Freitag, 15. August 2025

23420-23429

dar umbe, daz mit sîner hant

Pârîs gevrevelt het alsus.

der künic Menelâus

was ze lande widerkomen

und hete selber dô vernomen

daz leide niuwemære,

daz im gezücket wære

Helêne von Pârîse:

dâ von der künic wîse

wart betrüebet sêre.


weil Paris mit eigener Hand

ein derartiges Verbrechen begangen hatte.

Der König Menelaus

war wieder heimgekehrt

und hatte dann selbst 

die leidvolle Neuigkeit erfahren,

dass ihm Helena durch Paris

geraubt worden war,

wodurch der weise König

in tiefe Trauer geriet.

Donnerstag, 14. August 2025

23410-23419

daz man sô grimmez herzesêr

dur keine frouwen nie geleit.

dô wart gesprochen und geseit

von manigem rôten munde:

›owê der leiden stunde,

daz uns von Kriechen sî genomen

der tugent spiegel vollekomen

und aller êren überhort.‹

dâ flugen jæmerlîchiu wort

über hof und über lant


und noch nie hat man wegen einer Dame

so schlimmes, zu Herzen gehendes Leid erlitten.

Da hörte man aus vielen

roten Mündern:

›Oh weh, welch qualvolle Stunde,

dass uns uns von den Griechen

der vollkommene Spiegel der Tugend genommen wurde

und das, was für unser Ansehen der größte Schatz war!‹

Worte des Jammers und der Klage flogen dort

über den Adelshof und durch das Land,

Mittwoch, 13. August 2025

23400-23409

man clagte ir reine güete,

ir schœne, ir adel unde ir zuht.

als die von Troie mit genuht

erfröuwet wurden umbe ir lîp,

sus wâren dur daz werde wîp

betrüebet alle Kriechen.

an hôhem muote siechen

begunde frouwen unde man.

si viel sô strengez jâmer an

dur die küniginne hêr,


Man klagte wegen ihrer makellosen Vortrefflichkeit,

ihrer Schönheit, ihres Adels und ihres Anstands.

Während die Trojaner wegen ihr

rundum fröhlich wurden,

waren wiederum wegen der edlen Frau

alle Griechen traurig und betrübt.

Freude und Heiterkeit gingen

den Damen und Männern verloren

und so ergriff sie schwere Trauer und heftiges Klagen,

wegen der herrlichen Königin –

Dienstag, 12. August 2025

23390-23399

ir lôzen unde ir wîssagen

erfüllet wurden ûf ein ort.

man spurte schiere, daz ir wort

belîben muosten ungelogen.

diu mære wâren dâ geflogen

über al der Kriechen lant,

daz mit gewalteclicher hant

Helêne was gezücket.

dâ von wart dâ verdrücket

fröud unde hôchgemüete.


Ihre Vorhersagen und Prophezeiungen

erfüllten sich ganz und gar.

Schnell merkte man, dass ihre Worte

nicht gelogen waren.

Die Neuigkeit, dass Helena 

mit Gewalt geraubt worden war, 

verbreitete sich 

über das gesamte Land der Griechen.

Dadurch wurden dort

Freude und Heiterkeit zunichte gemacht.

Montag, 11. August 2025

23380-23389

in ein gaden er si stiez

und bat si drîn besliezen,

wan in begunde erdriezen

ir clegelîche swære.

man wânde, daz si wære

unsinnic worden bî der stunt,

dô wart in allen schiere kunt,

daz si vil schône sich versan,

wan ir rede sich began

bewæren in vil kurzen tagen.


In eine Kammer ließ er sie bringen

und ließ sie darin einschließen,

denn ihre Klagen und ihre Schwermut

fingen an, ihnen Verdruss zu bereiten. 

Man ging davon aus, 

dass ihr irgendetwas den Sinn und Verstand geraubt habe,

doch wurde ihnen allen schnell klar,

dass sie ganz bei Sinnen war,

denn es zeigte sich bald, 

dass sie wahr gesprochen hatte.  

Freitag, 8. August 2025

23370-23379

von dîner schedelicher var.‹

Cassander dise rede treip.

ân alle fröude si beleip

und tet sich hôchgemüetes abe.

ir jâmer unde ir ungehabe

die wurden alsô bitter,

daz vrouwen unde ritter

mit ir beswæret wâren,

dâ von Prîant die clâren

hin ab dem wege füeren hiez.


wegen deiner schadenbringenden Fahrt.‹

Diese Rede hielt Kassandra.

An ihr war keine Freude

und sie gabe alles an Munterkeit und Heiterkeit auf.

Ihr Jammer und ihre Trauergebärden

wurden so bitter,

dass sich Damen und Ritter

durch sie belästigt fühlten,

sodass Priamus befahl, die Herrliche

wegbringen zu lassen.

Donnerstag, 7. August 2025

23360-23369

ach, bruoder, wes hât uns gezigen

dîn übervart in Kriechenlant!

daz rîche werden muoz gepfant

an küniclichen êren

dur dîn vertânez kêren,

daz dû von Troie tæte.

Prîant mîn vater stæte

und Ekubâ diu muoter mîn

verwîset müezen iemer sîn

ir landes unde ir liute gar


Ach, Bruder, was uns deine Fahrt

nach Griechenland eingebrockt hat!

Das Reich wird 

sein königliches Ansehen verlieren,

wegen deines verfluchten Aufbruchs,

aus Troja hinaus.

Priamus, mein treuer Vater

und Hekuba, meine Mutter,

werden für immer

ihr Land und all ihre Leute verlieren

Mittwoch, 6. August 2025

23350-23359

daz noch in dirre vrîen

stat sol werden offen.

ich wolte mich versloffen

hân zuo der helle danne,

sô man hie manigem manne

lîp unde leben zücket:

dur daz ich niht gedrücket

würd in die bitterlichen nôt,

daz ich mâg unde friunde tôt

vor mînen ougen sehe ligen.


das in dieser freien Stadt

noch für alle sichtbar werden wird.

Lieber würde ich mich 

tief in der Hölle verkriechen,

bevor man hier anfängt, vielen Männern

Leib und Leben zu rauben –

damit ich nicht in die bittere

Not erdulden müsste,

die Leichen meiner Verwandten und Freude

zu sehen.

Dienstag, 5. August 2025

23340-23349

owê, daz alle, die der sint,

niht helfen clagen dise nôt

und den verlüstebæren tôt,

der hie ze Troie sol ergân!

owê, daz ich verloren hân

muoz vater unde muoter!

wê, daz nieman sô guoter

wirt funden hie ze lande,

der mir diz manger hande

jâmer helfe schrîen,


Oh weh, dass nicht alle, die hier sind,

helfen, diese Not zu beklagen

und den verlustbringenden Tod,

der hier in Troja geschehen wird!

Oh weh, dass ich Vater und Mutter

werde verlieren müssen!

Weh, dass sich hierzulande

niemand finden lässt,

der so gut und willens ist, mit mir dieses vielfältige

Leid herauszuschreien, 

Montag, 4. August 2025

23330-23339

sîn lebelichez wunnespil

mit sorgen wirt getœtet,

sô Troie wirt gerœtet

vil gar mit bluotes touwe.

ich wil, daz manic frouwe

ir blanken hende linde

dur sîne fröude winde

und umbe in weinen müeze.

sîn hôchgemüete süeze

betrüebet manger muoter kint.


Die Lust, in der er lebt, 

wird mit Sorgen getötet werden,

wenn erst Troja ganz und gar

mit blutig-rotem Tau überzogen sein wird.

Ich will, dass viele Damen

händeringend mit ihren zarten, weißen Hände

wegen seiner Freude klagen

und um ihn weinen.

Er, der frohgemut ist und die Süße des Lebens genießt,

wird die Mütter vieler Kinder trauern lassen.

Freitag, 1. August 2025

23320-23329

dur den vertânen hîleich,

den Pârîs hât gestellet.

sîn fröude wirt vergellet

mit bitterlicher siure.

mit swerten und mit fiure

wirt gerochen sîn getât,

daz er diz wîp gezücket hât

in roubes wîs den Kriechen:

des muoz an êren siechen

diz künecrîch ân endes zil.


durch die verfluchte Vermählung,

die Paris vollzogen hat.

Seine Freude wird ihm vergällt werden,

wird bitter und sauer werden. 

Mit Feuer und Schwert

wird sein Tun gerächt werden,

dass er nämlich diese Frau 

den Griechen geraubt hat –

deshalb wird dieses Königreich auf ewig

seinen Ruhm und sein Ansehen verlieren.