Sonntag, 15. Mai 2016

Neue Ausgabe

Konrad von Würzburg: ›Trojanerkrieg‹ und die anonym überlieferte Fortsetzung. Hrsg. v. Heinz Thoelen und Bianca Häberlein. (Wissensliteratur im Mittelalter 51) Wiesbaden 2015.

Vor kurzem ist eine neue Ausgabe des ›Trojanerkriegs‹ erschienen, die in Zukunft die im Jahr 1858 erschienene Ausgabe Adelbert von Kellers ersetzen wird. Ich habe mir – recht willkürlich – vier Passagen von jeweils dreißig Versen ausgewählt, um die beiden Ausgaben zu vergleichen.

Innerhalb der ersten dreißig Verse kann ich keine signifkanten Unterschiede erkennen. Das »wolfeile« statt »wol veile« (27) steht und <f> statt <v> gesetzt wird, ist im Rahmen einer Normalisierung eine legitime Entscheidung der Herausgeber. In den Versen 541-570 fällt abgesehen von divergierenden Normalisierungsentscheidungen der Vers 541 auf. Keller schreibt »und den lebetagen sîn«, während es in der neuen Ausgabe »und den lebetage sîn« heißt. Das entspricht dem Lemma in Lexers Handwörterbuch (»lëbe-tac, lëbe-tage«); der Lesartenapparat indes zeigt, dass die Textzeugen Adac »leb(e)tagen« haben (wobei ich nicht verstehe, warum an dieser Stelle zwei Mal die Handschrift d angeführt wird). Wegen dieses Handschriftenbefunds würde ich auch bei dieser Stelle nicht von einer signifikanten Abweichung sprechen. In den Versen 2271-2300 kann ich ebenfalls keine signifikanten Unterschiede entdecken. Spannender wird es in der letzten Textpassage (Verse 4371-4400). Im Vers 4397 nämlich steht bei Keller »tougenlichen«; in der neuen Ausgabe allerdings »tugentlîchen«. Das ist nun tatsächlich eine inhaltlich relevante Differenz, denn es macht einen Unterschied, ob die Göttin Venus »unauffällig« (wie ich übersetzt habe) oder gar »heimlich« irgendwo sitzt – oder aber »tugendhaft«, »edel«, »anmutig« oder ähnliches. Beim Blick in den Handschriftenapparat sieht man, dass die Handschrift d »tugenliche« hat; alle anderen vollständigen Handschriften haben »tougenlichen«. Die Herausgeber haben sich also allem Anschein nach entschieden, der Handschrit d zu folgen und zudem noch ein <t> ergänzt, um die Stelle eindeutig zu machen. Notwendig scheint mir eine solche Konjektur allerdings nicht zu sein, schließlich ist »tugenliche« zu nahe an der übrigen Überlieferung, die sich eindeutig für die Heimlichkeit oder Unauffälligkeit entscheidet.

Natürlich lässt sich anhand dieser vier kurzen Textpassagen kein Urteil über die Gesamtausgabe treffen. Außerdem muss ich schon aus Gründen des Urheberrechts beid er älteren Ausgabe bleiben. Auf jeden Fall gibt es nun (endlich) die Möglichkeit, sich einen sicheren Überblick über die handschriftliche Überlieferung zu verschaffen; allein dies ist schon sehr viel wert. 

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