Freitag, 30. Oktober 2020

Kommentar

Der Achill, der kann was! Rauben, brandstiften – Ochsen und Ziegen vertreiben (bei der Übersetzung von »trîbet« in V. 13573 vielleicht im Präsens bleiben?); was soll das werden, wenn er erst erwachsen (so vielleicht konkreter V. 13575 »zuo sînen jâren«) ist? Greifen, Löwen und Bären wagen es nicht, sich ihm entgegenzustellen (V. 13578 »erbîten« laut neuem Mittelhochdeutschem Wörterbuch »militär. ›jmdm. standhalten, sich jmdm. entgegenstellen‹«). Achills Begehren (V. 13580 »ger«) ist auf Kämpfe gerichtet und er verfügt über kraftstrotzende Tapferkeit (V. 13585 »maht« lässt sich oft gut mit »Kraft« o.ä. übersetzen). Dem Wald hat er das Wild geraubt (V. 13588 »verhern« kann auch »berauben« meinen). Der Achill, der kann was!

Klar, dass diese Erzählung (oder: »Neuigkeit«?) – »daz mære« (V. 13590) – seiner Mutter schwer auf dem dem Herzen lastet. Klar auch, dass sie ihn vor jeder(lei) (so hier vielleicht für »aller hande«, V. 13619) Wunde(n) beschützen möchte.

Tolle Textpassage! 

13570-13619

13570

er üebet rouben unde brant
in ir lande creize.
ir ohsen und ir geize
die trîbet er aleine dan.
er wirt ein wunder z'eime man,

13575

sol er zuo sînen jâren komen.
er hât die kraft an sich genomen,
daz er mit tracken strîtet,
kein grîfe sîn erbîtet,
noch kein löuwe, noch kein ber,

13580

sîn herze und alle sîne ger
hât er ûf kampf gerihtet.
daz er sô gerne vihtet,
daz ist mir ein vil swærez dinc.
er ist ein schœner jungelinc

13585

und hât gar ellentrîche maht.
daz ir gesehent wol ê naht,
swenne er ûz dem walde vert
und in an wilde hât verhert.
Diu frouwe von der rede erschrac.

13590

ze herzen ir daz mære lac,
daz ir sun sô gerne streit,
wan si vorhte, ob ez geseit
den Kriechen würde bî der zît,
daz er mit in an den strît

13595

ze Troye kêren müeste.
des wolte in ûz der wüeste
mit kündeclichen sinnen
sîn muoter dô gewinnen
und in verbergen eteswâ.

13600

zuo Schyrône sprach si dâ
gezogenlichen alzehant:
sît daz Achilles hât gewant
ze strîte sîn gemüete gar,
sô wil ich mit im eteswar

13605

nû strîchen unde kêren,
dur daz ich im gemêren
sîn heil und sîne wünne
mit arzenîe künne,
diu für alle wunden tüge.

13610

daz ieman in versnîden müge
von dem houpte unz an den fuoz,
weizgot, daz wil ich unde muoz
mit künsten noch erwerben.
solt er an strîte sterben,

13615

sô müeste ich iemer leidic sîn,
und ist ez mit dem willen dîn,
daz er mit mir hinnen vert,
sô wirt sîn junger lîp genert
vor aller hande wunden.



13570 

Er übt sich in ihrem Land im 
Rauben und Brandstiften.
Er hat ihre Ochsen und Ziegen
alleine vertrieben.
Er wird ein Wunder von einem Mann werden,

13575

wenn er älter wird.
Er hat so viel Kraft,
dass er mit Drachen kämpft
und weder Adler, Löwen oder Bären
ihn ruhig erwarten; 
 
13580

sein Herz und seine Sinne
sind vollständig auf den Kampf ausgerichtet.
Dass er so gerne kämpft,
ist für mich eine belastende Tatsache. 
Er ist ein schöner Jüngling
 
13585

und hat weitreichende Macht.
Ihr werdet es vor der Nacht sehen:
in der Dämmerung kommt er aus dem Wald zurück,
dessen Wild er besiegt hat.“.
Die Dame erschrak von diesen Worten.
 
13590

Ihr lag schwer auf dem Herzen,
dass ihr Sohn so gerne kämpfte,
denn sie befürchtete, wenn es 
den Griechen beizeiten berichtet würde, 
dass er mit ihnen in die Schlacht

13595

vor Troja ziehen müsste.
Deshalb wollte ihn seine Mutter 
auf kluge Weise aus der Einöde 
wegschaffen 
und ihn anderswo verbergen. 

13600

Zu Cheiron sprach sie 
sogleich höflich:
„Da Achilles alle seine Sinne
auf den Kampf gerichtet hat,
werde ich mich mit ihm irgendwo
 
13605

zurückziehen und verbergen,
damit ich ihm 
Gesundheit und Freude 
mit einer Arznei stärke,
die jede Wunde heilt.
 
13610

Dass ihn jemand verletzen könnte,
vom Kopf bis zu den Füßen, 
das werde und muss ich mit meinen Künsten, 
weiß Gott, verhindern.
Wenn er im Kampf stirbt,

13615

so müsste ich ewig leiden,
und wenn du mir zustimmst,
dass er mit mir fortgeht,
so wird sein junger Körper 
vor allerhand Wunden geschützt werden. 

Mittwoch, 28. Oktober 2020

Kommentar

Man könnte überlegen, ob man »gelücke« (V. 13524) mit »Schicksal« übersetzt – aber das muss nicht unbedingt sein. »Bewîse dû mich« (V. 13526) mit »schwöre mir« zu übersetzen, ist mutig und nicht wirklich falsch; ich würde aber zum allgemeineren »zeige mir« oder »beweise mir« raten, denn »bewîsen« hat, glaube ich, sehr viel mit aufzeigen, vorzeigen, herzeigen zu tun. Das »gedon« in V. 13529 meint wohl »Anstrengung«, »Mühe« und man könnte überlegen, wie das noch in die Übersetzung passen könnte.

Dann bin ich ein längeres Stück sehr einverstanden und die Übersetzung liest sich flüssig weg. Das »balde« in V. 13547 sollte man vielleicht nicht weglassen (es meint »mutig«, »kühn« – man vgl. das englische »bold«). 

Die Übersetzung »Er fügt ihnen Leid zu, denn er quält sie heftig.« (V. 13550f.) klingt für heutige Ohren fast ein bisschen nach Tierquälerei. Wie wäre: »Er sorgt bei ihnen für große Verluste, weil er sie mit großer Kraft überwältigt.« – Und das »ûzermâze« zwei Verse danach könnte man vielleicht etwas kräftiger übersetzen (»über alle Maßen« o.ä.). 

Das »gesezzen« in V. 13555 könnte möglicherweise tatsächlich gut und sinnvoll mit »lagern« übersetzt sein; allerdings könnte man sich dann fragen, ob die Zentauren einen festen Wohnsitz haben oder umherziehen. Ich hätte spontan eher übersetzt, dass die Zentauren in der Nähe »leben«. 

Mit dem Rest bin ich im Prinzip ganz einverstanden; nur wenn man es ganz genau nimmt, müsste man das Verallgemeinerungspräfix bei »swenne« (V. 13565) übersetzen (»wann immer er will«). 

13520-13569

13520

dô wart ir herze vröudelôs,
wan si gedâhte in hân verlorn.
diu frouwe schœne und ûz erkorn
mit leide sprach Schyrône zuo:
daz dich Gelücke sælic tuo!

13525

war ist mîn sun Achilles?
durch got bewîse dû mich des,
ob er noch iender lebende sî.
daz er niht wont dem hûse bî,
daz tuot mir trûren vil gedon.

13530

niht sorgent, sprach dô Schyron,
umb Achillen, frouwe guot.
sint vrœlich unde wolgemuot,
er wirt uns komende balde
ze hûse von dem walde,

13535

dar în ist er geloufen jagen.
er sol uns bringen unde tragen
vil tiere ûz dem gevilde.
er ist ein knabe sô wilde,
daz man vernam daz wunder nie.

13540

swenne ich wæne, daz er hie
bî mir in dem steine sî,
sô wont er dem gewilde bî
und würket vrevelîchiu werc.
er stîget manigen hôhen berc

13545

geswinder denne ein steinboc.
über stein und über stoc
siht man in balde klimmen.
diu starken und diu grimmen
tier bestât er mit gewalt.

13550

er tuot in schaden manicvalt,
wan er si vaste pînet.
daz er sô vrevel schînet,
daz ist mir ûzermâze leit.
sô gerne ein knabe nie gestreit,

13555

alsam er tuot noch hiute.
vrech unde starke liute
sint uns gesezzen nâhe bî,
die sint genant Zentaurî,
den wüestet er heid unde mos.

13560

die selben sint man unde ros
und sint an sterke mir gelîch.
doch sint si nie sô krefte rîch,
noch sô frevel, noch sô balt,
Achilles der entuo gewalt

13565

in allen, swenne er welle.
si clagent ungevelle
dicke und ofte mir von im.
vil grôzen schaden ich vernim,
der in geschehe von sîner hant.



13520

wurde ihr Herz freudelos,
denn sie dachte ihn verloren zu haben. 
Die schöne und auserwählte Dame
sprach bedrückt zu Cheiron:
„Möge dir das Glück hold sein!
  
13525

Wo ist mein Sohn Achilles?
Schwöre mir vor Gott,
dass er noch unter den Lebenden weilt.
Dass er nicht Zuhause ist,
das macht mich sehr traurig.“
 
13530

Cheiron sprach: „Sorge dich nicht 
um Achilles, gute Dame.
Seid froh und wohlgemut,
er wird bald aus dem Wald 
nach Hause kommen,

13535

wo er zum Jagen hingelaufen ist.
Er wird uns von dort 
viele Tiere bringen.
Er ist ein so ungezähmter Junge,
wie man es noch nie vernommen hat.
 
13540

Wenn ich glaube, dass er hier 
bei mir in der Höhle ist,
so ist er in der Wildnis und vollbringt
manche übermütige Tat.
Er klettert auf so manchen hohen Berg
 
13545

schneller als ein Steinbock.
Man sieht ihn über Stock 
und Stein klettern.
Die starken und gefährlichen Tiere
erliegen seiner Kraft.
 
13550

Er fügt ihnen Leid zu,  
denn er quält sie heftig.
Dass er so verwegen ist,
das betrübt mich sehr.
Nie kämpfte ein Junge lieber,
 
13555

wie er es heute noch tut.
Mutige und starke Männer,
man nennt sie Zentauren,
lagern in unserer Nähe,
denen verwüstet er Heide und Moos.
 
13560

Sie sind zugleich Mann und Pferd
und sie gleichen mir an Stärke,
doch sind sie weder so reich an Kräften
noch so mutig und kühn, 
dass Achill ihnen allen nicht Gewalt antut,
 
13565

wenn er will.
Sie klagen mir oft ihr Unglück,
das ihnen von ihm widerfährt.
Ich habe von großem Schaden gehört, 
der ihnen von seiner Hand geschehen ist.

Montag, 26. Oktober 2020

Kommentar

Die ersten fünf Verse finde ich prima, V. 13475f. verstehe ich dann allerdings anders: Dass Thetis »die rede treip dô wider sich«, das meint wohl, dass sie »diese Worte zu sich selbst sagte«. Man müsste allerdings die Übersetzung gar nicht groß verändern, denn statt dass die Gedanken sie »antrieben« könnte man vielleicht sagen, dass diese Gedanken sie »umtrieben«. 

Dann bin ich wieder ein längeres Stück sehr einverstanden – nur das »gebieten« von Anstand und Ehre (V. 13493) finde ich nicht ganz überzeugend übersetzt. Wie wäre: »Er führte sie hinein und erwies ihr Anstand und Ehre«? Sollte das nicht gut klingen, könnte man überlegen, die beiden Verse freier zu formulieren.

Dann lesen sich rund fünfzehn Verse sehr flüssig, bevor ich über V. 13510f. stolpere. Dort heißt es »des wurden si vil schiere von ir snellekeit gewis.« Ich vermute, dass sich das Pronomen »si« auf die Tiere bezieht, von denen unmittelbar zuvor die Rede ist (und diese Tiere sind ja die Zinzzahlung des Waldes). »ir snellekeit« dürfte sich auf Achill und Patroklos beziehen. Wie wäre: »Dies wurde ihnen (den Tieren) durch deren Geschicklichkeit schnell klar gemacht«? 

13470-13519

13470

den Kriechen ab den ougen,
die sîner helfe wellent gern.
si müezent sîn vor Troye enbern,
sît daz mir ist von im geseit,
daz er dâ werde tôt geleit.

13475

Die rede treip dô wider sich
Thêtis diu frouwe minneclich
und wart alsus ze râte,
daz si dâ wolte drâte
nâch ir sune Achillen varn.

13480

sîn leben dâhte si bewarn
und sînen wunneclichen lîp.
daz werde hôchgeborne wîp
wolte sînes schaden beviln;
des fuor si dan mit ir gespiln

13485

nâch dem juncherren alzehant.
Thessâliam daz wilde lant
begunde si dô schouwen
und kam mit ir juncfrouwen
gestrichen für Schyrônes hol,

13490

der minneclichen unde wol
enpfienc dar vor die künigîn.
er fuorte si mit im dar în
und bôt ir zuht und êre,
wan er sich vröute sêre

13495

von ir clâren angesiht.
Achilles was dâ heime niht,
dô sîn muoter kam alsus.
er und sîn friunt Patroclus,
der sîn trûtgeselle was,

13500

ze walde wâren, als ich las,
geloufen bî den stunden.
swaz si dâ wildes funden,
daz wart gevellet von in zwein.
ze nâht sô brâhten si dâ hein,

13505

swaz si des tages viengen.
si clummen unde giengen
über mangen hôhen vlins.
der walt der muoste in geben zins,
von manger hande tiere:

13510

des wurden si vil schiere
von ir snellekeit gewis.
und dô diu frouwe Thêtis
in Schyrôneshol gesaz,
mit ir ougen si dô maz

13515

die clûsen und den stein iesâ.
si nam des war, ob iender dâ
ir sun Achilles wære.
nû daz diu wunnebære
des juncherren dô niht kôs,



13470

und vor den Augen der Griechen verborgen halten, 
die seine Hilfe gerne bekämen.
Sie müssen auf ihn vor Troja verzichten,
da mir über ihn gesagt wurde,
dass er dort den Tod finden wird.“. 
 
13475

Diese Gedanken trieben
die edle Herrin Thetis an
und sie fasste den Entschluss, 
schnell zu ihrem 
Sohn Achilles zu fahren. 

13480

Sie dachte nur daran, sein Leben und 
seinen liebreizenden Körper zu bewahren.
Die edle, hochgeborene Frau
wollte seinen Schaden abwenden,
deshalb fuhr sie mit ihren Hofdamen
 
13485

sofort zu ihrem Jungen.
Sie konnte bald das wilde Land
Thessalien erblicken
und kam mit ihren Edelfrauen
bald zu der Höhle von Cheiron,
 
13490

der die Königin davor
freundlich und höflich empfing.
Er führte sie hinein
und gebot ihr Anstand und Ehre,
da er sich sehr 

13495

an ihrem schönen Anblick erfreute. 
Achilles war nicht zuhause,
als seine Mutter ankam.
Er und sein Freund Patroklos,
der sein bester Freund war,
 
13500

waren zu dieser Zeit im Wald,
wie ich gelesen hab.
Alles Wild, das sie dort aufspürten,
wurde von den Beiden erlegt.
Am Abend brachten sie nach Hause,
 
13505

was sie tagsüber gefangen hatten.
Sie erklommen und überwanden
so manchen hohen Felsen.
Der Wald musste ihnen manchen Zins
an wilden Tieren zahlen.
 
13510

Dies geschah aufgrund ihrer Geschicklichkeit
in kurzer Zeit. 
Als Thetis deweil
in der Cheironhöhle saß, 
ließ sie ihren Blick sogleich über die
 
13515

Klause und den Stein schweifen.
Sie wollte wissen, ob irgendwo 
ihr Sohn Achilles wäre.
Da die Holde
ihren Jungen dort nicht fand,

Donnerstag, 22. Oktober 2020

Kommentar

Das wird ein Kommentar zum Thema »Kleinigkeiten«:

Ich denke, dass »wider machen« (V. 13421) »wiederherstellen« oder »wiederaufbauen« meint; Thetis spricht also darüber, dass man »das Wunder vollbringe, es nun also wiederaufzubauen«. Beim Folgevers würde ich eher die Phrase »nur zu gut wissen« erwarten, also: »Ich weiß nur zu gut«.

Beim Vers 13425 würde ich empfehlen, das »alsô gar« mit zu übersetzen, denn Troja wurde offenbar nicht nur zerstört, sondern »derart komplett« zerstört. Auch das »vil lîhte« in V. 13432 könnte man vielleicht (und das ist ja gerade das heute Wort, das aus »vil lîhte« wird) übersetzen. Bei »vor dem tôde sparn« (V. 13439) könnte man mit »ihm dem Tod ersparen« recht nahe am Mittelhochdeutschen bleiben. 

Den »schaden« (V. 13445) würde ich eher als »Verderben« übersetzen; oder man versucht, umzuformulieren (»Seit ich … davor gewarnt wurde, dass er zu Schaden kommen würde…«). Das »tougen« in V. 13450 würde ich ebenfalls übersetzen (»und ihn heimlich…«), weil das inhaltlich wichtig sein dürfte. 

Mit dem Rest bin ich dann voll und ganz einverstanden – und die vielen Kleinigkeiten täuschen jetzt ein bisschen darüber hinweg, dass die Übersetzung im Großen und Ganzen sehr gelungen ist. 

13420-13469

13420

und man daz wunder briuwet
und man si wider mache alsus,
sô weiz ich wol, daz Prîamus
lât niemer ungerochen,
daz im diu stat zerbrochen

13425

wart von den Kriechen alsô gar.
hier an sô wirde ich wol gewar,
daz sich ein grôz urliuge hept.
swie man die stat alumbe grept
und si gemûret werden mac,

13430

daz wirt den Kriechen noch ein slac
und muoz mîn sun Achilles
engelten ouch vil lîhte des,
daz Troiæren ist geschehen.
urliuges muoz man sich versehen

13435

nû leider alze lange zît:
ûf einen grimmen herten strît
geziuhet sich diz biuwen,
dâ von wil ich entriuwen
Achillen vor dem tôde sparn.

13440

ich sol behüeten und bewarn,
daz er niht kom ze strîte
vür Troye in sîner zîte
und er dâ werde niht erslagen.
sît daz ich von dem wîssagen

13445

des schaden sîn gewarnet bin,
dur waz solt ich in denne hin
lân komen zuo der veste?
mir ist daz allerbeste,
daz ich nâch im kêr unde var

13450

und ich in tougen eteswar
tuo den liuten ab dem wege.
ich nim in ûz Schyrônes pflege
und füere in ûz der wilde.
sîn wunneclichez bilde

13455

daz wil ich von dem lande steln
und allen Kriechen vor verheln,
wâ der hôchgeborne sî.
si müezent sîn hie werden vrî,
wan ich verbirge in wol vor in.

13460

ê daz er disen ungewin
von Troiæren kiese,
daz er den lîp verliese,
ê tuon ich in gar under
und flœhe in dar besunder,

13465
dâ nieman sîn wirt innen.
ich wil nâch im von hinnen
kêren in Thessâliam.
von sînem meister lobesam
sol ich in füeren tougen



13420

und man das Wunder hervorbringt 
und sie wieder befestigt.
Ich weiß wohl zu gut, 
dass Priamos nie ungestraft lassen wird,
dass seine Stadt von den Griechen
 
13425

zerstört wurde. 
Nun wird mir also gewahr,
dass sich ein großes Unglück anbahnt.
So wie man die Stadt mit einem Graben umgibt 
und die Mauern errichtet,
 
13430

das wird den Griechen noch ein Verderben und 
mein Sohn Achilles muss
mit viel Leid dafür bezahlen,
was den Trojanern geschehen ist.
Nun muss man sich für lange Zeit
 
13435

auf eine Fehde vorbereiten.
Dieses Bauen läuft auf einen 
heftigen Kampf hinaus.
Deshalb will ich Achilles wahrhaftig 
von dem Tode zurückhalten. 

13440

Ich muss behüten und dafür Sorge tragen,
dass er zu seiner Lebzeit vor Troja nicht 
in einem Kampf gerät
und er dort nicht erschlagen wird.
Seit ich von dem Weissager
 
13445

vor seinem Verlust gewarnt wurde:
Weshalb sollte ich ihn zu dieser Festung
hingehen lassen?
Mir scheint es das Beste zu sein,
dass ich zu ihm gehe und mich um ihn kümmere
 
13450

und ihn woanders von Menschen fernab 
der Wege erziehen lasse.
Ich löse ihn aus Cheirons Obhut
und führe ihn aus der Wildnis.
Seine herrliche Gestalt werde 

13455

ich dem Land stehlen 
und allen Griechen verheimlichen,
wo dieser Hochgeborene sei.
Sie müssen ihn hier entbehren, 
denn ich werde ihn gut vor ihnen verbergen. 

13460

Bevor er Schaden von 
den Trojanern erfährt, 
so dass er sein Leben verliert,
würde ich ihn eher verstecken
und mit ihm alleine dorthin fliehen,
 
13465

wo ihn niemand kennt.  
Ich werde zu ihm 
nach Thessalien gehen.
Von seinem geschätzten Lehrer 
muss ich ihn heimlich wegführen

Montag, 19. Oktober 2020

Kommentar

Der Beginn ist tricky: »manger hande« (V. 13371) würde ich mit »viel« oder »vielerlei« übersetzen. »manger hande arebeit« zum Beispiel würde dann »viel(erlei) Mühe« heißen. Die hier zu diskutierende Stelle hieße dann etwa: »Er begann, die Stadt mit viel Aufwand (oder vielleicht: großem Engagement) wieder aufzubauen«. Nun ist es aber so, dass der Aufwand hier wohl tatsächlich darin besteht, dass viele Leute mit anpacken – so dass die Übersetzung dann doch auch wieder nicht falsch ist... 

Das »buwe« (V. 13374) mit »Baukunst« zu übersetzen, das gefällt mir gut! Wiederum etwas schwierig ist die Passage ab V. 13380. Warum setzt die Erzählinstanz hier mit einer expliziten Moderation ein (»als ich iu noch entsliezen wil«)? Und wie genau geht man mit den Enjambements in den folgenden beiden Versen um? Mein Vorschlag wäre folgender: »Auf diese Weise ließ er die Stadt Troja errichten, / so gut, dass er von nun an stets Vertrauen hatte, / in ihre schützende Macht – / ich werde euch noch genauer davon erzählen.« – Ich gebe zu, das ist eine größere Umstellung....

Mit dem Folgenden bin ich dann ein längeres Stück sehr einverstanden, einzig bei drei einzelnen Begriffen bin ich ins Grübeln gekommen: Bei »vestikeit« (V. 13391) könnte man überlegen, ob man »Wehrhaftigkeit« übersetzt; »wunnevar« (V. 13394) ließe sich vielleicht etwas präziser mit »angenehm« oder »ansehnlich« übersetzen; und »gewalt« (V. 13407) würde ich an dieser Stelle eher mit »Macht« übersetzen. 

Wieder ein bisschen tricky ist das »aber« in V. 13401. Ich denke, dass es hier »abermals«, »wiederum« o.ä. meint. In Griechenland erinnert man sich also wieder an die Fehde. Das ›Problem‹ taucht in V. 13415 wieder auf: Thetis ›schloss‹ Trauer und Leid »aber in ir herze«, also »erneut in ihr Herz«. Arme Thetis...

13370-13419

13370

die stat begunde er bûwen wider
mit kreften manger hande.
wercliute von dem lande
gewan er ûzer mâze vil.
swaz man ze bûwe haben wil

13375

von künsterîcher meisterschaft,
des alles wart ein übercraft
von Prîamô besendet.
sîn bû der wart vollendet
und kam mit êren ûf ein zil.

13380

als ich iu noch entsliezen wil,
sus wart er Troye biuwende
sô wol, daz er getriuwende
was ir kreften iemer.
er wânde, daz si niemer

13385

zerstœret solte werden mê.
si wart nû vester vil denn ê,
des ich iu wol her nâch vergihe,
swenn ich die zît spür unde sihe,
daz ich billichen unde wol

13390

von ir gezierde sagen sol
und von ir starken vestikeit.
Prîant der künic wart bereit
dar ûf mit hôhem vlîze gar,
daz er schœn unde wunnevar

13395

die stat begunde machen
und si mit rîchen sachen
gewieren mohte bî den tagen.
diz hôrte man ze Kriechen sagen,
wan daz mære vlouc dâ hin:

13400

des wart vil manges herzen sin
urliuges aber dô gewis.
und dô diu vrouwe Thêtis
gar endelichen daz ervant,
daz sich der künic Prîant

13405

ze Troye het gelâzen nider
und er si wolte bûwen wider
mit kreften unde mit gewalt,
dô wart ir angest manicvalt
umbe ir sun Achillesen.

13410

si dâhte, daz er niht genesen
möhte langer bî den tagen.
daz er ze Troye würde erslagen,
daz hete man ir vor geseit:
dâ von si trûren unde leit

13415

slôz aber in ir herze dô.
si dâhte wider sich alsô:
nû muoz mîn sun verderben,
sît man beginnet werben,
daz Troye werde erniuwet.



13370

Er begann, die Stadt mit der Kraft 
vieler Hände wieder aufzubauen.
Er gewann aus dem ganzen Land 
sehr viele Bauleute.
Was man sich zur Baukunst 

13375

von kenntnisreicher Fähigkeit wünschen kann,
das alles wurde im Übermaß 
von Priamos  herbeigeholt. 
Der Bau wurde vollendet 
und gelangte ehrenvoll zum Ziel.
 
13380

Wie ich euch noch enthüllen möchte,
so wurde er Troja bauend 
so gewiss, dass er immerzu 
ihre beständige Kraft war. 
Er wähnte, dass sie nie mehr
 
13385

zerstört werden sollte.
Sie war nun fester denn je erbaut.
Davon werde ich euch später berichten, 
wenn ich die Zeit verspüre und sehe,
dass ich auf angemessene Weise und gut 

13390

von ihrer Zierde und Befestigung 
erzählen soll. 
Priamos, der König, war
mit großem Fleiß darauf bedacht,
die Stadt schön und 

13395

wunderbar zu machen
und sie mit Reichtum 
zu schmücken.
Das hörte man bis nach Griechenland, 
denn die Kunde flog dort hin.

13400

Davon wurden viele Herzen 
der Fehde gewahr.
Als Thetis, die Herrin, 
schließlich davon erfuhr,
dass sich König Priamos
 
13405

in Troja niedergelassen hatte
und die Stadt mit aller Kraft und Gewalt
aufbauen wollte ,
da bekam sie große Angst
um ihren Sohn Achilles.
 
13410

Sie dachte, dass er nicht mehr
lange am Leben bleiben würde.
Dass er vor Troja erschlagen würde,
das hatte man ihr vorausgesagt:
Dadurch empfand sie Trauer und Leid, 

13415

das sie jedoch in ihrem Herzen verschloss. 
Sie dachte bei sich:
„Nun muss mein Sohn zugrunde gehen,
da man damit begonnen hat,
Troja zu erneuern, 

Mittwoch, 14. Oktober 2020

Kommentar

Bei »dar zuo gedenkent« (V. 13320) würde ich vorschlagen, sich in der Übersetzung etwas weiter vom Mittelhochdeutschen zu entfernen: »Überlegt euch außerdem« oder »Macht euch Gedanken darüber«. Auch für das »füege« im Folgevers bräuchten wir, glaube ich, eine üblichere Formulierung (z.B. »wenn es sich ergibt«, »wenn es dazu kommt«). Beim »ze« in V. 13323 würde ich allerdings nahe am Mittelhochdeutschen bleiben wollen: »trauert nicht zu sehr« (ein bisschen Trauer ist schon okay, scheint mir). 

Das Wort »state« (V. 13328) musste ich in den Wörterbüchern nachschlagen. Es scheint etwas gemeint zu sein wie »Ressourcen«, »Mittel«, »Fähigkeiten«. Insofern trifft »Stärke« die Sache vielleicht ganz gut.

Der Bereich um V. 13335 gefällt mir sehr gut – nur in V. 13339 muss die Übersetzung ein wenig anders lauten, glaube ich: »wenn man meine Vorschläge berücksichtig« (wörtlich: »falls man auf meine Lehre/Vorschläge schaut«). 

In V. 13343 würde ich »wenden« übersetzen, statt »kehren« (denn das würde man im Gegenwartsdeutsch so nicht sagen, denke ich). Beim Rest bin ich größtenteils sehr einverstanden. Das »ân alle trüge« (V. 13356) ist nicht leicht zu übersetzen; vielleicht könnte man einfach etwas schreiben wie »Ihr könnt mir uneingeschränkt glauben«. In V. 13363 sollte man vielleicht den Konjunktiv verwenden. Aber das sind jetzt nur Kleinigkeiten.

13320-13369

13320

dar zuo gedenkent, wie wir daz
gerechen, swenne ez füege sich.
herr unde vater lobelich,
niht trûrent nû ze sêre
und volgent mîner lêre,

13325

sô wirt iu vröude noch erkant.
geruochent senden in diu lant
nâch liuten und nâch ritterschaft.
al iuwer state und iuwer kraft,
die legent hie ze Troye nider

13330

und biuwent iuwer veste wider
und iuwer küniclichen stat.
waz ob ir noch gelückes rat
beginnent umbe trîben!
wir sülen hie belîben,

13335

biz Troye wirt gesterket,
swaz liute uns ane merket,
daz uns die fürhten iemer mê.
si wirt nû vester vil denn ê,
swie man an mîne lêre siht.

13340

und alzehant sô daz geschiht,
daz wir mit mûren und mit graben
die stat vil wol versichert haben,
sô kêrent dar ûf unser kraft,
daz wir die Kriechen schadehaft

13345

gemachen ûf der erden
und wir gerochen werden
an ir lîben mit gewalt.
den grimmen schaden manicvalt,
den wir von in genomen hân,

13350

der wirt mit râche widertân,
ist, daz wir Troye alsô bewarn,
daz wir dar ûz ân angest varn
und wir des sicher mügen sîn,
daz nieman hinder uns dar în

13355

gevallen und gebrechen müge.
geloubent, herre, ân alle trüge,
daz wir gerechen unser leit.
dâ von sint vrœlich und gemeit
und lâzent iuwer ungehabe

13360

und iuwer hôhes trûren abe!
Der rât geviel in allen wol.
si jâhen, daz er witze vol
und rîcher tugent wære.
der künic sîner swære

13365

begunde mâzen sich zehant.
er hiez dô senden in diu lant
nâch liuten und nâch ritterschaft.
mit rîcher und mit hôher kraft
leite er sich ze Troye nider.



13320

Denkt daran, wie wir das rächen,
wenn es sich fügt.
Löblicher Herr und Vater,
trauert nicht so sehr
und hört meine Worte, 
 
13325

so werdet Ihr wieder Freude finden.
Macht Euch bereit, im ganzen Land 
nach Leuten und nach Ritterschaft auszusenden.
Bündelt eure ganze Stärke und 
Kraft hier in Troja 

13330

und baut eure Festung und
eure königliche Stadt wieder auf .
Vielleicht könnt Ihr das Rad des Glückes 
wieder in Bewegung setzen! 
Wir sollten hierbleiben,

13335

bis Troja wieder erstarkt ist,
damit uns all diejenigen Leute, die uns angrenzen,
von neuem fürchten.
Die Festung wird gewaltiger als früher werden, 
wie man an meiner Lehre sieht.
 
13340

Und wenn das geschieht,
dass wir die Stadt mit Mauern und 
Gräben geschützt haben, 
so kehren wir unsere Kraft darauf,
dass wir den Griechen

13345

auf der Erde Schaden zufügen
und wir uns an ihrem Leben 
mit Gewalt rächen werden.
Das schreckliche, mannigfache Leid,
das wir durch sie erlitten haben,

13350

wird mit Rache vergolten,
wenn wir Troja so beschützen,
dass wir ohne Angst daraus weggehen 
und uns sicher sein können, 
dass niemand hinter uns 

13355

einfallen und einbrechen kann.
Ihr könnt mir ohne Trug glauben, Herren, 
dass wir unseren Kummer rächen werden. 
Davon seid frohgemut und tapfer
und lasst von eurer Klage
 
13360

und von eurem starken Trauern ab.
Der Rat gefiel ihnen allen gut.
Sie sagten, dass er weise 
und voller Tugend war.
Der König begann sofort, 

13365

seine Schwermut zu mäßigen.
Er befahl im ganzen Land 
nach Leuten und Rittern zu schicken.
Mit starker und großer Kraft
lagerte er zu Troja.

Montag, 12. Oktober 2020

Kommentar

Die Syntax zu Beginn der Textstelle ist seltsam und schwierig. Ich frage mich, ob im V. 13270 tatsächlich von den »acht Kindern« oder nicht eher von dem »achten Kind« die Rede ist – aber dagegen spricht wohl der V. 13281. Bis auf Weiteres habe ich zu dieser Stelle auf jeden Fall keinen besseren Vorschlag.

Das »doch« in V. 13276 würde ich vielleicht mit »dennoch« übersetzen, um den Gedankengang noch etwas deutlicher zu machen. Wenn man mittelhochdeutsch »edel« mit »adlig« übersetzt, ist das Konzept für heutige Leserinnen vielleicht anschaulicher. Das »wan« in V. 13285 würde ich kausal verstehen und mit »weil« übersetzen; für das »genesen« in V. 13294 lassen sich vielleicht bessere Lösungen finden, z.B.: »doch handelte er wie jemand, der sich nicht unterkriegen lassen will«. Davon abgesehen finde ich, dass die Passage ab V. 13285 sehr gelungen ist.  

In V. 13304 ist von einer »veigen ungeschicht« die Rede. Mittelhochdeutsch »ungeschicht« meint Unglück, Missgeschick oder unglücklichen Zufall. Und »veige« ist etwas, das zum Unglück oder Tod bestimmt ist. Wie wäre »verheerendes Unglück« oder »katastrophales Unglück«?

Auch für das »nider legen« (V. 13314) ließe sich vielleicht noch eine anschaulichere Übersetzung finden. Sehr spannend finde ich die Übersetzung von V. 13319 (»sie wissen nicht, zu welchem Preis«). Auf diese Variante wäre ich nicht gekommen – aber das könnte tatsächlich genau das sein, was hier gemeint ist!

13270-13319

13270

dis ahte kint erkennet
gar biderb unde stæte
der künic Prîant hæte
von sîme êlichen wîbe clâr.
noch hete er drîzic sün vür wâr,

13275

die von der ê niht wâren komen.
doch was ir leben ûz genomen
und zuo hôhem prîse erkorn.
ir iegelicher was geborn
von einer muoter, als ich las,

13280

diu von geburt gar edel was.
Diu drîzic und dis ahte kint,
diu von mir hie genennet sint,
diu truogen alle jâmer dô
mit ir vater Prîamô,

13285

wan in sîn leit ze herze traf.
daz lûter und daz clâre saf
gienc ûz ir liehten ougen tor,
wan daz der biderb Hector
niht möhte dâ geweinen.

13290

sîn muot begunde ersteinen
in ritterlicher frumekeit.
sîn schade was im alsô leit,
als er von rehte solte wesen,
doch tet er als der wil genesen

13295

und niht von leide kan verzagen.
er lie belîben allez clagen
und trôste sînen werden vater.
den tugentrîchen künic bater,
daz er sîn trûren lieze sîn.

13300

er sprach: herr unde vater mîn,
lânt iuwer strengen ungehabe
durch iuwer hôhen tugent abe,
wan trûren daz enhilfet niht
zuo dirren veigen ungeschiht,

13305

man muoz iht anders tuon dar zuo.
daz ieman riuweclichen tuo,
daz lânt verboten werden.
jô zimt ez wol ûf erden,
daz vreche helde sint gemeit

13310

nâch schedelicher arebeit
und nâch verlüste niht verzagen.
welt ir ein trûric herze tragen,
sô wirt al iuwer diet verzeget.
clag unde trûren nider leget

13315

manheit und ellentrîchen sin:
des werfent allez jâmer hin!
daz ist iu nû daz beste.
uns hânt die leiden geste
verhert, si enwizzent umbe waz.



13270

Diese acht Kinder,
die er von seinem schönen Eheweib bekam,
hielt König Priamus für 
tüchtig und beständig.
Außerdem hatte er, fürwahr,

13275

dreißig uneheliche Söhne.
Doch war ihr Leben außerordentlich
und zu hohem Ruhm bestimmt.
Ein jeder war geboren,
wie ich las, von einer Mutter,

13280

die von Geburt an edel war.
Die Dreißig und die acht Kinder,
die von mir genannt wurden,
die teilten alle den Kummer
mit ihrem Vater Priamus,

13285

als ihn sein Leid im Herzen traf.
Reine und aufrichtige Tränen
quollen aus ihren lichten Augen hervor,
nur der tüchtige Hektor vermochte 
das nicht zu beweinen.

13290

Seine Gedanken begannen sich 
in ritterlicher Tapferkeit zu verhärten.
Sein Verlust war ihm ein solches Leid,
wie er auch rechtmäßig sein sollte,
doch handelte er wie jemand, der genesen will,

13295

und ließ sich nicht von Leid verzagen.
Er ließ bleiben alles Klagen
und tröstete seinen würdigen Vater.
Er bat seinen tugendreichen König,
dass er sein Trauern sein ließe.

13300

Er sprach: “Mein Herr und Vater,
lasst von Eurem unerbittlichen Klagen
um eurer Tugendhaftigkeit willen ab,
denn das Trauern hilft nicht
gegen diese verderbte Untat;

13305

man muss anders vorgehen.
Es sollte unterbunden werden,
dass jemand in Trauer versinkt.
Es gehört sich so auf Erden,
dass kühne Helden nach unsäglichen Mühen 

13310

lebensfroh sind 
und nach Verlusten nicht verzagen.
Wollt Ihr ein trauerndes Herz tragen, 
so wird euer ganzes Volk entmutigt.
Klagen und Trauern legt 

13315

Mannheit und heldenhaften Verstand nieder:
Verwerft deshalb allen Kummer! 
Das ist jetzt das Beste.
Die leidbringenden Fremden haben uns besiegt; 
sie wissen nicht, zu welchem Preis.

Donnerstag, 1. Oktober 2020

Kommentar

Die Formulierung der Übersetzung von V. 13220 (»wäre besser in einem Grab aufgehoben«) gefällt mir gut und das ›überströmende Herzeleid‹ direkt danach ist im Prinzip auch gut, könnte aber vielleicht noch ein bisschen anschaulicher sein (z.B. »Ich werde überspült von...« – oder vielleicht sogar: »Ich ertrinke in...«). 

Bei V. 13226f. frage ich mich, ob der helle Sonnenschein eigentlich ›erleuchten‹ kann; vielleicht sollte man »hell leuchten« o.ä. übersetzen. Und die Verse direkt danach sind schwierig. Die erste Gruppe hatte übersetzt: »Sein Verlust soll mich in Betrübnis versetzen, welche durch große Ehre belohnt wird.«

Im Folgenden bin ich dann sehr einverstanden und habe nur Kleinigkeiten zu vermerken: Das »nicht gerne erfahren« in V. 13243 scheint mir etwas zu blass zu sein; bei V. 13257 müsste man das »iu« noch übersetzen (»damit ihr sie kennenlernt«); und das »wîs« in 13264 sollte man auch übersetzen, denke ich, zumal es auch ein bisschen was aussagt über die Geschlechterverhältnisse. 

13220-13269

13220

der zæme baz in eime grabe,
denn er ûf erden solte leben.
mir ist der überfluz gegeben
ob allem herzesêre,
sît daz ich hân mîn êre

13225

verloren und den vater mîn,
der als der clâren sunne schîn
durchliuhtic was an triuwen.
sîn leben sol mich riuwen
dur manger hôhen tugende lôn.

13230

vil werder künic Lâmedôn,
daz ich niht tôt bî dir gelac!
owê, daz ich niht sterben mac
von endelôser herzeclage!
die göte wellent, daz ich trage

13235

des bitterlichen tôdes nôt,
ob ich niht reche dînen tôt
und mîne werden ritter.
ich sol ir schaden bitter
mit herzen und mit handen

13240

sô willeclichen anden,
daz man wol hœret unde siht,
daz ich ir veigen ungeschiht
ungerne hân befunden.
got lâze mich ir wunden

13245

mit râche widertrîben,
od tôt dur si belîben.
Die clage treip der künic hêr.
sîn jâmer und sîn herzesêr
wâren michel unde grôz.

13250

ûz sînen clâren ougen flôz
vil manic trahen bitter.
er schuof, daz sîne ritter
bestuonden aller wunne vrî.
fünf süne und sîner tohter drî

13255

die truogen mit im jâmers vil.
ir namen ich iu nemmen wil,
dur daz si würden iu bekant.
ein sun was Trôilus genant
und der ander Hêlenus.

13260

der dritte hiez Deîfebus,
als ich an der hystôrje las.
Hector genant der vierde was,
der fünfte der hiez Pârîs.
ouch nenne ich iu die tohter wîs

13265

mit worten hie gemeine.
Andrimachâ hiez eine,
Pollixinâ diu ander,
diu dritte was Cassander
geheizen und genennet.



13220

der wäre besser in einem Grab aufgehoben,
als auf der Erde zu leben.
Mir strömt das Herzeleid über, 
seitdem ich mein Ansehen 
und meinen Vater 

13225

verloren habe,
der wie der helle Sonnenschein
erleuchtet war von Treue.
Sein Leben soll mich den Lohn 
so mancher Tugend bereuen lehren.

13230

Ehrenwerter König Lamedon,
dass ich nicht tot an deiner Seite lag! 
Ach, könnte ich doch sterben
an dieser endlosen Herzensqual!
Die Götter wollen, dass ich die 
 
13235

Not des bitteren Todes trage,
wenn ich nicht deinen Tod und den 
meiner tapferen Ritter rächen kann.
Ich muss den Verlust 
mit Herz und Hand

13240

unbedingt rächen,
damit man hört und sieht,
dass ich ihr tödliches Unglück
nicht gerne erfahren habe.
Gott, lass mich ihre Wunden  

13245

mit Rache vergelten
oder um ihretwillen den Tod finden.
Die Klage trieb den tapferen König um,
sein Jammern und sein Schmerz
waren heftig und groß.

13250

Aus seinen klaren Augen floss
so manche bittere Träne,
er verschuldete, dass seine Ritter
keine Freude mehr empfanden.
Fünf Söhne und drei Töchter

13255

trauerten mit ihm.
Ihre Namen will ich euch nennen,
damit sie bekannt werden.
Ein Sohn wurde Troilus genannt,
der zweite Helenos und

13260 

der dritte hieß Deiphobos.
So las ich es in der Historie.
Der vierte wurde Hektor genannt
und der fünfte hieß Paris.
Ich will euch auch die Töchter nennen
 
13265

mit verständlichen Worten.
Andromache hieß die eine,
Polyxenia die andere,
die dritte wurde Kassandra 
genannt und gerufen.