hatte eine faszinierende Schwere.
Sowohl seine Haare wie sein Bart
fielen hinab bis auf den Gürtel.
Sie besaßen und zeigten
den Glanz des Alters mit beträchtlichem Grau.
Er hatte lange Brauen,
unter denen Augen lagen,
die stärker als ein Zunder

[»lite« kann laut BMZ »absenkung des leibes, hüfte« bedeuten. Der Kontext macht diese Bedeutung plausibel, denke ich, auch wenn ich recht allgemein mit »Schwere« übersetze.]

Montag, 17. Oktober 2016

5911-5920

sîn hœhe reichet ûf enbor.
daz tobende mer, daz stât dervor
und stœzet dran ein vinster holz.
Thêtis, diu küniginne stolz,
diu kam durch daz gevilde
zuo dirre clûsen wilde
kûm unde gar lancseime.
si vant den wirt dâ heime,
der wunderlichen was gestalt.
ein man schein er unmâzen alt,

reichte seine Höhe empor.
Das tosende Meer, das liegt davor,
und daran grenzt ein dunkler Wald.
Thetis, die stolze Königin,
die kam durch dieses Gelände
zu der abgelegenen Felsenschlucht
nur mühevoll und langsam.
Sie traf dort den Hausherrn an,
dessen Körper merkwürdig geformt war.
Er schien ein Mann unglaublichen Alters zu sein,

Freitag, 14. Oktober 2016

5901-5910

und alliu sîniu jâr vertete.
zuo dirre wüesten waltstete
kam Thêtis gerüeret
und wart mit ir gefüeret
heimlichen unde stille
ir lieber sun Achille.
Der berc, der hiez Pelêon,
dar under mîn her Schŷron
wont in des steines krüfte.
durch wolken und durch lüfte

und all seine Jahre verbrachte.
Zu diesem einsamen Waldort
kam Thetis eilige,
und heimlich und leise
wurde ihr lieber Sohn Achilles
mit ihr hingebracht.
Der Berg, der hieß Peleon,
unter dem mein Herr Schyron
in der Höhle des Felsens lebte.
Durch Wolken und durch die Lüfte

Donnerstag, 13. Oktober 2016

5891-5900

beid ungesoten unde rô.
sîn hol stuont irreclichen dô;
wand ein rûhez pfedelîn
ûz einem walde gie dar în
durch stûden und durch brâmen.
die liute unsanfte kâmen
dar heim zuo sînem hûse.
ez was ein wildiu clûse
und ein vil tiefiu schrunde,
dar inne er sîne stunde

ungekocht und roh.
Seine Höhle befand sich abseits;
führte doch nur ein enger, rauer Pfad
aus einem Wald dort hinein,
durch Büsche und durch Dornensträucher.
Die Leute kamen nur beschwerlich
heim in sein Zuhause.
Es war eine wilde Klause
und eine sehr tiefe Felsspalte,
worin er seine Stunden

Mittwoch, 12. Oktober 2016

5881-5890

und der liehtebernde tac.
des nahtes er dar inne lac
und eteswenne bî dem tage.
mit einem griuwelichen hage
stuont daz loch verdürnet
und hôhe alumbe türnet
mit velsen und mit flinsen.
swaz er dar în gedinsen
mohte wilder tiere,
diu gaz er alliu schiere

und der lichtbringende Tag.
Darin lag er während der Nacht
und manchmal während des Tages.
Mit einem grässlichen Dornengebüsch
war das Loch versperrt
und an allen Seiten standen hohe Türme
aus Fels und Steinen.
Egal, was er dort an wilden Tieren
auch hinein schleppte,
die hatte er alle schnell gegessen,

Dienstag, 11. Oktober 2016

5871-5880

der ie zer welte wart geborn.
sîn hût was herte alsam ein horn
und aller sîner lide vel.
kein vogel was sô snel,
der balder flüge, denne er lief.
er hete ein hol wît unde tief
in sîner stæteclichen wer,
daz stuont vil nâhe bî dem mer
und gienc in einen rûhen stein,
dâ selden în diu sunne schein

der je das Licht der Welt erblickt hat.
Seine Haut war so hart wie ein Horn
und alle seine Gliedmaßen waren von Fell bedeckt.
Kein Vogel war so schnell,
dass er rascher flöge als er lief.
Er hatte eine große und tiefe Höhle,
deren Besitz er beharrlich verteidigte;
die befand sich ganz nah am Meer
und führte in einen unbehauenen Felsen,
den kaum je die Sonne erreichte

Montag, 10. Oktober 2016

5861-5870

erbibenten von sîner kraft.
er twanc mit sîner meisterschaft
die tracken und die würme.
sîn angestlichen stürme
entsaz mit vorhten allez wilt.
er kunde swert beid unde schilt
gebrûchen baz, denn alle man.
swaz man ze strîte liste kan,
dar zuo was er vil nütze.
er was der beste schütze,

erzitterten wegen seiner Stärke.
Er bezwang mit seiner virtuosen Kunstfertigkeit
die Drachen und die Bestien.
Vor seinen gefährlichen Angriffen
flohen angsterfüllt alle wilden Tiere.
Er wusste mit beiderlei Schwertern und Schilden
besser umzugehen als alle Männer.
Welches Vorgehen auch immer man im Krieg gebrauchen kann,
auch in dieser Hinsicht war er sehr von Nutzen.
Er war der beste Schütze,

[Mir ist unklar, was mit »beid« (5866) gemeint ist.]

Freitag, 7. Oktober 2016

5851-5860

und hete ein vremdez bilde;
wan sîn figûre wilde
truoc an ir zweiger hande schîn.
daz oberteil der forme sîn
was gestellet als ein man
und stiez ein underteil dar an,
daz eime rosse was gelîch.
der selbe meister künsterîch
was ob allen tieren starc
die grîfen und die löuwen arc

und er bot einen fremdartigen Anblick,
denn seine verwilderte Gestalt
hatte zweierlei Aussehen.
Der obere Teil seines Körpers
war wie ein Mann geformt
und daran schloss sich ein unterer Teil an,
der wie bei einem Pferd aussah.
Dieser virtuose Meister
war stärker als alle Tiere;
die Greifen und die üblen Löwen

Donnerstag, 6. Oktober 2016

5841-5850

verdienet hete mangen tac;
wan er mit sîner lêre pflac
ir kinde bî der zîte.
er wente si ze strîte
und ûf tugentlîche site,
dâ sich die jungen blüement mite.
Sîn kraft, diu was sô rehte grôz,
daz niender lebte sîn genôz
in al der welte creizen.
Schŷron was er geheizen

hochstehender Personen oftmals erworben,
weil er mit seiner Erziehung sich
ihrer Kinder beizeiten annahm.
Er machte sie mit dem Kampf vertraut
und mit tadellosem Anstand,
mit dem sich die jungen Leute schmücken.
Seine Stärke war auch so groß,
dass nirgends, an keinem Ort der Welt,
jemand lebte, der mit ihm hätte konkurrieren können.
Schyron wurde er genannt

Mittwoch, 5. Oktober 2016

5831-5840

bevalch si dem in sîne pflege,
dur daz er in lêrt alle wege,
daz er den lîp generte
und sich mit strîte erwerte,
ob er ze Troye kæme.
diu clâre und diu genæme
wolte ir sun alsus bewarn.
si kam zuo disem man gevarn,
der künde hovelîche kunst,
dâ mite er hôher liute gunst

gab sie ihm und seiner Aufsicht,
damit er ihm alles Notwendige beibringe,
um sein Leben zu schützen
und sich kämpfend zu behaupten,
falls er nach Troja käme.
Die Schöne, Sympathische
wollte ihren Sohn auf diese Weise schützen.
Sie kam an bei diesem Mann,
der sich mit dem Können, das an Höfen gefordert war, auskannte.
Mit diesem Können hatte er die Zuneigung

Dienstag, 4. Oktober 2016

5821-5830

vor schedelicher vreise;
dâ von sô wart ein reise
von der frouwen ûf geleit.
si wart ûf eine vart bereit
und îlte mit dem kinde dan;
daz fuorte si dâ z’eime man,
der künde liste gnuoge
und manger hande fuoge,
die man sol ze strîte haben.
Achillen, den erwelten knaben,

vor verderblicher Gefahr;
Deshalb wurde eine Reise
von der Dame geplant.
Sie bereitete sich für den Weg vor
und eilte mit dem Kind davon.
Die Reise führte sie nun zu einem Mann,
der über große Klugheit verfügte
und über vielerlei Kunstfertigkeit,
die man zum Kampf nötig hat.
Achilles, den auserwählten jungen Mann,

Samstag, 1. Oktober 2016

5811-5820

daz hæte gerne si bewart.
diu frouwe rîch von hôher art
begunde in allen enden
dar ûf ir sinne wenden,
daz er ze Troye kœme niht
und er die veigen ungeschiht
künd eteswie gefliehen.
si wolte in dar ûf ziehen,
daz er mit strîtes listen
sich möhte dâ gefristen

dafür hätte sie gerne gesorgt.
Die mächtige Dame aus vornehmen Geschlecht
fing an, ihre Gedanken beständig  
damit zu beschäftigen,
dass er nicht nach Troja käme
und dass er dem todbringenden Unglück
irgendwie entfliehen könne.
Sie wollte ihn dazu erziehen,
dass er mit kämpferischer Klugheit
sich dort schützen könne

Mittwoch, 28. September 2016

5801-5810

von Prôtheô, dem wîssagen,
daz er ze Troye würde erslagen
und daz er dâ gelæge tôt.
diu selbe clegelîchiu nôt
der muoter sîn vil nâhe lac.
ze herzen gienc ir unde wac
diz leit vür alle swære,
daz man ir seite mære,
daz er vor Troye stürbe.
daz er dô niht verdürbe,

von Protheus, dem Weissager,
dass er zu Troja niedergeschlagen werde
und dort sterben würde.
Eben dieses zu beklagende Elend
ging seiner Mutter sehr nahe.
Mehr als aller Kummer traf und ging ihr
dieses Leid zu Herzen,
dass man ihr nämlich Neuigkeiten brächte,
dass er vor Troja gestorben sei.
Dass er dort nicht zu Tode komme,

5791-5800

wart ûf sînen lîp geleit.
er hete die liutsælikeit,
swer ez mit ougen ane sach,
daz der in sînem herzen jach,
im breste weder dis, noch des.
geheizen wart Achilles
der junge hôchgeborne knabe.
als ich dâ vor gesprochen habe
und êrst mit rede ergründet,
sô was von im gekündet

zur Genüge ausgestattet.
Er verfügte über die Eigenschaft, den Menschen angenehm zu sein.
Wer auch immer das mit eigenen Augen sah,
der sagte sich in seinem Herzen,
dass es ihm an nichts fehlte.
Genannt wurde das junge,
hochgeborene Kind Achilles.
Ich habe ja schon gesagt
und zuvor mit einigen Worten erforscht,
dass über ihn prophezeit wurde,

Montag, 26. September 2016

5781-5790

nâch tugenthafter wîbe site.
ir wonte daz gelücke mite,
daz si ze rehter zît genas.
und dô daz kint geboren was,
dô schein sîn lîp sô minnevar,
daz man nie knebelîn gebar,
daz alsô wunnebære
und sô durchliuhtic wære,
sô diu vil küniclîche fruht.
gelücke und êre mit genuht

so wie es redliche Frauen tun.
Sie hatte das Glück,
dass die Geburt zur rechten Zeit geschah.
Und als das Kind geboren worden war,
da strahlte sein Körper derart lieblich,
dass man nie einen Jungen geboren hat,
der so bezaubernd,
so leuchtend und strahlend war,
wie die höchst königliche Leibesfrucht.
Er wurde mit Glück und Ansehen

Freitag, 23. September 2016

5771-5780

umb den vil schœnen apfel schiet,
ich meine, dô der hovediet
seite ein wîssage überlût,
daz diu küniclîche brût
ein kindelîn begunde tragen,
daz sît vor Troye würde erslagen.
Daz selbe kint von hôher art,
mit dem diu küniginne wart
begriffen dâ zer hôchgezît,
seht, daz gebar diu vrouwe sît

um den sehr schönen Apfel schlichtete,
ich meine den Moment, als ein
Weissager unüberhörbar
der Hofgesellschaft sagte,
dass die königliche Braut
mit einem Kindlein Schwanger geworden war,
das später vor Troja getötet werden würde.
Dieses Kind von edlem Geschlecht,
mit dem die Königin dort
bei der Hochzeit ergriffen wurde,
schaut, das hat die Dame seitdem zur Welt gebracht,

Donnerstag, 22. September 2016

5761-5770

wart in beiden vil gehaz.
wie sich von êrst erhüebe daz,
daz wirt iu wol her nâch geseit.
diz mære, daz wirt hie geleit
von ir ungelinge nider,
wan ich grîf an die rede wider,
wie man daz kindelîn erzôch,
des Thêtis, diu frouwe hôch,
wart swanger zuo der hôchgezît,
dô Pârîs der götinne strît

anfing, beide zu hassen.
Wie es damit zuallererst anfing,
das wird euch später noch genau erzählt.
Diese Geschichte, die von ihrem Unglück,
die wird nun zur Seite gelegt,
denn ich komme zur Erzählung davon zurück,
wie man das Kindlein erzog,
mit dem Thetis, die edle Dame,
bei der Hochzeit Schwanger wurde,
als Paris den Streit der Göttinnen

Dienstag, 20. September 2016

5751-5760

in ganzer wirde swebten
und nâch ir muote lebten
baz denn alle künige hôch;
dô kêrte von in unde vlôch
gelücke, daz in wonte bî.
si wurden manger sælden vrî,
der an in was ein wunder ê.
Fortûne wolte in dô niht mê
genædeclichen lachen;
wan si mit allen sachen

in aller Würde sich treiben ließen
und so lebten, wie es ihnen gefiel,
besser als alle großen König,
da wendete sich von ihnen das glückliche Schicksal,
das sich bei ihnen aufgehalten hatte, ab und eilte davon.
Ihnen ging so manches Heil verloren,
von dem sie zuvor eine Unmenge hatten.
Fortuna wollte sie nun
nicht mehr wohlwollend anlachen,
weil sie in jeder Hinsicht

Montag, 19. September 2016

5741-5750

mit êren bî der hovediet.
den hof mit vröuden er beriet
und was iedoch sîn herze unfrô.
der jungelinc der trûrte dô
nâch Helênen minne.
er hete sîne sinne
durch si geleit in clagende sene.
nû künic Lâmedon, sîn ene,
und Prîamus, der vater sîn,
mit êren sunder leides pîn

in großem Ansehen bei der Hofgemeinschaft.
Dem Hof bereitete er freudige Unterhaltung,
jedoch hatte er ein unglückliches Herz.
Der junge Mann war nämlich traurig
wegen Helenas Liebe.
Er hatte wegen ihr sein Sinnen und Trachten
auf klagende Sehnsucht gerichtet.
Da nun König Lamedon, sein Großvater,
und Priamus, sein Vater,
in großem Ansehen ohne Leid und Schmerz

Freitag, 16. September 2016

5731-5740

gewesen ê gesinde;
nû wart er z’eime kinde
von dem vater sîn gezelt
und vür den besten ûz erwelt,
der iender wonte in sînem sal.
der hof gezieret über al
wart mit sîner hôhen tugent.
alsô versleiz er sîne jugent
bî sînem werden vater vil
und wonte ûf langer stunde zil

zuvor zur Dienerschaft gehört,
nun wurde er von seinem Vater
zu dessen Kindern gezählt
und zum Besten erkoren,
der jemals in dem Saal sich aufhielt.
Der Hof wurde allenthalben
mit seiner großen Vortrefflichkeit geschmückt.
Auf diese Weise verbrachte er seine Jugend
zu einem guten Teil bei seinem angesehenen Vater
und lebte, ohne das sich ein Ende absehen ließ,

[»ûf langer stunde zil« dürfte meinen, dass auf eine lange Dauer ›abgezielt‹ wird, deshalb die Übersetzung mit »ohne das sich ein Ende absehen ließ«.]

Donnerstag, 15. September 2016

5721-5730

verlâzen dâ vil schône.
im gap der künic ze lône
ein meigertuom in sîne gewalt,
daz jâres vierzic pfunde galt
und im sîn hûs vil wol beriet.
hie mite er von dem hove schiet
und kêrte in vröuden wider hein.
Pârîs, der als ein engel schein
lieht unde wunneclich gevar,
was in der hovelichen schar

dort sehr freundlich verabschiedet.
Ihm übertrug der König als Lohn
die Verwaltung eines Gutshofes,
bei dem im Jahr mit vierzig Pfund zu rechnen war
und womit sein Hausstand sehr gut versorgt war.
Danach verließ er den Hof
und kehrte freudig wieder nach Hause zurück.
Paris, der wie ein Engel strahlte,
hell und in entzückenden Farben,
hatte in den Kolonnen am Hof

[Ich übersetze »meigertuom« erläuternd.]

Mittwoch, 14. September 2016

5711-5720

mê denne hundert tûsent stunt!‹
hie mite kuste an sînen munt
Prîamus Pârîsen dô:
des wart daz hofgesinde vrô.
Si wâren algelîche
der suone vröudenrîche,
diu des mâles wart vernomen;
man sach ze hôher wunne komen
die geste mit dem wirte.
ouch wart der guote hirte

mehr als tausendfach willkommen sein!‹
Nach diesen Worten gab Priamus
dem Paris sogleich einen Kuss auf den Munnd.
Darüber waren die Hofleute glücklich.
Sie waren alle zusammen
froh über die Versöhnung,
von der man bei dieser Gelegenheit erfuhr.
Man sah, dass die Gäste mit dem
Gastgeber in eine vergnügte Stimmung gerieten.
Auch wurde der gute Hirte

Dienstag, 13. September 2016

5701-5710

daz ich wânde hân verlorn,
ganc her, ich hân dich ûz erkorn
ze trôste in mînem leide!
dû bist mîn ougenweide
und mînes herzen wunnespil.
ich wünsche, daz ân endes zil
dîn herze in sælden gruone
ein êweclîchiu suone
sol werden zwischen mir und dir.
sîst willekomen hiute mir

das ich verloren zu haben glaubte,
komm her, ich habe dich auserwählt
als Trost in meinem Leid!
Du bist meine Augenweide
und die große Freude meines Herzens.
Ich möchte, dass dein Herz
für immer und ewig im Heil blühe.
Ein ewiger Frieden
soll zwischen dir und mir sein.
Du sollst mir heute

Montag, 12. September 2016

5691-5700

gelücke wahset mit genuht.
wie künde ein alsô reiniu fruht
iemer schaden mich gewern.
ich wil sîn z’eime vriunde gern
mit herzen und mit munde.‹
sus tet er bî der stunde
Pârîse ganze triuwe schîn.
er hiez in willekomen sîn
ân aller sorgen underbint.
›Pârîs,‹ sprach er, ›mîn liebez kint,

entsteht Glück zur Genüge.
Wie könnte ein so reines Kind
mir jemals Schaden zufügen?
Ich will mich um seine Freundschaft bemühen,
mit Herz und Mund.‹
Daraufhin zeigte er
Paris seine ganze Treue.
Er sagte ihm, dass er willkommen sein
solle und sich nicht von Sorgen solle stören lassen. 
›Paris‹, sagte er, ›mein liebes Kind,

Freitag, 9. September 2016

5681-5690

durchnehteclichen minnen.
in sînes herzen sinnen
gedâht er wider sich zehant:
›sît daz gevallen und gewant
ûf Pârîsen ist daz heil,
daz an im lît der êren teil
und aller sælden übersoum,
waz möhte ein üppeclicher troum
mir gewerren danne?
von sældenrîchem manne

bedingungslos zu lieben.
Während sein Herz Gedanken umher wälzte,
dachte er augenblicklich, ganz für sich:
›Weil sich nun das Glück
auf Paris’ Seite geschlagen hat hat und sich auf ihn niederließ,
so dass er einen festen Anteil hat am höfischen Ansehen
und einen mehr als voll gepackten Wagen voll mit göttlichem Heil,
was soll ein unnützer Traum
mir da groß schaden?
Durch einen gesegneten Mann

[Hoffentlich habe ich bei der Übersetzung von »in sînes herzen sinnen« nicht übertrieben… auch sonst bewegen sich in diesen zehn Versen ein paar Stellen recht weit vom Text weg, um die Übersetzung möglichst leicht verständlich zu halten.]

Donnerstag, 8. September 2016

5671-5680

mit ir süezen senftekeit
an sîme zorne dâ gestreit.
Dô Prîamus an im ersach,
daz vür alle clârheit brach
sîn wunneclich figûre,
dô lêrt in diu natûre
und daz angeborne reht,
daz er den tugentrîchen kneht
und den erwelten jungelinc
begunde sâ vür alliu dinc

mit ihrem süßen Sanftmut
kämpfte dort mit seinem Zorn.
Als Priamus, weil er ihn ansah, erkannte,
dass seine entzückende Gestalt wahrlich
alle Herrlichkeit überstieg,
da lehrte ihn die Natur
und das natürliche Gesetz,
dass er anfing, ihn, der treu war und zu Höherem strebte,
ihn, den ausgezeichneten jungen Mann,
von diesem Moment an mehr als alles andere 

[»reht« ist oft nicht einfach zu übersetzen. Statt von einem »angeborenen Recht« zu sprechen, übersetze ich »natürliches Gesetz«, was m.E. verständlicher ist und inhaltlich durchaus dem entspricht, was mit dem »angeboren reht« gemeint ist.

Ob hier mit »kneht« der Rangunterschied betont wird? Oder ist einfach »Knabe/Jüngling« gemeint (mithin einfach der Altersunterschied)?]

Mittwoch, 7. September 2016

5661-5670

und in vil kurzer stunde.
der sun mit rôtem munde
und mit der ougen schîne
den vater dô von pîne
begunde suoze scheiden;
wan er mit disen beiden
sô minneclichen lachete,
daz er im trûren swachete
und al sîn ungemüete.
diu veterlîchiu güete

und das in kurzer Zeit.
Der Sohn fing schnell an, mit
rotem Mund und mit strahlenden Augen
den Vater dann von Schmerz
auf angenehme Art zu befreien;
denn mit diesen beiden
lachte er so liebenswert,
dass er seine Traurigkeit schwach machte
und all seinen Kummer.
Die väterliche Güte

Dienstag, 6. September 2016

5651-5660

lie durch sîne clâren jugent.
Pârîs der hete an im die tugent
und was vor wandel sô getwagen,
swem er den vater hæte erslagen,
er müeste im guotes hân verjehen,
het er in z’einer stunt gesehen
mit volleclichen ougen an;
dâ von sîn vater dô gewan
ein miltez herze wider in;
sîn vîentschaft was schiere hin

aufgab, wegen seiner strahlenden Jugend.
Paris war von Fehlern und Makel so reingewaschen
und er verfügte über die Eigenschaft, dass,
wem auch immer er den Vater erschlagen hätte,
er nicht umhin gekommen wäre, ihm nur Gutes zu wünschen,
hätte er ihn zu dieser Zeit
mit offenen Augen angesehen.
Deshalb gelang es dann seinem Vater, sein Herz
ihm gegenüber großzügig zu machen.
Seine Feindseligkeit hatte sich sogleich erledigt

Montag, 5. September 2016

5641-5650

wider in sîn grimmer zorn,
wan dô der knappe hôchgeborn
vür in was gegangen,
dô hete schiere enphangen
der künic vröudenrîchen muot.
sîn varwe lûter unde guot
und alle die gezierde sîn,
die gâben sô rîlichen schîn,
daz er des zornes sîn vergaz
und allen vîentlichen haz

Zorn ihm gegenüber nicht an,
denn, als der hochgeborene Jüngling
vor ihn getreten war,
da hatte den König sogleich
eine freudige Stimmung ergriffen.
Seine reine und schöne Haut
und sein vollends schmuckes Äußeres,
die leuchteten so herrlich,
dass er seinen Zorn vergaß
und allen feindseligen Hass

Freitag, 2. September 2016

5631-5640

was vor allem meine.
Pârîs, der knappe reine,
und sîner bruoder viere
mit fröuden îlten schiere
vür sînen vater Prîamum,
der im dô sînen willekum
tiur unde fremde werden lie;
wan er in zuo dem mâle enphie
mit übellicher angesiht.
doch enwerte lange niht

weil sie ihm ab- und weggeschnitten worden war.
Paris, der makellose Jüngling,
und vier seiner Brüder
beeilten sich freudig,
vor die Augen seines Vaters Priamus zu kommen,
wo dessen Willkommensgruß
für ihn zur Kostbarkeit wurde, die fern lag,
denn er empfieng ihn bei dieser Gelegenheit
mit sehr unfreundlicher Miene.
Doch lange hielt sein

Donnerstag, 1. September 2016

5621-5630

mit leide ûf sîn gestüele wider.
nû kam diu küniginne sider
vür in dar gegangen
und hete dâ gevangen
Pârîsen bî der hende wîz.
si fuorte in sunder itewîz
für den künic hôchgeborn
und wolte stillen sînen zorn
mit dem juncherren ûz erwelt,
der wol geliutert und beschelt

bekümmert zurück auf seinen Thron.
Danach ging dann die Königin
zu ihm
und sie hielt die weißen Hände
des Paris fest umschlossen.
Sie führte ihn mit allen Ehren
zu dem hochgeborenen König
und wollte seinen Zorn besänftigen
mit Hilfe des ausgezeichneten jungen Herrn,
weil er ja rein war, geläutert von aller Bösartigkeit,

Mittwoch, 31. August 2016

5611-5620

der ich zer welte solte leben.
waz hilfet, daz mir sint gegeben
liut unde lant, sît daz ich hân
der leiden zuoversihte wân,
daz ich lîp unde guot verzere
und ich verliese ân alle were
daz rîch und al mîn êre?
mit jâmer und mit sêre
muoz ich sîn gebunden.‹
sus kert er bî den stunden

mit der ich hier auf Erden leben sollte.
Was bringt es, dass ich über
Leute und Land verfüge, da ich doch
zukünftiges Leid erwarte,
dass nämlich mein Leben und Besitz zugrunde gehen
und ich – ohne mich wehren zu können –
das Reich und mein ganzes Ansehen verliere?
Mit Schmerz und Jammer
bin ich gefesselt.‹
Dann kehrte er binnen kurzer Zeit

Dienstag, 30. August 2016

5601-5610

ist gehenket über dich,
sô lâze ouch ungestrâfet mich,
dur daz ich trûric schîne:
wan mînes herzen pîne
die sint als engestlichen grôz,
als ob ein swert scharpf unde blôz
durch mich vallen welle.
ich sage dir, trût geselle,
mir sint diu mære z’ôren komen,
diu mir die vröude hânt benomen,

über dich gehängt wurde,
dann beschwere dich auch nicht über mich –
darüber, dass ich einen traurigen Eindruck mache;
denn die Qualen meines Herzens,
die sind so furchterregend groß,
als ob ein scharfes, blankes Schwert
drohte, mich zu durchbohren.
Ich sage dir, lieber Freund,
mir sind Nachrichten zu Ohren gekommen,
die mir die Freude genommen haben,

Montag, 29. August 2016

5591-5600

sô tiure als umb ein cleinez hâr,
daz swert gesliffen unde clâr
wirt durch mich gevellet.
mich hât dîn hant gestellet
in alsô marterbæren pîn,
daz ich niht vrœlich mac gesîn.‹
›Jâ,‹ sprach dô Prîamus zehant,
›und ist dîn vorhte alsô gewant,
daz dîn muot niht vröuden gert,
dar umbe daz ein scharpfez swert

um eine Haaresbreite bewegt,
fährt das geschliffene, blanke Schwert
durch mich hindurch.
Du selbst hast mich einer 
derart peinigenden Quälerei ausgesetzt,
dass ich nicht fröhlich sein kann.‹
›Ja‹, sagte Priamus sogleich darauf,
›und wenn deine Furcht sich so auswirkt,
dass dir der Sinn nicht nach Freude steht,
weil ein scharfes Schwert

Freitag, 19. August 2016

5581-5590

liut unde lant, êr unde guot.
durch waz bist dû niht hôchgemuot,
sît daz dû lebest nâch dîner ger?‹
›wie solte ich vrô gesîn,‹ sprach er,
›und einen hôhen muot getragen?
ichn weiz doch, wenne ich wirde erslagen
mit einem scharpfen swerte balt,
daz hie dîn küniclich gewalt
hât über mich gehenket.
swie mir daz houbet wenket

Leute und Land, Würde und Besitz.
Was ist es, dass dich von der Glückseligkeit abhält,
obwohl du doch so lebst, wie du es dir nur wünschen kannst?‹
›Wie könnte ich glücklich sein‹, sagte er,
›und mich in Hochstimmung zeigen?
Ich kann ja nicht wissen, wann ich
von einem scharfen Schwert plötzlich erstochen werde,
das hier deine königliche Macht
über mich gehängt hat.
Wenn mein Kopf sich auch nur

Donnerstag, 18. August 2016

5571-5580

wær im gevallen durch den lîp.
dar umb er als ein zühtic wîp
still unde schemelichen saz.
sîn herze vröuden gar vergaz
und aller wunne bî der zît.
dâ von der künic aber sît
wider in dô schiere sprach:
›friunt, waz ist nû dîn ungemach?
war umbe vröuwest dû dich niht?
nû hâst dû doch in dîner pfliht

hätte ihm den Körper durchbohrt.
Deshalb saß er still und schamrot
wie eine sittsame Frau.
Sein Herz vergaß in dieser Situation
jedwede Freude und alles Vergnügen.
Deshalb sagte der König
nach einiger Zeit wiederum plötzlich zu ihm:
›Mein Lieber, was macht dich nun unglücklich?
Warum freust du dich nicht?
Du hast doch nun Macht über

Mittwoch, 17. August 2016

5561-5570

von angestbæren sorgen.
sîn vröude wart verborgen
und al sîn hôchgemüete gar.
wan dô daz swert blôz unde bar
ob im an einem hâre hienc,
dô wart er trûric und enpfienc
vorht unde zagelichen sin.
het er gerücket iender hin
und umb ein hâr gerüeret sich,
daz swert scharpf unde lûterlich

vor lauter beklemmender Sorgen zu schwitzen.
Seine Freude wurde verdeckt
und all seine Glückseligkeit,
denn als das nackte, blanke Schwert
an einem Haar über ihm hing,
da wurde er unglücklich und er wurde
von Furcht und Angst ergriffen.
Wäre er ein wenig zur Seite gerückt
oder hätte er sich um Haaresbreite bewegt,
das blanke, scharfe Schwert

Dienstag, 16. August 2016

5551-5560

an mîner stat an dirre stunt.
sît ich an fröuden ungesunt
und an hôhem muote bin,
sô maht dû wunnebæren sin
und ein vrœlich herze hân:
wan swaz dû wilt, daz wirt getân.‹
Nû daz der künic Prîamus
den hübschen man gehiez alsus
ûf sîn gestüele sitzen,
seht, dô begund er switzen

jetzt und an meiner statt.
Da meine Freude und Glückseligkeit
krank geworden sind,
magst du nun frohen Mutes sein
und ein fröhliches Herz haben,
den alles, was du willst, das wird man tun.‹
Als nun der König Priamus
dem höfischen Mann mit diesen Worten
befahl, auf seinem Thron zu sitzen,
seht, da begann er

Montag, 15. August 2016

5541-5550

gebieter und ein künic wert!
ob nû dîn herze vröuden gert,
sô maht dû werden hôchgemuot.
ich hân dir lant, liut unde guot
gelihen allen disen tac.
swaz ich dâ her gewaltes pflac,
geselle tiure, des lâz ich
noch hiute pflegen alles dich,
dur daz dû vrô belîbest
und kurzewîle trîbest

Herrscher und herrlicher König!
Wenn nun dein Herz nach Freuden verlangt,
so hast du die Möglichkeit, glückselig zu werden.
Ich habe dir Land, Leute und Besitz
für diesen ganzen Tag übergeben.
Was auch immer ich an Macht hatte,
geschätzter Freund, das alles übergebe ich
noch heute deiner Gewalt,
damit du glücklich bist und bleibst
und dir fröhlich die Zeit vertreibst,

Freitag, 29. Juli 2016

5531-5540

daz lûter und daz scharpfe swert
mit sîner blanken hende wert
gehienc sus über in dort hin,
dô sprach er aber wider in:
›Nû sî dir mîn gewalt gegeben.
lâ sehen, wie dû getürrest leben
und habe dir allez, daz ich hân!
mîn rîch daz sî dir undertân
und alle mîne liute;
an mîner stat wis hiute

das blanke und scharfe Schwert
mit seinen weißen, schönen Händen
auf solche Weise dorthin über seinen Kopf hängte,
da sagte er wiederum zu ihm:
›Nun sollst du meine Macht haben.
Dann zeig mal, wie du dich zu leben getraust,
wenn du alles hast, das ich habe!
Mein Reich, das sei dir untertan
und alle Leute, die mir verpflichtet sind.
Sei heute an meiner Stelle

Donnerstag, 28. Juli 2016

5521-5530

und gesliffen sêre
daz bant der künic hêre
mit sîner wîzen hende clâr
an ein vil cleinez rossehâr
und hienc ez über den spilman
sô lîse, daz er wære dran
versniten und versêret,
ob er sich dâ gekêret
und gerüeret hæte.
nû Prîamus der stæte

und sorgfältig geschliffen hatte,
das band der edle König
mit seinen weißen, schönen Händen
an ein hauchdünnes Haar aus dem Schweif
oder der Mähne eines Pferdes und hing es
über den Spielmann, so sanft, dass er sich
daran geschnitten und verletzt hätte,
wenn er sich dorthin gewendet
oder überhaupt bewegt hätte.
Als nun Priamus, der Untadelige,

[Rosshaar dürfte in diesem Fall das Haar aus der Mähne oder dem Schweif meinen. Da heutzutage kaum mehr jemand mit diesem »Rohstoff« zu tun haben dürfte, übersetze ich die Erläuterung gleich mit.]

Mittwoch, 27. Juli 2016

5511-5520

daz wirt versuochet alzehant.
sus zôch er abe sîn gewant
und sîniu küniclîchiu cleit.
diu wurden gæhes an geleit
dem hövelichen spilman.
er muoste si dâ legen an,
als in der werde künic bat.
gekrœnet wol an sîne stat
wart er von im gesetzet.
ein swert vil wol gewetzet

das wollen wir jetzt sofort ausprobieren.
Dann legte er seine Waffen ab
und seine königliche Kleidung.
Die zog man eilig dem
höfischen Spielmann an.
Er hatte da keine andere Wahl, als sie anzulegen,
weil ihn der angesehene König darum gebeten hatte.
Ordentlich gekrönt wurde er von ihm
auf seinen Platz gesetzt.
Ein Schwert, das man sehr gut gewetzt

Dienstag, 26. Juli 2016

5501-5510

›friunt,‹ sprach er, ›tugentrîcher kneht,
dich diuhte billich unde reht,
daz ich frœlich solte sîn.
nû stêt ez sô, geselle mîn,
daz ich niht fröuden mac gehân:
dâ von sô lâ die rede stân,
mit der dû mich beswærest.
dû sprichest, ob dû wærest
an mîner stat, sô woltest dû
dich fröuwen harte sêre nû,

›Mein Lieber«, sagte er, »tadelloser Junge,
du meinst also, dass Recht und Anstand mir gebieten,
fröhlich zu sein.
Nun ist es aber so, mein Freund,
dass ich keine Freude haben kann.
Lass deshalb das Reden sein,
mit dem du mich belästigst.
Du sagst, wenn du an
meiner Stelle wärest, dann wolltest du
gleich ganz unglaublich glücklich sein, 

Montag, 25. Juli 2016

5491-5500

und wære ich künic, als dû bist,
ich wolte funden alle vrist
in hôhem muote werden.
wer künde mich ûf erden
gemachen jâmerbære,
sît nieman lebender wære
alsô gewaltic, daz er sich
getörste setzen wider mich?‹
Der künic, Prîamus genant,
gap im antwürte dô zehant:

und wäre ich König, so wie du es bist,
ich würde wollen, dass man mich zu jeder Zeit
als einen glücklichen Menschen antrifft.
Wie könnte mich jemand auf der Welt
in Kummer und Sorge stürzen,
da es doch keine Menschenseele gibt,
die so mächtig ist, dass sie es wagen würde,
sich gegen mich aufzulehnen?‹
Der König mit dem Namen Priamus
antwortete ihm darauf postwendend:

Freitag, 22. Juli 2016

5481-5490

ist kein fürste dîn genôz.
dur waz siht man dich vröuden blôz
und alsô rehte jâmerhaft?
sît daz von dîner magenkraft
sich biuget alsô manic knie,
daz nieman lebt ûf erden hie,
der dir an êren sî gelîch;
sô soltest dû dich fröuden rîch
hie lân beschouwen, herre mîn.
möht ich an dîner stat gesîn

kommt kein Fürst dir gleich.
Weshalb sieht man dich freudlos
und so ganz bekümmert dasitzen?
Weil sich vor deiner Majestät
so manches Knie beugt;
weil es niemanden auf der Erde gibt,
der dir an Ansehen gleicht;
deshalb sollte man dich, mein Herr, hier sehen,
wie du sehr vergnügt und fröhlich bist. 
Könnte ich an deiner Stelle sein

[Die Traurigkeit des Herrschers ist am Hof nur dann relevant, wenn sie sichtbar ist und damit als Botschaft verstanden werden kann. Deshalb zeigt sich der Spielmann auch irritiert darüber, dass man den König freudlos »sieht«. Im Neuhochdeutschen muss aber noch etwas hinzukommen, denke ich, deshalb übersetze ich »freudlos dasitzen«.]

Donnerstag, 21. Juli 2016

5471-5480

war umbe fröuwest dû dich niht,
daz man dich sorgen hüeten siht
an dîme geburtlichen tage?
daz ist ein wunderlîchiu clage
und ein fremder ungelimpf.
dû soltest wunnebæren schimpf
von wâren schulden üeben.
wer möhte dich betrüeben?
dû bist doch allen künigen obe.
an hôher werdekeite lobe

Warum freust du dich nicht
und warum sieht man, wie du mit Sorgen beschäftigt bist,
an deinem Geburtstag?
Das ist ein seltsamer Kummer
und ein bisher unbekanntes, unangemessenes Benehmen.
Du solltest dich aus guten Gründen verpflichtet fühlen,
vergnüglichen Spaß zu verbreiten.
Wer könnte dich traurig stimmen?
Du bist doch der Erste unter allen Königen.
Was die Anerkennung hoher Würde anbelangt, 

Mittwoch, 20. Juli 2016

5461-5470

dem künige sîne swære.
swie vil der hovebære
des spils getreip und dâ getete,
daz half in lützel an der stete;
wan der künic saz verdâht.
nû daz er hete vollebrâht
die leiche sîn nâch wunsche dâ,
dô sprach er zuo dem künige sâ:
›vil werder künic, wie bist dû
sô trûric und sô leidic nû!

sein Leid erträglicher machte.
Was auch immer er, der sich höfisch
zu verhalten wusste, dort spielte und tat,
das half ihnen in dem Moment wenig,
denn der König saß in sich gekehrt da.
Als er nun jeden Leich,
den er spielen wollte und sollte, gespielt hatte, 
sagte er gleich darauf zum König:
›Verehrter König, warum herrscht bei dir
derartige Trauer und derartige Betrübnis?

Dienstag, 19. Juli 2016

5451-5460

mit sîner harpfen ûf den sal,
der huop dâ wunneclichen schal
mit sînem hübschen seitenspil.
tenz unde süezer leiche vil
liez er dâ lûte erclingen.
dar zuo begunde er singen
vrœlîche bî der stunde.
mit handen und mit munde
vil kurzewîle er machete,
dur daz er dâ geswachete

vor ihn, hinein in den Saal.
Er fing dort an, angenehme Musik zu machen
mit seinem höfischen Zupfspiel.
Tänze und einen süßen Leich nach dem anderen
ließ er da laut erklingen.
Auch begann er zu dieser Zeit
fröhlich zu singen.
Mit seinem Mund und seinen Händen
sorgte er für beste Unterhaltung,
weil er dort dem König

[Ich versuche den neuhochdeutschen Plural von »Leich« zu vermeiden.]

Montag, 18. Juli 2016

5441-5450

Mit disen worten und alsô
vertriben si die stunde dô
und heten hôher vröude vil.
Pârîs der was ir wunnespil
und ir trôst gelîche,
wan daz der künic rîche
durch in aleine trûric saz.
sîn herze leides niht vergaz,
swenne er sach Pârîsen an.
nû kam für in ein spilman

Mit diesen Worten und auf diese Weise
vertrieben Sie sich dort die Zeit
und hatten viel ehrenhaftes Vergnügen.
Paris, der war ihre größte Freude
und zugleich ihr Trost und ihre Zuversicht,
weil nämlich der mächtige König
allein und traurig dasaß – wegen ihm.
Immer wenn er Paris ansah,
konnte sich sein Herz nicht von Schmerz befreien.
Nun trat ein Spielmann mit seiner Harfe

Donnerstag, 14. Juli 2016

5431-5440

daz dicke ein armer âne guot
baz unde tugentlicher tuot,
denne ein bœser rîcher zage.
ob nû der hirte sîne tage
bî werden künigen het vertân,
wie künde er tugentlicher hân
den schœnen jungelinc erzogen.
Pârîs beleip vil unbetrogen
an sîner zühte meisterschaft;
er ist clâr unde tugenthaft.‹

dass oft ein Armer ohne Besitz
besser und tugendhafter handelt,
als ein böser, reicher Feigling.
Selbst wenn der Hirte seine Zeit
bei angesehenen Königen verbracht hätte,
er hätte den schönen jungen Mann
nicht vortrefflicher erziehen können?
Paris hat keine Schaden erlitten
hinsichtlich seiner bestmöglichen Erziehung und Bildung;
er ist schön und vortrefflich.‹

Mittwoch, 13. Juli 2016

5421-5430

›der künic, unser herre, sol
den hirten gerne enphâhen wol,
der im erzogen hât ein kint
sô schône, daz geblüemet sint
diu lant mit sîner sælikeit.
er hât sô reinen vlîz geleit
ûf den erwelten jungelinc,
daz im nâch heile sîniu dinc
billîche hie ze hove ergânt.
die göte an im bewæret hânt,

›Unser Herr, der König, soll
den Hirten freundlich und gut begrüßen,
der ihm ein Kind aufgezogen hat,
das so schön ist, dass das Land
mit seinem Heil geschmückt ist.
Er hat sich um den unvergleichlichen jungen Mann
mit so reiner Hingabe gekümmert,
dass seine Angelegenheiten hier am Hof
zurecht gut für ihn ausgegangen sind.
Die Götter haben an ihm bewiesen,

Dienstag, 12. Juli 2016

5411-5420

schœn unde wol bewæren.
den wolte er niht vermæren,
ê man im daz gehieze,
daz in der künic lieze
vrid unde stæte hulde haben,
swenn er geseite von dem knaben
der lûterlichen wârheit.
Pârîs wart sîner kunft gemeit
und sîner angesihte vrô.
die ritter sprâchen alle dô:

schön und gut beweisen.
Den nämlich wollte er nicht in Schwierigkeiten bringen,
bevor man ihm nicht versprochen hatte,
dass ihm der König
Sicherheit und beständiges Wohlwollen gewähre,
sobald er von dem jungen Mann
die reine Wahrheit gesagt habe.
Paris war froh über sein Kommen
und er freute sich, ihn zu sehen.
Dann sagten die Ritter einmütig: