Dienstag, 31. Januar 2023

17650-17659

sîn glanz wart ûz gesundert

vor al der göte bilden,

die man dâ spurte in wilden

gebærden an der mûre.

sô wunneclich figûre

wart nie bekant, des bin ich wer,

als an im truoc her Jûpiter,

der in dem sal gebildet was.

swer in den schœnen palas

des morgens vruo gienc unde trat,


Sein Glanz überstrahlte

alle anderen Götterbilder,

die man dort an der Mauer 

in wilder Haltung beobachten konnte.

Eine so schöne Gestalt

hat man, dafür stehe ich ein, noch nie gesehen, 

wie die, die Herr Jupiter zur Schau stellte,

der in dem Saal dargestellt war.

Jeder, der in den schönen Saalbau

morgens früh ging und eintrat, 

Montag, 30. Januar 2023

17640-17649

in eime rîchen trône

ob sîme tische er hôhe saz.

sô Prîamus tranc oder az,

sô sach er under ougen im.

swaz ich von der hystôrje nim,

daz künde ich hie ze tiute.

sich heten wîse liute

geflizzen ûf daz bilde sîn.

daz gap sô liehtebæren schîn,

daz mich sîn iemer wundert.


An seinem Tisch saß er erhöht

auf einem prächtigen Thron.

Wenn Priamus trank oder aß, 

dann sah er ihm in die Augen.

Alles, was ich der Geschichte entnehme,

das sage ich hier, damit man es deute und auslege.

Kenntnisreiche Leute hatten sich

um sein Standbild bemüht und gekümmert.

Von ihm ging ein so helles Strahlen aus,

dass ich mich ewig darüber wundern werde. 

Freitag, 27. Januar 2023

17630-17639

der palas wunneclich erkant

gezieret was mit sinne.

die göte wâren drinne

an silber unde an golde ergraben

und ob in allen hôch erhaben

der minne got, her Jûpiter.

in hete wol nâch sîner ger

der künic dâ gezieret

und allenthalp gewieret

mit glanzen gimmen schône.


Der wunderschöne Saalbau

war sorgfältig geschmückt.

Die Götter waren dort

in Silber- und Goldreliefs dargestellt;

und hoch über allen war

der Gott der Liebe angebracht, Herr Jupiter.

Ihn hatte der König dort

nach seinen Wünschen verzieren 

und überall mit goldgefassten Edelsteinen

schön schmücken lassen.

Donnerstag, 26. Januar 2023

17620-17629

sô wol gewürket, als ich las,

daz alle die des jâhen,

die ez mit ougen sâhen,

sô kürlich werc enwürde nie

geworht ûf al der erden hie.

An dem erwelten bûwe lac,

swaz rîlich kost geheizen mac

und edel werc genennet ist.

man hete maniger hande list

mit hôhem vlîze drûf gewant.


so gut gefertigt worden, habe ich gelesen,

dass alle, die das mit eigenen Augen gesehen haben,

davon berichten, 

dass ein so hervorragendes Werk

auf der ganzen Welt noch nie geschaffen worden war.  

Das großartige Bauwerk stellte das zur Schau,

was man mit »keine Kosten und Mühen gescheut« meint

und was man ein edles Werk nennt.

Man hatte vielerlei Künste

mit großem Aufwand dort beteiligt. 

Dienstag, 24. Januar 2023

17610-17619

dar under liez er danne sich

ûf ein gestüele reine,

daz was von helfenbeine

erziuget und ûz golde lieht.

der Endiam und Uztrieht

erfüere und aller künige lant,

ein rîcherz würde niht erkant

noch beschouwet drinne.

nâch wîser liute sinne

der boum und daz gestüele was


Unter diesem Baum setzte er sich

auf einen herrlichen Thron,

der aus Elfenbein gefertigt war

und aus strahlendem Gold.

Wer Indien und Utrecht

bereiste und alle Königreiche,

der würde dort keinen prächtigeren

finden und betrachten können.

Der Baum und der Thron

waren nach den Vorstellungen kluger Leute


[Ist mit »Uztrieht« wirklich Utrecht gemeint? Und: Ist hier eine Bewegung gemeint (»von Indien bis Utrecht«)?]

Montag, 23. Januar 2023

17600-17609

si stuonden sam si kunden leben

und heten wunneclichen braht.

seht, alsô wâren si gemaht

von nigromantîe.

Prîant der wandels vrîe

het an si koste vil geleit.

swenne er wolte sîn gemeit

und werden rehte vröudenhaft,

sô gienc er und sîn ritterschaft

hin zuo dem boume wunneclich.


Sie sahen aus, als wären sie lebendig

und veranstalteten angenehmen Trubel. 

Schaut nur! So waren Sie gemacht

mit schwarzer Kunst.

Priamus, der tuegendhafte,

hatte keine Kosten und Mühen gescheut.

Immer, wenn er fröhlich sein –

wenn er glücklich sein wollte,

gingen er und seine Ritter

hin zu dem angenehmen Baum. 

Freitag, 20. Januar 2023

17590-17599

si wâren von gesteine

gewürket ûzer mâze vîn.

diu selben glanzen vögelîn

diu wâren des betwungen

mit listen, daz si sungen

den winter und die sumerzît.

ir stimme lûte enwiderstrît

den liuten in diu ôren clanc.

swer dâ gehôrte ir süezen sanc,

dem wart vil hôher muot gegeben.


Sie waren über alle Maßen fein

aus Stein gemacht.

Diese strahlenden Vögelchen

waren kunstvoll dazu gebracht worden,

sommers wie winters

zu singen. 

Ihre Stimmen erklangen

miteinander deutlich hörbar in den Ohren der Leute.

Jeder, der dort ihren süßen Sang gehört hat,

war frohgemut.

Mittwoch, 18. Januar 2023

17580-17589

diu gâben unde bâren

erwelten unde reinen glast.

dâ clanc ein iegelicher ast

in wunneclicher wîse,

swenn er gerüeret lîse

wart mit handen eteswâ.

wîz, brûn, gel, rôt, grüen unde blâ

diu vögellîn drûf glizzen.

man hete sich geflizzen

ûf si mit listen reine.


und verbreiteten 

wunderbaren und reinen Glanz.

Immer wenn dort einer der Äste

mit der Hand irgendwo

sanft berührt wurde,

ertönten liebliche Klänge.

In weißer, brauner, gelber, roter, grüner 

und blauer Farbe glänzten darauf die Vögel.

Man hatte sich um sie

mit vollendeter Kunst bemüht.

Dienstag, 17. Januar 2023

17570-17579

gewahsen unde entsprungen

was niht der boum von rehter art,

mit listen er gemachet wart

vil rîlich unde wunnesam.

des boumes wurzel und sîn stam

diu beidiu wâren silberîn.

sîn este lûter guldîn

sach man dâ verre schînen;

diu bleter ûz rubînen

und von smâragden wâren,


Der Baum war nicht auf natürliche Art 

gewachsen und gediehen,

sondern er war auf künstliche Weise

prächtig und schön erzeugt worden.

Die Wurzel des Baumes und sein Stamm

waren aus Silber.

Seine Äste aus reinem Gold

sah man weithin leuchten.

Die Blätter waren aus Rubinen

und Smaragden 

Montag, 16. Januar 2023

17560-17569

swaz ich iu noch entsliezen sol,

daz habent niht für einen troum!

vor dem palas ein rîcher boum

sich hete gar entspreitet

und was sô wît gebreitet

von künsterîcher sache,

daz drunder mit gemache

sâzen hundert ritter wol.

der boum stuont vögellîne vol,

diu süeze dœne sungen.


All das, was ich euch noch zu verraten habe,

das dürft ihr nicht für ein Hirngespinst halten!

Vor dem Saalbau hatte sich ein prächtiger Baum 

weit ausgebreitet

und war mit großem Geschick

so weit ausgedehnt worden,

dass darunter gut und gern

einhundert Ritter bequem sitzen konnten.

Der Baum war voll von Vögelchen,

die süße Melodien sangen.

Freitag, 13. Januar 2023

17550-17559

und wol mit helfenbeine

gespenget an den orten.

wie künde ich iu mit worten

den pallas vollerüemen?

mit rede ich niht geblüemen

mac den küniclichen prîs,

der an im lac in manige wîs.

Er was vil bezzer denne guot,

wan in dur vrîen übermuot

Prîant gebiuwen hete wol.


mit Ecken, die mit schönen 

Spangen aus Elfenbein bedeckt waren.

Wie könnte ich für euch mit Worten

den Saalbau ausreichend rühmen?

Mit meiner Rede kann ich das 

königliche Ansehen nicht verzieren,

das ihm auf vielerlei Weise gebührte.

Viel besser war er als nur gut,

weil ihn Priamus aus freier, hochtrabender Entscheidung

hat erbauen lassen.

Donnerstag, 12. Januar 2023

17540-17549

schôn übersilbert was sîn dach

und schein als ein gestirne,

wan er enwas niht virne,

er lûhte gar niuw unde frisch.

der sal enhete keinen tisch,

der unedel möhte sîn.

si wâren alle zipressîn

und wol ze rehter mâze breit.

mit golde wunneclich erleit

stuonden si gemeine


Sein Dach war schön versilbert

und strahlte wie ein Sternenhimmel,

denn es war noch nicht alt,

sondern leuchtete ganz frisch und neu.

Der Saal hatte keinen einzigen Tisch,

der irgendwie gewöhnlich war.

Alle waren sie aus dem Holz der Zypresse

und hatten alle genau die richtige Breite.

Mit wunderschönen Goldintarsien versehen

standen sie beieinander,

Mittwoch, 11. Januar 2023

17530-17539

sîn esterich der dûhte

von marmel ûzer mâze fîn.

ein krône was gehenket drîn,

dâ kerzen ûfe brunnen,

diu gleiz gelîch der sunnen

von glanzen margarîten.

an orten unde an sîten

was der küniclîche sal

sô wol gezieret über al,

daz man nie rîcher hûs gesach.


Sein Boden machte den Eindruck,

aus überaus schönem Marmor zu sein.

Eine Krone hat man dort aufgehangen,

worauf Kerzen brannten,

die – mit glänzenden Perlen –

wie die Sonne leuchtete.

An allen Ecken und Enden

war der königliche Saal 

so durch und durch schön verziert:

nie hat man ein ein prächtigeres Gebäude gesehen!

Dienstag, 10. Januar 2023

17520-17529

dâ manic vremdez capitel

stuont an gesniten unde ergraben.

der palas hôhe was erhaben

und stuont enmitten in der stat,

als in der künic setzen bat

und sîne tugentrîche süne.

ir sülnt gelouben, daz sîn büne

mit golde wol gezieret schein

und daz vil manic edelstein

dar ûz vil schône lûhte.


wo viele wunderbare steinerne Säulenknäufe

mit Hammer und Meißel geformt worden waren.

Der Saalbau erhob sich weit in die Höhe 

und stand, so wie der König 

und seine wohlerzogenen Söhne das wollten,

mitten in der Stadt.

Ihr könnt sicher sein, dass das Podium des Saalbaus

mit strahlendem Gold verziert war

und dass von dort zahlreiche Edelsteine

schön leuchteten.

Montag, 9. Januar 2023

17510-17519

diu lieht dem hûse bâren

von dem wunneclichen tage.

man dorfte nâch der schrifte sage

nie venster baz gezieren.

von löubern und von tieren

wâren si gehouwen.

swer wunder wolte schouwen

von meisterlichen dingen,

der lie sîn ougen swingen

an ir siule sinewel,


die dem Haus das Licht 

des angenehmen Tages brachten.

Das Geschriebene sagt uns, 

dass man die Fenster nicht besser hätte schmücken können.

Rankwerk und Tiere hatte 

man in die Mauer gahauen.

Jeder, der meisterliche

Wunderwerke betrachten wollte ,

der ließ seine Augen

zu ihren runden Säulen schweifen, 


[Architekturbeschreibungen machen mir ungefähr genauso viel Spaß wie Kleidungs- oder Schönheitsbeschreibungen…]

Freitag, 6. Januar 2023

17500-17509

daz man nie schœner hûs gewan

noch alsô keiserlichen sal.

ûz marmel was er über al

geworht nâch spæhen sinnen

und schein gewieret innen

mit golde und mit gesteine.

von zêderholze reine

was allez sîn gezimber.

glanz unde niht ze timber

diu venster alle wâren,


Nie nannte man ein schöneres Wohnhaus sein Eigen

und nie war ein Saal so kaiserlich.

Ganz und gar aus Marmor war er 

kunstvoll gemacht,

und erstrahlte innen 

mit Goldschmuck und Edelsteinen.

Alles, was gezimmert war, 

war aus Zedernholz.

Hell und nicht zu trüb

waren alle Fenster,

Donnerstag, 5. Januar 2023

17490-17499

ez wart ûf erden sîn gelîch

nie beschouwet noch erkant.

in manic wildez einlant

gie durchliuhtic schîn dervon.

der turn der was Ylîon

geheizen und genennet.

sîn name wîte erkennet

von sîme glanzen schîne was.

der künic einen palas

gebiuwen hete nâhe dran,


Auf der ganzen Welt hat man seinesgleichen 

noch nie gesehen.

Bis auf manche abgelegene Insel

reichte sein hell leuchtender Glanz.

Ylion nannte man

den Turm.

Durch seinen strahlenden Glanz

war sein Name weithin bekannt.

Der König hatte ganz in seiner Nähe 

einen Saalbau errichten lassen. 

Mittwoch, 4. Januar 2023

17480-17489

ez hete manic wercman

an im bewæret sînen list.

swaz meister in den landen ist

bî Rîne und bî der Elbe,

die kunden ein gewelbe

von künsterîchen sachen

sô starkez niht gemachen,

als einez an dem turne lac.

mîn zunge niht ergründen mac

mit worten sîne koste rîch.


Viele Bauleute hatten

an ihm ihr Können bewiesen.

Wie viel Meister es auch in den Ländern

am Rhein und an der Elbe geben mag,

die hätten einen solchen Bau

mit ihrer Kunst 

nicht in einer solchen Stärke errichten können

die an diesem Turm zu sehen war.

Kein Mund kann mit Worten

seine Pracht und seinen Aufwand auserzählen.

Dienstag, 3. Januar 2023

17470-17479

vil manic wildez wunder

gebildet und gehouwen.

die burger mohten schouwen

ab sînen hôhen zinnen,

swes ieman dâ beginnen

kund in dem lande und ûf dem mer.

kein werc noch keiner slahte wer

moht in ervehten mit gewalt.

diu rîcheit was sô manicvalt,

diu von gezierde lac dar an.


viel Wunderbares und Bewundernswertes

abgebildet und eingehauen. 

Die Burgbewohner konnten 

von seinen hohen Zinnen alles sehen,

was jemand dort in dem Land oder

auf dem Meer zu tun gedachte.

Keine Kriegsmaschine und keinerlei Angriff

hätte ihn gewaltsam erobern können.

Prächtig war er, auf vielfältige Weise,

dank all des Schmucks und all der Verzierung.

Montag, 2. Januar 2023

17460-17469

ez wart nie turn sô vesteclich

noch sô rehte schœne erdâht.

er was mit vlîze vollebrâht

ûz grôzen quâdersteinen.

die gâben alle reinen

und ûz erwelter varwe schîn.

gesmelzet und gemâlet drîn

was beidiu lâsûr unde golt.

durch küniclicher êren solt

was dar an besunder


Nie zuvor war ein Turm so standhaft erbaut

und so gut konstruiert worden.

Aufwändig war er

aus großen Quadersteinen gebaut,

die alle klar

und elegant erstrahlten.

Eingegossen und hineingemalt

waren Lasurblau und Gold. 

Um das königliche Ansehen zum Ausdruck zu bringen,

hat man dort insbesondere